Das Narrativ der Narrative

Erzähl mir nichts

Sprachkolumne. Die Legenden der Schlauen.
Das letzte Wort Von

Menschen glauben ja an alles Mögliche und Unmögliche: den lieben Gott, Horoskope, Germanische Neue Medizin, Vernunft. So unterschiedlich sind die Weltbilder, dass eine gemeinsame Diskussionsgrundlage oft schwer zu finden ist.

Eine Frage jedoch drängt sich jedem und jeder auf: Wie kann es sein, dass so viele andere, statt ähnlich kluge Ansichten zu pflegen wie man selbst, irgendwelchem Blödsinn anhängen? Der haarsträubendste Unfug braucht, so scheint es, nur in eine publikumswirksame Geschichte verpackt zu werden, um zumindest ein paar verirrte Geister zu überzeugen.

Die Rede von Narrativen oder Erzählungen abstrahiert von den entscheidenden Fragen nach Wahrheitsanspruch und Rea­litätsbezug.

Geschichten haben diese Macht, weil sie eine tiefe Sehnsucht befriedigen: die nach einer übersichtlichen Ordnung, welche das Chaos in der Welt und im Kopf überwindet und aus der klar hervorgeht, was wahr und falsch, gut und böse ist. Will man zeigen, dass man das durchschaut hat, kann man solche Geschichten »Narrative« nennen.

Eigentlich stecken darin jedoch mehr Fragen als Antworten: Warum schenkt jemand gerade diesem Narrativ Glauben und nicht jenem? Welche konkreteren Funktionen erfüllen die Erzählungen für uns? Und was können wir neben Narrativen oder an ihrer Stelle nutzen, um unser Denken zu strukturieren?

Zudem setzt jede Erzählung eine Welt voraus, in der und über die wir sie erzählen. Die Rede von Narrativen oder Erzählungen abstrahiert jedoch von den entscheidenden Fragen nach Wahrheitsanspruch und Rea­litätsbezug. Geschichten kann man nach Belieben variieren, sie zum Beispiel spannender oder lustiger, komplizierter oder einfacher machen. Aber eine Verschwörungstheorie beansprucht nicht, zu erbauen oder zu unterhalten, sondern verborgene Tatsachen aufzudecken. Und wer beispielsweise Statik als ein Narrativ beschreibt, das eine normative Perspektive auf Bauwerke definiert, der interessiert sich nicht für den Bau von Brücken oder Hallen und auch nicht wirklich für Statik.

Wer von Narrativen redet, versteht sich selbst dabei nicht als Geschichtenerzähler: Der Begriff dient gerade dazu, sich über diese Rolle zu erheben, er gehört nicht dem Narrativ an, sondern einer Metasprache, einer Metadebatte, dem Reden über Erzählungen. Er gibt einem das Gefühl, denen, über deren Denken man spricht, eine Reflexionsstufe voraus zu sein. So kann die Rede von Narrativen reproduzieren, was sie zu überwinden vorgibt: ein Denken, das seinen eigenen Status nicht reflektiert.