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Die Filmemacherin Ruth Beckermann hat über drei Jahre hinweg eine Grundschulklasse im Wiener Bezirk Favoriten begleitet. Herausgekommen ist ein Film, der zeigt, wie Lehrer und Schüler versuchen, trotz teils harscher sozialer Verhältnisse das Blatt zum Positiven zu wenden.
Favoriten, so heißt der zehnte Bezirk Wiens, der bis ans südliche Ende der Stadt reicht. Und zugleich ist es der Titel des jüngsten Dokumentarfilms der jüdisch-österreichischen Filmemacherin Ruth Beckermann, die über drei Jahre hinweg in eben jenem Stadtteil eine Schulklasse mit Kindern im Alter von sieben bis zehn Jahren begleitete. Es ist ein Schicksalsdrama in drei Akten, von der zweiten Klasse bis zum Halbjahreszeugnis der vierten, gedreht größtenteils während der Covid-19-Pandemie von 2020 bis 2023. Der Film feierte dieses Jahr auf der Berlinale seine Weltpremiere und eröffnete kurz darauf das Filmfestival Diagonale in Graz.
Es geht um das in vielerlei Hinsicht nicht unproblematische österreichische Schulsystem, das in Stufen gestaffelt ist: Volks- und Mittelschule (Grund- und Hauptschule in Deutschland), woraufhin eine polytechnische, berufsbildende oder allgemeinbildende höhere Schule (Gymnasium) folgen kann.
Ähnlich wie in Deutschland mangelt es an Lehrern und die Schulen sind mit immer mehr Kürzungen in der Sonderpädagogik und Sozialarbeit konfrontiert, obwohl entsprechende Fachkräfte dringend notwendig wären.
Sonderschulen gelten als ein Angebot oder vielmehr eine häufig folgenschwere Sackgasse für Schüler, wenn sie durch körperliche oder psychische Funktionsbeeinträchtigungen dem Unterricht ohne spezielle sonderpädagogische Förderung nicht zu folgen vermögen. Ähnlich wie in Deutschland mangelt es an Lehrern und die Schulen sind mit immer mehr Kürzungen in der Sonderpädagogik und Sozialarbeit konfrontiert, obwohl entsprechende Fachkräfte dringend notwendig wären, um die Schüler individuell fördern zu können, anstatt sie aufs Abstellgleis Sonderschule zu stellen.
Die Kinder in Beckermanns Film besuchen die Volksschule Bernhardtstalgasse und haben unterschiedliche kulturelle und religiöse Hintergründe, sprechen verschiedene Sprachen, Deutsch häufig nur gebrochen oder gar nicht. Sie sind keck und verspielt, manchmal aber auch gelangweilt und verschlafen, wirken häufig überfordert und weinen, wenn die Noten nicht so gut ausfallen wie erhofft.
Die einen machen lieber Faxen oder holen den Schlaf der letzten Nacht im Unterricht nach, denken müde mit dem Kopf auf dem Tisch über die unterschiedlichen Preise bei McDonald’s am Stephansdom im ersten und denen im zehnten Bezirk nach.
Die andere sind strebsam und höchst motiviert, allen Widerständen zum Trotz einmal das zu werden, was der Titel verspricht: Favoriten. Favoriten, denen die 70 Cent Preisunterschied zwischen einem Happy Meal im Stadtzentrum und einem im Migrationsbezirk nichts mehr ausmachen wird.
Eines aber haben die Kinder alle gemein: Sie lieben ihre Klassenlehrerin Ilkay Idiskut. Sie ist gutmütig und verständnisvoll, versucht geduldig und mit Witz, all die verschiedenen Facetten ihrer Schüler aufzugreifen, um sie in die nächst höhere Klassenstufe zu befördern.
So vielfältig wie die Schüler sind, so kontrastreich ist auch der Ort, an dem sich die Bildungsstätte befindet. Der Zehnte zeichnet sich durch ein reichhaltiges kulinarisches, für Wiener Verhältnisse günstiges Angebot aus: Auf der Favoritenstraße gibt es allerlei Früchte, Kräuter und Gemüse zu kaufen, in der Hochsommersonne gerne auch einmal schwitzende Hühnerkeulen.
Ferhat bietet neben dem hausgemachten schaumigen Ayran einen Döner an, der dem aus Berlin starke Konkurrenz machen könnte. Unweit davon, am Reumannplatz, stehen die Leute im Sommer vor dem traditionellen Wienerischen Eissalon Tichy Schlange, um sich eine kleine Abkühlung durch die berühmten dort erfundenen Eismarillenknödel zu gönnen. Seit 1955 befindet sich der Familienbetrieb dort, wuchs von einer Diele zu einem Salon, seiner Qualität stets treu bleibend.
Dieses vielfältige Angebot – eine köstliche Mischung aus alteingesessener traditioneller österreichischer Küche und verschiedenen migrantischen Gaumenfreuden – ist kaum zu übertreffen. Aber dieses verlockende Bild, dieser Reichtum an Möglichkeiten, wird durchbrochen von verheerenden Schlagzeilen, die der multiethnische Arbeiterbezirk immer wieder macht. Dazu zählen allein für den vorigen Monat beispielsweise eine Messerattacke auf einen 19jährigen und gleich zwei Femizide.
Im Film wird deutlich, dass den Kindern mehr abverlangt wird, als nur ein »kid« zu sein, dass sie häufig die Familieneinkäufe erledigen oder bei Elterngesprächen dabei sein müssen, um zu übersetzen.
Vor diesem Hintergrund scheint eine etwas grotesk wirkende Geschichte, die das Mädchen Nerjis mit ihren Mitschülern teilt, nicht mehr ganz so abwegig: Man dürfe sich nicht schminken, sonst werde man von manchen Menschen geklaut, habe ihr die Mama erzählt. Von Kidnapping ist die Rede. Die Lehrerin Idiskut nimmt ihr die Angst, verweist auf das Land, aus dem die Mutter kommt, in dem das vielleicht so sei, aber hier in Österreich passiere das nicht. Und Nerjis stellt strahlend fest, dass in dem Begriff Kidnapping auch das Wort kid steckt. Der Englischunterricht beginnt erst in der zweiten Klasse und ist wohl eher überfordernd für Kinder, die schon mit den anderen zu Hause gesprochenen Sprachen und dem Deutschen zu ringen haben.
In Beckermanns Film wird allerdings deutlich, dass den Kindern mehr abverlangt wird, als nur ein kid zu sein, dass sie häufig die Familieneinkäufe erledigen oder bei Gesprächen der Eltern dabei sein müssen, um zu übersetzen. »Favoriten« hebt ganz explizit die Schwachstellen des österreichischen Schulsystems hervor, ohne dabei die teilweise vermutlich tragischen Erlebnisse und (Flucht-)Geschichten der Kinder zu exponieren. Es geht um die Herausforderungen der Lehrenden und ihrer Schüler, die trotz aller sozialpolitischen Widerstände gemeinsam unnachgiebig versuchen, das Blatt zum Positiven zu wenden.
So wie Ilkay Idiskut versucht, individuell und empathisch auf die Kinder einzugehen, so tritt auch Beckermann mit ihrem Kameramann Johannes Hammel den Porträtierten gegenüber. Sie zeigen sie respektvoll in all ihren Facetten. Das löst beim Zuschauer Emotionen aus, wie man sie eher aus Spielfilmen kennt, die vielschichtige Charaktere zeichnen: Eine gehässige Petze ist auch eine liebevolle, fürsorgliche Freundin, ein kleiner Schläger auch ein witziger, reuevoller Bub.
Statt in herausgelösten Einzelinterviews mit der Regisseurin geben die Kinder im gemeinsamen Gespräch über sich selbst preis, was sie im Unterricht, auf dem Schulhof oder während Exkursionen in eine Moschee oder den Stephansdom teilen wollen, während die Kamera sie beobachtet. Besonders hervorzuheben ist dabei, dass nicht nur Hammel filmt, sondern auch die Kinder sich selbst und einander sowie ihre Umgebung. Dafür verwenden sie Smartphones, die ihnen die Regisseurin gegeben hat. So entsteht ein Porträt über sie und zugleich eines von ihnen selbst über sich.
Der behutsame Blick der Regisseurin verbindet sich dabei mit Möglichkeiten der Selbstdarstellung und Selbstermächtigung der Protagonisten. Da Beckermann und Hammel die Kinder beim Filmen beobachten, entstehen auch Bilder in Bildern, manchmal etwas verwackelt, die zu einer vielschichtigen Gesamtdarstellung verschmelzen. Durch dieses Wechselspiel der verschiedenen Einstellungen und dokumentarischen Stilistiken gewinnt der Film sehr an Lebendigkeit.
»Ich hab so viel Stress«, sagt Melissa, kurz nachdem sie eine Matheaufgabe nicht lösen konnte. Sie filmt sich im Selfie-Modus und fährt währenddessen mit dem Roller durch ihr Wohnviertel – »aber es ist sehr schön, wenn man filmt!«, eine Begeisterung, die wohl alle Filmschaffenden mit dem Mädchen teilen.
In einer anderen Szene stellen die Kinder einander mit laufenden Handykameras Fragen über ihre Schul- und Berufspläne sowie etwaige Partnerschaften. Majeda möchte gerne aufs Gymnasium gehen, woraufhin ihr Manessa den Rat gibt, dafür viel zu lernen. Die beiden tauschen ihre Positionen und Majeda fragt Manessa, ob sie gerne einen Mann heiraten möchte. »Nein danke!« lehnt sie bestimmt ab.
Diese Spannung zwischen Selbstermächtigung vor und mit der Kamera steht im Kontrast zur Machtlosigkeit gegenüber strukturellen Problemen. In Beckermanns Film erstarken die Kinder durch den Griff zur Kamera und bekommen zumindest für Momente Handlungsmacht.
Es bräuchte offensichtlich weitaus mehr Unterstützung; durch engagiertes Lehrpersonal, aber auch und vor allem durch eine andere Politik.
Damit sie diese auch über die Bildränder hinaus erreichen können, bräuchte es offensichtlich weitaus mehr Unterstützung; durch so engagiertes Lehrpersonal wie Ilkay Idiskut, aber auch und vor allem durch eine andere Politik, die an einem besser strukturierten und an die Bedürfnisse der Schüler und Lehrer orientierten Schulsystem interessiert ist und tatsächlich daran arbeitet.
Das Problem der porträtierten Kinder sind nicht vorwiegend ihre verschiedenen Sprachkenntnisse oder die geringen Möglichkeiten ihres Elternhauses, sie zu fördern, sondern der Mangel an Lehrern und weiteren Fachkräften, kurzum das gegenwärtige Schulsystem, das dies nicht auffangen kann.
Favoriten (Österreich 2024). Buch: Ruth Beckermann, Elisabeth Menasse-Wiesbauer. Regie: Ruth Beckermann