Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan laviert sich durch die Krise

Erdoğans kleines Reich

Der türkische Präsident liegt mit den USA im Streit wegen eines in­haftierten Pastors, nicht nur die US-Sanktionen schwächen die türkische Lira. Der Vormarsch syrischer Regierungstruppen auf Idlib bedroht zudem Recep Tayyip Erdoğans angestrebtes neoosmanisches Reich.

»Von allen Krisen, die die Türkei erlebt hat, hat keine so deutlich gesagt: ›Ich komme!‹« Das schreibt Güven Gürkan Öztan, ein Kolumnist der kleinen linken Zeitung Birgün. Er bezieht sich auf die Zahlungsprobleme großer türkischer Holdings, den stetigen Wertverlust der Lira und die zuvor sehr eilig angekündigten Wahlen vom Juni. Die ökonomisch völlig unbedeutenden Sanktionen der US-Regierung allein können die Krise nicht verursacht haben.

Wegen der Affäre um den in der Türkei angeklagten Pastor Andrew Brunson hatte die US-Regierung symbolische Sanktionen gegen die türkischen Minister des Inneren und der Justiz, Süleyman Soylu und Abdülhamit Gül, verhängt. Dem seit fast zwei Jahren in der Türkei inhaftierten US-Amerikaner, der sich seit kurzem in Hausarrest befindet, wirft die türkische Regierung Terrorismus vor. Nach der Sanktionsankündigung der USA verlor die Lira sofort fünf Prozent ihres Werts, und es half auch nicht, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit ebenfalls symbolischen Sanktionen gegen die entsprechenden Minister in Donald Trumps Kabinett antwortete. Der Kurs der Lira schwankt nicht, er geht nur bergab. Eine ähnliche Lage hatte es bereits im Mai gegeben, als die Geldwechsler in Istanbul ihre Läden schlossen, weil sich der Kurs zu schnell änderte. Bekam man zu Jahresbeginn für 100 Lira 27 US-Dollar, waren es am Montagmorgen noch 15 US-Dollar (umgerechnet knapp 13 Euro). Zugleich steigt in der Türkei die Inflationsrate, sie betrug im Juli nahezu 16 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Doch liest man die Kolumne von Cemil Ertem in der regierungsnahen englischsprachigen Tageszeitung Daily Sabah, hat man das Gefühl, in einer anderen Welt zu leben. Ertem ist offiziell ein »Hauptberater« des Präsidenten. In seiner Kolumne schreibt er nicht über die Probleme der Lira, sondern über den Niedergang des US-Dollar. Da der Anteil Europas und der USA an der Weltwirtschaft sinkt, geht Ertem zufolge auch die Rolle des US-Dollars als Reservewährung zu Ende. Demnach werde die Vorherrschaft der USA »früher zu Ende sein, als wir erwarten«, so Ertem.

Dem mögen auch manche andere Analysten zustimmen, doch was hat das mit den Sanktionen gegen zwei türkische Minister zu tun? Ertem zufolge wollen die USA mit den Sanktionen schlicht testen, wie viel Macht sie noch haben. Nichts zu tun habe die Sache mit dem wegen Terrorunterstützung angeklagten Pastor Brunson beziehungsweise Konzessionen, die sich die Türkei für seine Freilassung erhofft – etwa einen Austausch gegen den im US-Exil lebenden Fethullah Gülen, den sie für den gescheiterten Putschversuch 2016 verantwortlich macht –, so Ertem.

Angesichts seiner früheren Erfolge hat Erdoğan den Blick für die Realität verloren. Das muss nicht heißen, dass er daran scheitern wird.

Damit sollen nicht türkische Leser beruhigt werden, an die sich der englischsprachige Artikel gar nicht richtet, sondern ausländische Anleger. Bereits im April hatte Erdoğan seine Theorie über die Schädlichkeit von Zinsen nicht nur in der Türkei vorgetragen, sondern auch vor institutionellen Anlegern in London, was zum ersten heftigen Kurssturz der türkischen Währung in diesem Jahr geführt hatte.

Bislang hatte Erdoğan allen Grund, sich als einen sehr erfolgreichen Politiker zu sehen: 30 Jahre lang hatten türkische Regierungen vor ihm es nicht geschafft, die Inflationsrate einzudämmen. Nach seinem Antritt als Ministerpräsident 2003 sank diese deutlich und die Wirtschaft wuchs erheblich. Mit Hilfe der Gülen-Bewegung schränkte er die Macht des Militärs ein, später besiegte er als Präsident dann auch die Gülen-Bewegung. Den Konflikt mit den Kurden hat er zwar nicht gelöst, 2015/16 aber mit harter Hand einen kurdischen Aufstand niedergeschlagen. Seither ist die Anzahl der Anschläge der PKK stark zurückgegangen. Die ganze Türkei ist übersät von Bauten aus der Ära Erdoğan: Straßen, Brücken, Staudämme, Kraftwerke, Gerichtsgebäude, Gefängnisse und nicht zuletzt Erdoğans Riesenpalast bei Ankara. In den Bauten stecken viele ausländische Kredite und zu ihrer Bedienung braucht die Türkei Devisen, was die Lira verwundbar macht. Doch das ignoriert Erdoğan.

Erdoğans Gegner haben ihn lange Zeit vorgeworfen, er strebe nach einem Sultanat. Tatsächlich ist Erdoğan nicht mehr weit davon entfernt, wie ein Sultan zu herrschen. Davon zeugen nicht nur sein Palast und seine kostümierte Janitscharengarde. Was Erdoğan sagt, ist so gut wie Gesetz in der Türkei. Zwar existiert auch noch das Parlament, das Erdoğans Erlassen mit Gesetzeskraft nachträglich zustimmen muss, aber dort sind die Willigen in der Mehrheit, denn für seine Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) stellt er die Wahlliste selbst zusammen. Devlet Bahçeli, der Vorsitzende des Koalitionspartners der AKP, der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), ist außer bei seinen Lieblingsprojekten, wie der Freilassung rechtsextremer Gewalttäter, sehr gefügig. Den Haushalt darf der Präsident ohnehin alleine aufstellen.

 

Der neue Sultan ist sogar dabei, einen wenn auch bescheidenen Teil des einstigen osmanischen Imperiums wieder unter türkische Kontrolle zu bringen. Erst eroberte die türkische Armee in Syrien Jarabulus und al-Bab, dann Afrin. Außerdem haben Russland und der Iran der Türkei die Aufgabe übertragen, die Einhaltung des Waffenstillstands in der sogenannten Deeskalationszone um Idlib zu kontrollieren. Der syrische Diktator Bashar al-Assad nutzte die Ruhe dort, um den Widerstand gegen sein Regime an anderen Orten zu brechen. Damit ist er nun fertig und möchte mit Idlib fortfahren, einer der letzten Regionen, die das syrische Regime noch nicht wieder kontrolliert und in die viele Menschen aus anderen umkämpften Gebieten Syriens geflohen sind. Am Wochenende starben bei Luftangriffen im Süden Idlibs bereits Dutzende Menschen.

Doch im weitgehend von islamistischen Rebellengruppen kontrollierten Idlib stehen nun türkische Vorposten. Erdoğan strebt die Errichtung eines Protektorats an, das politisch, ökonomisch und militärisch völlig von der Türkei abhängig wäre. Die jüngsten Bemühungen der Türkei um bessere Beziehungen zu Frankreich und Deutschland zielen vermutlich darauf, Unterstützung für diese Pläne zu bekommen. Idlib, Afrin und al-Bab könnten zur Flüchtlingsaufnahme angeboten werden, wofür Erdoğan auf politische wie finanzielle Hilfe rechnen könnte. Ein kleines neoosmanisches Reich entsteht und orientiert sich nach Russland und China.

Der Präsident sei umgeben von Menschen, die ihm nach dem Mund reden, meint sein ehemaliger Generalsekretär Mehmet Fırat. Wohl nur so ist zu verstehen, warum Erdoğan den Streit um Brunson eskalieren ließ. Es war der Punkt, an dem er Republikaner und Demokraten in den USA gegen sich vereinte. Dabei steht der eigentliche Konflikt mit der US-Regierung erst noch an. Es geht um die Weigerung der Türkei, die Iran-Sanktionen der USA mitzutragen (siehe der Artikel von Jörn Schulz). Dafür gibt es nicht nur ökonomische Gründe. Wenn sich die Türkei prominent gegen die Sanktionen ausspricht, würde das iranische Regime Assad höchstwahrscheinlich nicht bei militärischen Aktionen gegen Idlib unterstützen.

Erdoğan hat die Auswirkungen der Brunson-Affäre wohl unterschätzt, nun fallen ihm als Erklärung wieder einmal Verschwörungstheorien ein. Trump sei durch ein Komplott getäuscht worden. »Brunson wurde von Zionisten und Evangelisten als eine Waffe gegen Erdoğan gebraucht«, berichtete etwa die regierungsnahe Tageszeitung Akşam. Erdoğan selbst hatte im Streit um den inhaftierten Pastor den USA eine »evangelikale, zionistische Mentalität« vorgeworfen. Um ihr Gesicht zu wahren, wird die Türkei den Pastor nun kaum vor dessen nächstem Verhandlungstag am 14. Oktober freilassen. Die USA fordern mittlerweile die Freilassung 15 weiterer Personen.

Es werde keinen Bankrott geben, prophezeite Erdoğan. Er warnte türkische Firmen davor, jetzt Konkurs anzumelden, und rief seinen Anhängern zu: »Wenn sie Dollars haben, dann haben wir unseren Allah!« Falls weder Allah noch China der Türkei hilft, wird die Krise sehr hart.

Angesichts seiner früheren Erfolge hat Erdoğan den Blick für die Realität verloren, dazu gehören die Macht der USA, der Zustand der türkischen Wirtschaft und die Gefahr, noch weiter in den syrischen Bürgerkrieg verstrickt zu werden. Das muss nicht heißen, dass er daran scheitern wird. Abdüllatif Şener, Erdoğans einstiger Wegbegleiter und Stellvertreter im ersten Kabinett, der später zur Republikanischen Volkspartei (CHP) wechselte, hat dazu eine klare Meinung: Nur Demokraten müssen Krisen fürchten, Diktatoren freuen sich darüber. In der Krise könnte Erdoğan seine Anhänger noch besser um sich scharen. Nur wenn die Krise länger anhält, dürfte auch Erdo­ğans Ruf leiden.