Die Regierungskoalition streitet über den Haushalt und die Sozialpolitik

Kinder oder Aktienrente

In der Regierungskoalition streitet man über den Haushalt für das kommende Jahr. Es geht um wichtige sozialpolitische Vorhaben wie die Kindergrundsicherung. Vor allem die FDP will dafür nicht mehr Geld ausgeben.

Gegen Kinderarmut vorzugehen, gehörte zu den größten sozialpolitischen Versprechen im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien. Nun stellt sich ­allerdings die Frage, ob die Bundesregierung bereit ist, dafür zusätzlich Geld auszugeben. Deshalb wird über die Kindergrundsicherung debattiert, für die sich besonders Familienministerin Lisa Paus (Grüne) einsetzt.

Diese Grundsicherung soll verschiedene Leistungen bündeln – vom Kindergeld und Kinderzuschlag über den Kinderfreibetrag bis hin zu Unterstützungen bei Klassenfahrten oder Freizeitaktivitäten. Zusätzlich zu einem Garantiebeitrag von etwa 250 Euro pro Kind, der nicht auf das Bürgergeld ­angerechnet wird (wie es beim ALG II noch der Fall war), könnten Eltern ­einen Zusatzbetrag erhalten, der je nach Bedürftigkeit berechnet wird.

Das von den Grünen erarbeitete Konzept sieht vor, dass dieser Zusatzbetrag bis zu 547 Euro pro Kind betragen kann. Noch gibt es aber keine genauen Zahlen, ein Gesetzentwurf soll erst nach der diesjährigen Sommerpause fertig sein. Die Grundsicherung soll ab 2025 die bisherigen Kinderunterstützungen ablösen.

Der vorgesehene Garantiebetrag ist praktisch genauso hoch wie das derzeitige Kindergeld. Zusätzlich können auch heute schon viele Eltern oder ­Alleinerziehende einen Kinderzuschlag bis zu 250 Euro beantragen. Doch viele wissen gar nicht, dass sie diese zusätzliche Leistung beanspruchen können, oder sie scheitern an bürokratischen Hürden. Nach einer Schätzung des Bundesfamilienministeriums erhält nur jedes dritte anspruchsberechtigte Kind in Deutschland den Kinderzuschlag.

Vor allem diesen Missstand soll die Grundsicherung beheben. Fami­lienministerin Paus verspricht einen »Paradigmenwechsel« von der indi­vidualisierten Beantragung zu einer automatisierten »Servicepflicht« des Staats.

In Deutschland wächst derzeit mehr als jedes fünfte Kind in Armut auf.

Bislang werden für Kindergeld und Kinderzuschlag knapp 49 Milliarden Euro pro Jahr ausgegeben; die neuesten Zahlen sind von 2021. Bei der Einführung der Grundsicherung rechnet das Familienministerium mit zusätzlichen Kosten in Höhe von zwölf Milliarden Euro jährlich.

Der Bedarf ist jedenfalls groß. In Deutschland wächst derzeit mehr als jedes fünfte Kind in Armut auf – das sind 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Der Bertelsmann-Stiftung zufolge ist das für zwei Drittel der betroffenen Kinder und Jugendlichen ein Dauerzustand: Sie leben »mindestens fünf Jahre durchgehend oder wiederkehrend in Armut«, heißt in einem kürzlich erschienen Dokument der Stiftung, das einen Überblick über aktuelle Forschungsbefunde gibt. Darin wird auch betont, dass die Kinder­armut auf einem konstant hohen Niveau verharrt, trotz der teils guten wirtschaftlichen Entwicklung in den vergangenen Jahren.

Fast die Hälfte der armen Kinder wächst in Familien mit nur einem Erziehungsberechtigten auf. Kinder­armut ist eine prägende Erfahrung, oft hat sie lebenslange Folgen. Wer arm aufwächst, erhält der Bertelsmann-Stiftung zufolge bei gleicher Leistung seltener eine Empfehlung fürs Gymnasium, auch die Chancen auf einen höheren Bildungsabschluss seien deutlich geringer.

Derzeit verschlimmert sich das Problem. »Die Inflation trifft die Familien, die nur wenig Geld zur Verfügung haben, besonders hart«, sagte der Prä­sident des Deutschen Kinderschutzbunds, Heinz Hilgers, kürzlich der Stuttgarter Zeitung. Er warnte, dass die Kinderarmut im kommenden Jahr deutlich ­zunehmen werde. Um die Zeit bis zur Einführung der Grundsicherung zu überbrücken, setzte Familienministerin Paus im vergangenen Sommer ­einen höheren Kinderzuschlag und ein höheres Kindergeld durch. Seit ­Januar gibt es für jedes Kind pro Monat 250 Euro Kindergeld.

Finanzminister Christian Lindner (FDP) ist jedoch dagegen, mehr Mittel für die Grundsicherung bereitzustellen. Bei der Kindergrundsicherung habe man sich noch nicht auf ein Konzept geeinigt. Statt armen Kindern »einfach mehr Geld« zu geben, müsse man eher in »die Sprachförderung von Eltern und Kindern« investieren und »in das Bemühen, die Eltern in den Arbeitsmarkt zu integrieren«. Der Bundestagsfraktionsvorsitzende der FDP, Christian Dürr, meinte, der »Kern der Reform ist nicht, einfach mehr Steuergeld ein­zusetzen, sondern endlich zu entbürokratisieren«. Der Staat müsse »besser, nicht teurer werden«.

Die Grünen sehen in der Kindergrundsicherung ein zentrales sozialpolitisches Projekt der Koalition. »Die FDP ist aufgefordert, diesen wichtigen Schritt mitzugehen«, stellte die stellvertretende Grünen-Fraktionsvorsitzende Maria Klein-Schmeink schon im Februar klar. Doch ob das passieren wird, scheint immer ungewisser. Die Debatte über die Grundsicherung ist Teil eines regierungsinternen Konflikts über den Bundeshaushalt für das kommende Jahr. Die Eckpunkte dafür sollen bis Mitte März beschlossen werden.

Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Lindner hatten sich im Februar in einem öffentlich gewordenen Briefaustausch scharf widersprochen. Habeck hatte geschrieben, er könne Lindners Eckwerte für den Haushaltsplan »so nicht akzeptieren«, weil nicht genug Geld für die Prioritäten der Grünen vorgesehen sei, außerdem solle man darüber »beraten, wie wir Einnahmen verbessern«. Lindner hielt dagegen, dass der Koa­litionsvertrag Steuererhöhungen ausschließe.

Statt mehr Geld für Kinder aus­zu­geben, will die FDP lieber zehn Milliarden Euro für die sogenannte Aktienrente am Kapitalmarkt investieren.

Bei den geplanten Mehrausgaben verweist Lindner stets auf die sogenannte Schuldenbremse, also das grund­gesetzliche Verbot, Staatshaushalte über Kredite zu decken, und die wachsende Zinslast des Bundes. Diese ergibt sich auch aus den verschiedenen »Sondervermögen« – de facto Nebenhaushalte, mit denen die Schuldenbremse umgangen wurde. Neben 60 Milliarden Euro für den »Klima- und Transforma­tionsfonds« und 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr kommen noch 200 Milliarden Euro für die Gas- und Strompreisbremse hinzu.

Diese 200 Milliarden werden wohl nicht komplett gebraucht, weil die Preise inzwischen wieder gesunken sind, und können für andere Zwecke umgewidmet werden. Trotzdem ist unklar, wie weitere Ausgaben, beispielsweise für den Wohnungsbau oder die defizitäre Pflegeversicherung, gedeckt werden sollen. Im laufenden Jahr erlaubt die Schuldenbremse dem Bund, 45,6 Mil­liarden Euro neue Schulden aufzunehmen. Steuererhöhungen lehnt Lindner kategorisch ab.

Hier prallen die gegensätzlichen Vorstellungen in der Koalition aufeinander. Statt mehr Geld für Kinder auszugeben, will die FDP lieber zehn Milliarden Euro für die sogenannte Aktienrente am Kapitalmarkt investieren. Der neue Verteidigungsminister Boris ­Pistorius (SPD) fordert unterdessen zehn Milliarden Euro mehr im Jahr für die Bundeswehr – zusätzlich zum Sondervermögen.

Dennoch ist man im Familienministerium überzeugt, dass die Mehrkosten für die Grundsicherung sehr wohl zu finanzieren seien. Paus verwies darauf, dass allein die von Lindner geforderte Abschaffung des Solidaritätszuschlags rund elf Milliarden Euro koste. Dabei würde es sich um eine Steuererleichterung allein für die oberen zehn Prozent der Einkommen handeln – denn nur diese zahlen noch den Solidaritätszuschlag.

Höhere Steuern auf Erbschaften oder die Wiedereinführung der Vermögensteuer wären mit Blick auf die Vermögensentwicklung in Deutschland mehr als naheliegend. Darüber hinaus gibt es noch andere Möglichkeiten, zusätzliche Einnahmen zu erzielen, beispielsweise die zahlreichen Steuerschlupf­löcher zu schließen. Nach Angaben des britischen Tax Justice Network sind in Deutschland dadurch alleine im vergangenen Jahr rund 29 Milliarden Euro an Unternehmensteuern entgangen. Das ist innerhalb der EU die höchste Summe, nur in Großbritannien seien die Steuerverluste noch höher.