Immer noch wandern Menschen wegen Schwarzfahrens ins Gefängnis

Fürs Busfahren in den Knast

Das Schwarzfahren soll entkriminalisiert werden, hatte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) vergangenes Jahr verkündet, doch bisher passierte nichts – und so wandern weiter etliche Menschen wegen eines Paragraphen aus dem Jahr 1935 ins Gefängnis.

Den gesamten Sommer 2022 hat sie in Haft verbracht und dann auch noch den Herbst. Sechs Monate saß Christin Bach in der JVA Pankow ein. Ihr Vergehen? Sie war mehrmals ohne Fahrschein gefahren und dabei erwischt worden. »Beim ersten Prozess bin ich nur zu vier Monaten auf Bewährung verurteilt worden. Als ich dann wieder erwischt wurde, kamen zwei weitere Monate dazu und ich musste in Strafhaft«, erzählt Bach der Jungle World.

Zwei Jahre zuvor war ihr Bruder gestorben. Ihr Vater, der den Tod nicht verarbeiten konnte, wurde zum Pflegefall. »Da musste ich mich entscheiden: Entweder ich habe etwas zu essen oder ich kaufe einen Fahrschein zu meinem Vater«, erzählt sie. Wird man in Berlin beim Schwarzfahren erwischt, muss man ein »erhöhtes Beförderungsentgelt« von 60 Euro bezahlen. Das habe sie sich beim besten Willen nicht leisten können, sagt Bach.

In einem Jahr wurde sie 40 Mal beim Fahren ohne Fahrschein erwischt. Zunächst wurde sie in sieben Fällen angezeigt. Sie wurde verurteilt und musste eine Strafe von 900 Euro bezahlen – 90 Tagessätze. Die Ersatzfreiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Dann wurden weitere neun Fälle angezeigt, die zu einer Erhöhung der Strafe auf sechs Monate geführt haben und in den Vollzug der Haftstrafe mündeten.

»Ich musste mich entscheiden: Entweder ich habe etwas zu essen oder ich kaufe einen Fahrschein.« Christin Bach

Sie kam zunächst in die Justizvollzugsanstalt Berlin-Lichtenberg und wurde von dort nach Berlin-Pankow verlegt. Ihre Haftzeit kommt ihr im Nachhinein völlig surreal vor. Mitgefangene wollten ihr nicht glauben, dass sie nur für das Fahren ohne Fahrschein einsitzt. »Ich musste ihnen meinen Haftgrund zeigen«, so Bach. Mit Mörderinnen habe sie zusammengesessen – und mit einer 75jährigen, die ebenfalls mehrfach beim Schwarzfahren erwischt worden war und die Strafe nicht hatte zahlen können.

Bach hatte sich während ihrer Haft an den Freiheitsfonds gewandt, eine gemeinnützige Organisation, die Schwarzfahrer aus dem Gefängnis freikauft. Damals war der Topf aber leider leer. Schwarzfahrer werden nach Paragraph 265a des Strafgesetzbuchs verurteilt: wegen des »Erschleichens von Leistungen«. Man könne sie problemlos »freikaufen, da sie ja eigentlich nur zu einer Geldstrafe verurteilt wurden«, erklärt Leonard Ihßen vom Freiheitsfonds der Jungle World. Die Haft ist nur eine Ersatzfreiheitsstrafe, weil sie die Geldstrafe nicht bezahlen konnten.

Freiheitsfonds fordert komplette Entkriminalisierung des Fahrens ohne Fahrschein

Seit Dezember 2021 hat der Freiheitsfonds eigenen Angaben zufolge 994 Häftlinge freigekauft, die wegen Schwarzfahrens im Gefängnis saßen. Das habe in der Summe 183 Haftjahren entsprochen. Es ging dabei oft um Bagatellbeträge. »In einem Fall war der Tagessatz der Strafe auf zwei Euro festgelegt worden. Wir konnten diesen Menschen also für sehr wenig Geld freikaufen«, so Ihßen.

Der Freiheitsfonds fordert die komplette Entkriminalisierung des Fahrens ohne Fahrschein. Nicht nur die Strafen für das Bagatelldelikt seien irrwitzig, sondern ebenso die Kosten, die die Haft für den Staat bedeutet. Mehr als 150 Euro kostet in Deutschland ein Tag Haft für einen Häftling.

Jedoch verstoßen einige Menschen sogar bewusst gegen den Paragraph 265a, um im Winter von der Straße zu kommen. »Es ist bitter, aber es gibt Fälle, in denen Menschen sich bewusst in Haft begeben, um nicht auf der Straße leben zu müssen«, erzählt Manuel Matzke von der Gefangenengewerkschaft (GG/BO) der Jungle World. Er sieht in dem Paragraphen eine eindeutige Armutsbestrafung. Die Gefangenengewerkschaft fordert ebenfalls die ersatzlose Streichung.

Wegen der Haft die Wohnung verloren

Eingeführt wurde der Paragraph, der Schwarzfahren zu einer Straftat machte, im Jahr 1935 von den Nazis. »Der Paragraph folgt eindeutig sozialdarwinistischen Kriterien und entspringt dem Denken nationalsozialistischer Juristen«, sagt die Bundestagsabgeordnete Clara Bünger von der Linkspartei der Jungle World. Ihrer Ansicht nach handelt es sich um Klassenjustiz. Weil sie sich mit dem Thema beschäftigt, wendeten sich regelmäßig Menschen an sie, die von Haft bedroht sind. »Das sind in der Regel Menschen, die einen Schicksalsschlag erlitten haben, suchtkrank oder psychisch erkrankt sind und dann bestraft werden«, so Bünger.

Der Paragraph 265a erfasst neben dem Schwarzfahren die gesamte Bandbreite der »Erschleichung von Leistungen«, zum Beispiel also auch des Zutritts zu einer Veranstaltung. In Hamburg waren Ende April sechs Personen wegen des Paragraphen in Haft, teilte die Hamburger Justizbehörde der Jungle World mit. Wie viele von ihnen wegen »Beförderungserschleichung« einsitzen, sei nicht bekannt. Im Allgemeinen aber mache das Schwarzfahren »den Großteil der Delikte aus«.

Für die Betroffenen hat eine Haftzeit oft schlimme Folgen. Christin Bach hat wegen der Haft ihre Wohnung verloren und kommt ohne Meldebescheinigung auch nicht so leicht an eine neue heran. Seit der Haftentlassung ist sie wohnungslos. »Die Menschen werden durch die Haft oft weiter destabilisiert, verlieren womöglich noch ihre Wohnung und ihren Job«, warnt Ihßen vom Freiheitsfonds. Es habe sogar Fälle gegeben, in denen sich Berliner Gefängnisse selbst an den Freiheitsfonds wandten, um ihre Insassen freigekauft zu bekommen.

Gesetz bestraft einseitig arme Menschen

Auch aus rechtswissenschaftlicher Perspektive gibt es gute Gründe zu kritisieren, dass Schwarzfahren eine Straftat ist. »Beim Schwarzfahren wird eine ›Vertragsuntreue‹ geahndet. Das fällt in anderen Fällen ins Zivil- und nicht ins Strafrecht«, sagt Andreas Engelmann von der Vereinigung Demokratischer Juristen und Juristinnen (VDJ) der Jungle World. Auch sei die »Tat« des Schwarzfahrens »weder sozial besonders schädlich, noch ist sie unerträglich für das soziale Miteinander«, was rechtfertigen könnte, sie als Straftat zu behandeln. Er findet: Das Gesetz bestrafe einseitig arme Menschen und gehöre deshalb gestrichen.

Immerhin wurde Ende 2022 die Haftzeit, die sonst exakt den jeweils festgelegten Tagessätzen der Strafe entsprach, proportional halbiert. »Das ist aber natürlich nicht die Lösung«, so Manuel Matzke. Clara Bünger hat schon diverse parlamentarische Initiativen zur Entkriminalisierung von Delikten wie Schwarzfahren oder »Containern« in den Bundestag eingebracht, zuletzt im Juni 2023. Auf den Druck ihrer Partei hin gab es auch eine Anhörung im Bundestag.

Umso mehr begrüßt es Bünger, dass sich nun auch Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) der Sache annehmen möchte. Im vergangenen November hatte Buschmann angekündigt, das Strafgesetzbuch zu entrümpeln und den Gegenstand des Paragraphen 265a zukünftig nur noch als Ordnungswidrigkeit zu ahnden.

Einige Städte wollen Fahren ohne Fahrschein nicht mehr ahnden

Doch gab es sofort harsche Kritik. Der Deutsche Richterbund warnte davor, die Beförderungserschleichung zu einer Ordnungswidrigkeit herabzustufen. »Dies wäre unpraktikabel, da dann eine Behörde geschaffen werden müsste, um die Einhaltung der zivilrechtlichen Vorgaben zu kontrollieren und Verstöße durch Bußgeldbescheide zu sanktionieren«, so der Richterbund in einer Presseerklärung. Außerdem bliebe »das Problem, dass im Wesentlichen Menschen mit Bußgeldern belegt würden, die sie aufgrund ihres niedrigen Einkommens ohnehin nicht bezahlen können«. Und die dann wieder im Gefängnis landen. Deshalb plädiert der Richterbund dafür, »dass einfache Besteigen von Bussen oder S-Bahnen ohne gültiges Ticket« von Strafverfolgung und Bußgeldbescheiden zu befreien.

Einige Städte wie Bremerhaven, Bremen, Münster und Köln haben sich bereits entschieden, das Fahren ohne Fahrschein einfach nicht mehr zu ahnden. In Bremen seien von Anfang 2022 und bis September 2023 insgesamt 163 Hafttage als Ersatzfreiheitsstrafe fürs Schwarzfahren vollstreckt worden, teilte die Stadt auf Anfrage des Weser-Kuriers mit. Daraus hätten sich Kosten von mindestens 32.000 Euro ergeben. »Damit hätte man den wenigen Personen, die wiederholt ohne Fahrschein erwischt werden, nicht nur ein Ticket spendieren können«, sagt der verkehrspolitische Sprecher der Linksfraktion, Tim Sültenfuß, auch »Präventionsangebote sind günstiger und zielführender« – die Betroffenen seien meistens sehr arm und häufig psychisch krank oder suchtkrank.

Clara Bünger von der Linkspartei fordert einen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr für alle.

Eine andere Möglichkeit, die Zahl der wegen Schwarzfahrens Verurteilten zumindest zu senken, wäre ein günstiger öffentlicher Nahverkehr. Im Jahr 2022 waren die Verurteilungen zu Paragraph 265a im Vergleich zum Vorjahr merklich gesunken. Das berichtete Legal Tribune Online auf Basis vorläufiger Zahlen des Statistischen Bundesamts. Vermutlich lag das daran, dass man im Sommer 2022 kurzzeitig mit dem Neun-Euro-Monatsticket überall in Deutschland den öffentlichen Nahverkehr nutzen konnte.

Derzeit geht das mit dem Deutschlandticket, das jedoch 49 Euro im Monat kostet. In Berlin, wo eine Koalition von CDU und SPD regiert, soll ab Juli ein 29-Euro-Monatsticket eingeführt werden, vor allem auf Betreiben der SPD. Die Grünen sehen das allerdings kritisch. Mit dem Ticket kann man nur in den zu Berlin gehörenden Bereichen des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg fahren. »Viel sinnvoller wäre es, das Deutschlandticket für bestimmte Gruppen auf 29 Euro zu rabattieren«, so Oda Hassepaß, die verkehrspolitische Sprecherin der Berliner Grünen zur Jungle World. Denn Berlin müsse ohnehin in den Topf für das Deutschlandticket einzahlen. Für Ärmere könnten sich die Grünen ein Ticket für neun Euro vorstellen.

Clara Bünger von der Linkspartei geht all das nicht weit genug – sie fordert einen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr für alle. Ganz kostenlos müsse es nicht sein, meint dagegen Christin Bach. Mit neun Euro pro Monat könne sie gut leben. »Ich hatte mir damals auch das Neun-Euro-Ticket gekauft. Den Betrag kann man immer irgendwie zusammenkriegen«, sagt sie. Allerdings hatte sie kaum Gelegenheit, damit zu fahren – als es galt, musste sie ihre Haftzeit antreten.