Geologen sind uneins, ob ein neues Erdzeitalter, das Anthropozän, begonnen hat

Politisch sind immer nur die anderen

Jahrelang hatte eine Arbeitsgruppe der International Union of Geological Sciences (IUGS) darüber beraten, ob das sogenannte Anthropozän als eigenes Erdzeitalter deklariert werden soll. Nun haben sich die Kritiker dieses Vorhabens vorläufig durchgesetzt.

Nun also doch nicht. Lange schien es nur noch eine Formsache zu sein, dass auf dem Weltkongress der Geologie Ende August das Holozän offiziell beendet und mit dem Anthropozän eine neue erdgeschichtliche Epoche ausgerufen werden würde. Doch Anfang März scheiterte der Vorschlag bereits an der ersten Hürde: Die Subcommission on Quaternary Stratigraphy (SQS), eine Unterunterabteilung der über allem Erdkundlichen thronenden International Union of Geological Sciences (IUGS), beschloss mit großer Mehrheit, das Vorhaben auf unbefristete Zeit zu vertagen. Oder sogar endgültig: »Fall ab­geschlossen«, meinte zumindest SQS-Mitglied Philip Gibbard, Geologe an der Universität Cambridge.

Die Entscheidung kam überraschend. Immerhin ist der Begriff Anthro­po­zän, also das vom Menschen geprägte Erdzeitalter, durch populärwissenschaft­liche Bücher, Dokus, Ausstellungen und so weiter längst im allgemeinen Sprach­gebrauch angekommen, und bei Temperaturen von 30 Grad Anfang April in Deutschland ist unübersehbar, dass sich der Planet, auf dem wir leben, unterscheidet von dem unzähliger Generationen unserer Vorfahr:innen seit der Jungsteinzeit. Klima­wandel­leug­ner:innen mögen das weiterhin abstreiten, doch zu denen gehören die Mitglieder der diversen IUGS-Gremien ganz sicher nicht.

Kritiker machten von Anfang an kei­nen Hehl daraus, dass ihnen die Stoßrichtung der Debatte über das Anthropozän nicht gefiel: »Zu akti­vistisch«, hieß es, andere schrieben abschätzig von »Popkultur«.

Aber von Anfang an: Vor etwa 4,5 Milliarden Jahren entstand die Erde, anschließend dauerte es eine geraume Zeit, bis vor etwa einer halben Milliarde Jahren erstmals mehrzellige Organismen auf den Plan traten. Es folgten die Besiedlung des Lands, die Entstehung von Kohle und Erdöl, diverse Massenaussterben und schließlich, geologisch gesehen innerhalb eines Wimpernschlags, die weltweite Ausbreitung einer Primatenart, die bald im Boden nach Ressourcen suchte und so nicht nur den Planeten erheblich veränderte, sondern auch entdeckte, dass die Gesteine der Erdkruste eine markante Schichtung aufweisen.

Man kann sich das wie eine Schichttorte vorstellen – allerdings eher eine zermatschte selbstgemachte als eine fein säuberlich konstruierte aus der Konditorei. Aber auch wenn im Laufe der Jahrmillionen einiges durcheinandergeraten ist, gilt als Faustregel, dass jüngere Gesteine über älteren liegen. Dadurch lässt sich eine geologische Zeitskala erstellen, was als Stratigraphie bezeichnet wird.

»Wir leben längst im Anthropozän«

Über alle Fragen in Sachen Erdgeschichte wacht die der SQS übergeordnete International Commission on Stratigraphy (ICS), welche – die Hierarchien der Geologie haben ähnlich viele Schichten wie die Erdkruste – ihrerseits das größte Gremium unter dem Dach der IUGS darstellt. Die ICS legt die offizielle Einteilung in diverse über- und untergeordnete Erdzeitalter fest, von denen an dieser Stelle vor allem der Begriff der Epoche eine Rolle spielt. Damit werden Zeitabschnitte von üblicherweise einigen Millionen Jahren bezeichnet, die als Untereinheiten der nächsthöheren Rangstufe, der Periode, eingeordnet werden.

Im Jahr 2000 nun eröffnete der Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen eine Debatte über ein mögliches neues Zeitalter – ursprünglich nur mit einer Randbemerkung auf einer Tagung in Mexiko. »Hören Sie auf, vom Holozän zu sprechen, wir leben doch schon längst im Anthropozän«, sagte Crutzen, der sich vor allem mit seiner Arbeit zur Rolle von FCKW und verwandten Sub­stanzen bei der Zerstörung der Ozonschicht einen Namen gemacht hatte. Seine Forschungen trugen dazu bei, dass diese Chemikalien ab 1989 weltweit verboten wurden. (Falls sich jüngere Le­ser:innen wundern: Ja, es gab einmal Zeiten, als wissenschaftliche Erkenntnisse noch politische Konsequenzen hatten.)

2009 schließlich wurde unter dem Dach der SQS, die für die geologische Periode des Quartär (2,6 Millionen Jahre in die Vergangenheit bis heute) zuständig ist, eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die untersuchen sollte, ob es genug Beweise gibt, um das Anthropozän als geologische Einheit anzuerkennen: die Anthropocene Working Group (AWG). Auch Paul Crutzen gehörte ihr bis zu seinem Tod 2021 an.

Die AWG kam zu dem Schluss, das Anthropozän sei als neue Epoche ­einzustufen. Schließlich hinterlässt die Menschheit ihre Spuren nicht nur durch die Freisetzung von Treibhausgasen, sondern nicht zu knapp auch in Form anderer Prozesse, die sich irre­versibel in die Erdgeschichte einschreiben. Zu nennen wären etwa die Umgestaltung von nahezu 50 Prozent der Landoberfläche, der massive Eingriff in den Stickstoffkreislauf durch die Produktion von Kunstdünger, die Nutzung fossiler Brennstoffe und der Artenschwund, der auf dem besten Weg ist, sich in die großen Massenaussterben der Erdgeschichte einzureihen.

Atombombentests haben einen geologischen Marker geschaffen

Eigentlich schienen also nur noch Detailfragen zu klären. Diskutiert wurde zum Beispiel, wann man den Beginn des Anthropozäns ansetzen sollte. Die AWG entschied sich für die fünfziger Jahre: Seither ist eine drastische Beschleunigung aller Prozesse zu beobachten, die für die Einführung des Anthropozäns sprechen; zudem haben ab diesem Zeitpunkt Atombombentests mit ihrem radioaktiven Fallout praktischerweise einen scharf abgrenzbaren geologischen Marker geschaffen.

Fehlte noch der Referenzort, an dem die ICS ihren golden spike hätte setzen sollen, also jene Plakette, mit der die sogenannten Global Boundary Stratotype Sections and Points (GSSP) gekennzeichnet werden, deren Charakteristika typisch für ein bestimmtes Erdzeitalter sind. Unter zahlreichen Kandidaten setzte sich im vergangenen Jahr der Crawford Lake in Kanada durch. Alles Weitere schien nur noch eine Formalie zu sein.

Doch dann grätschte die SQS mit ihrer Entscheidung dazwischen. Offiziell begründete sie ihre Ablehnung damit, dass die menschengemachten Veränderungen noch nicht die Dimension einer Erdepoche erreicht und zudem bereits deutlich früher als in den Fünfzigern begonnen hätten.

Das Gremium hätte freilich Gegenvorschläge unterbreiten können – etwa den Beginn des Anthropozäns eben früher anzusetzen oder es nicht als eigene Epoche, sondern, etwas kleintei­liger, als Abschnitt innerhalb des Holozäns zu definieren. Allerdings dürften hinter den genannten noch andere Gründe für die rigorose Ablehnung stehen.

In der gesellschaftlichen Diskus­sion kam der Alternativbegriff Kapitalozän auf

So machten Kritiker von Anfang an keinen Hehl daraus, dass ihnen die ganze Stoßrichtung der Debatte nicht gefiel: »Zu aktivistisch«, hieß es, und in einem Aufsatz im Magazin der Geological Society of America schrieben die Autoren abschätzig von »Popkultur«. Dass in der gesellschaftlichen Diskus­sion gar der Alternativbegriff Kapitalozän aufkam, ist zwar hilfreich bei der Benennung der Ursachen, dürfte aber auch nicht gerade dazu beigetragen ­haben, die eher konservative Fraktion der IUGS zu überzeugen, die sich jetzt durchgesetzt hat.

Im Kern wollen die alten weißen Männer der Geologie an der »reinen Wissenschaft« festhalten, die auf gar keinen Fall in den Verdacht geraten soll, irgendwie politisch zu sein. Was zum ­einen selbst eine politische Entscheidung und zum anderen illusorisch ist. Man kann ja beispielsweise auch kaum über die Klimakrise reden, ohne einen immensen Hass auf die FDP zu entwickeln.

Im Hintergrund deutet sich ein Kompromiss an: Man könnte sich möglicherweise darauf einigen, den menschlichen Einfluss auf das Erdsystem nicht als Zeitabschnitt, sondern als »Event«, also ein einmaliges Ereignis einzustufen – so wie etwa auch den Meteoriteneinschlag, der vor 66 Millionen Jahren von den Dinosauriern nur eine Handvoll Vögel übrig­ließ.

Zudem dürften sich manche auch geradezu persönlich auf den Schlips getreten fühlen: Schließlich haben die Geowissenschaften von ihren Ursprüngen im Bergbau an dazu beigetragen, den Planeten in den Schrotthaufen zu verwandeln, auf dem wir heute leben. Und natürlich finden sich die lukrativ­sten Stellen für Geolog:innen bis heute in der fossilen Industrie. Ohne behaupten zu wollen, dass »Big Oil« direkten Einfluss auf die Entscheidung genommen hätte, lässt sich doch konstatieren, dass diese Nähe nicht gerade zur behaupteten politischen Neutralität beiträgt.

War es das nun für die wissenschaftliche Anerkennung des Anthropozäns? Das will die AWG so nicht stehenlassen, zumal der Vorwurf grober Regelverletzungen bei der Abstimmung erhoben wird. Die Arbeitsgruppe hat deshalb die Ethikkommission der IUGS angerufen, um die Entscheidung annullieren zu lassen. Im Hintergrund deutet sich derweil ein Kompromiss an: Man könnte sich möglicherweise darauf einigen, den menschlichen Einfluss auf das Erdsystem nicht als Zeitabschnitt, sondern als »Event«, also ein einmaliges Ereignis einzustufen – so wie etwa auch den Meteoriteneinschlag, der vor 66 Millionen Jahren von den Dinosauriern nur eine Handvoll Vögel übrig­ließ.

Das wäre durchaus ironisch, denn dieser kleine Zwischenfall läutete nicht nur eine neue geologische Epoche, sondern gleich eine komplette geochronologische Ära ein, die bis heute andauernde Erdneuzeit. Ob die Menschheit es in dieselbe Liga schafft wie jener Meteoriteneinschlag auf Yucatán, hängt nicht zuletzt von Kreaturen wie dem deutschen Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) ab und wird sich am besten in ein paar Millionen Jahren von den Nach­fahren derjenigen Lebewesen beurteilen lassen, die die Menschenzeit überdauern.