Jasna ­Causevic, Gesellschaft für bedrohte Völker, im Gespräch über den Genozid von Srebrenica

»Die Resolution ist ein Weckruf«

Eine UN-Resolution soll auf Betreiben Deutschlands und Ruandas einen Gedenktag für den Völkermord von Srebrenica in Bosnien und Herzegowina initiieren. Der finale Entwurf der Resolution wurde am 2. Mai veröffentlicht, im Laufe des Monats soll die UN-General­vollversammlung darüber abstimmen. Am 11. Juli 1995 ermordeten bosnisch-serbische Truppen innerhalb weniger Tage mehr als 8.300 muslimische Bosniaken, denen die Vereinten Nationen eigentlich Schutz versprochen hatten. Viele Serben empören sich über die Resolution und weigern sich, den Völkermord anzuerkennen. Ein Gespräch mit Jasna Causevic von der NGO Gesellschaft für bedrohte Völker.
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Eine in die UN-Generalversammlung eingebrachte Resolution setzt sich dafür ein, dass der 11. Juli weltweit als offizieller Gedenktag für die Opfer des Genozids im Jahr 1995 in Srebrenica anerkannt wird. Was bedeutet dieser Gedenktag für die Erinnerung an die systematische Ermordung von mehr als 8.300 muslimischen Bosniaken durch bosnisch-serbische Truppen?
Es ist sehr wichtig, dass der 11. Juli zum »Internationalen Tag des Gedenkens und der Reflexion« – so lautet der offizielle Titel in der Resolution – gemacht wird. Die Resolution hebt die Bedeutung der Aufarbeitung und Versöhnung hervor. Nur so kann die junge Generation Bosnien und Herzegowinas aus der Gefangenschaft der Vergangenheit gerettet werden. Die Resolution wirkt auch der Leugnung des Genozids von Srebrenica entgegen.

In der Republika Srpska, dem serbisch regierten Teil Bosnien-Herzegowinas, in dem Srebrenica liegt, und in Serbien gibt es eine lange Tradition der Leugnung. Serbische Nationalisten sehen verurteilte Kriegsverbrecher nach wie vor als »nationale Befreier« und die Serben als Opfer einer erfundenen »muslimischen Aggression«.
Die Leugnung des Genozids von Srebrenica geht mit einer Retraumatisierung von Betroffenen einher: Überlebende und Angehörige befürchten das Schlimmste nochmal – dass sie erneut zum Opfer des serbischen Nationalismus und Chauvinismus werden.

Wie reagierten die Menschen in der Republika Srpska im Osten und Norden Bosniens auf die vorgeschlagene Resolution?
Die Reaktion in der Republika Srpska ist beängstigend. Mit einer Eskalation der nationalistischen Rhetorik, Hysterie und Hassrede soll die Resolution verhindert werden. Zur Unterstützung reisten auch Politiker aus Serbien an und hielten gemeinsam mit den Politikern der Republika Srpska Versammlungen ab. Sie missinterpretieren die Bedeutung der Resolution, sagten, es werde versucht, das serbische Volk zu brandmarken. Es kam zu bedrohlichen Aussagen, zum Beispiel dass die Resolution einen neuen Krieg verursachen werde. Das ist pure Einschüchterung.

»Die serbischen Nationalisten verwischten damals ihre Spuren, indem sie die Opfer nachträglich wieder exhumierten und an anderer Stelle erneut begruben.«

Dabei steht in der Resolution gar nicht, wer den Genozid von Srebrenica verübt hat – damit die Serben sich nicht stigmatisiert fühlen. Es wäre wichtig, die Täter klar zu benennen. Das hat selbst Serge Brammertz gesagt, der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. Denn so trifft die Schuld nicht die serbische Bevölkerung, sie kann sich von den Tätern di­stanzieren. Die Überlebenden von Srebrenica wünschen sich Aufarbeitung, dass man miteinander redet und dass die Verantwortlichen, von denen viele noch immer frei herumlaufen, zur Rechenschaft gezogen werden.

Erst vor wenigen Monaten verurteilte eine EU-Delegation in Bosnien und Herzegowina Angriffe auf bosniakische Rückkehrer in der Republika Srpska. Immer wieder kommt es dort zu Drohungen und Gewalt durch serbische Nationalisten gegen ehemals Vertriebene. Milorad Dodik, der Präsident der Republika Srpska, drohte im Falle einer Umsetzung der UN-Resolution mit Abspaltung und kündigte an, dass Zehntausende Serben zum Denkmal und dem Gräberfeld in dem nahe Srebrenica gelegenen Potočari ziehen würden. Was braucht es, um dieser nationalistischen Hetze entgegenzutreten?
In vielen Ortschaften im Osten und Norden Bosniens gab es schwere Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit. Diese Ereignisse müssen in Schulen und Universitäten objektiv dargestellt werden. Junge Menschen sollten sensibilisiert werden, um auf gefährlichen Revisionismus zu reagieren. Es gibt zahlreiche glaubwürdige Quellen, die die Geschehnisse der Vergangenheit klar belegen, und es gibt relevante rechtskräftige Urteile, wie die des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien 2001 gegen den bosnisch-serbischen Brigadegeneral Radislav Krstić und des Internationalen Gerichtshofs 2007.
Diese historischen Fakten müssen in die Lehrpläne aufgenommen werden. Auch dafür setzt sich die Resolution ein. Solange man mehrere Versionen der Geschichte Bosnien und Herzegowinas zulässt, bleibt es schwierig. Nach unseren Angaben verlassen insbesondere viele junge Menschen das Land, weil nationalistische Ressentiments und Hassrede so präsent sind. Die Angriffe auf bosniakische Rückkehrer sind eine Folge dieser kriegerischen Rhetorik.

Ihre NGO, die Gesellschaft für bedrohte Völker, wertete während des Kriegs in Bosnien und Herzegowina von 1992 bis 1995 Zeugenaussagen aus. Was genau war Ihre Aufgabe?
Während des Kriegs kamen rund 300.000 bosnische Geflüchtete nach Deutschland. Wir traten mit ihnen in Kontakt, darunter Menschen, die in Lagern interniert worden waren, oder Frauen, die systematische Vergewaltigungen überlebt hatten. Wir nahmen ihre Zeugenaussagen auf und brachten die Betroffenen mit internationalen Medien in Kontakt. So wurde schließlich das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag auf uns aufmerksam und bat uns, ihm die Aussagen zur Verfügung zu stellen. Wir begleiteten die Betroffenen nach Den Haag und hörten uns gemeinsam die Aussagen des bosnischen Serbenführers Radovan Karadžić oder des früheren bosnisch-serbischen Oberbefehlshabers der Armee, Ratko Mladić, an. Ihre Aussagen konnten wir kommentieren.

Was waren weitere Aufgaben?
Das Geschehene an die Weltöffentlichkeit zu bringen: Wir protestierten und hielten Mahnwachen ab, organisierten internationale Konferenzen und sprachen mit Politikern. Es war uns wichtig, dass alle richtig informiert sind.
Denn es war ungerecht. Ein Waffenembargo des UN-Sicherheitsrats von 1991 gegen das gesamte Jugoslawien (ab 1992 nur noch aus Serbien und Montenegro bestehend, Anm. d. Red.) wurde nicht aufgehoben. Bosnien konnte sich schlechter mit Waffen versorgen und wehren, während nationalistische Serben die ehemaligen Truppen der Jugoslawischen Volksarmee heranzogen. Dazu kamen noch die paramilitärischen Einheiten aus Serbien, die Gräueltaten begingen. Mit einer militärischen Übermacht kämpften also serbische Nationalisten gegen ein kleines Land, das 1992 seine Unabhängigkeit von Jugoslawien erklärt hatte.

Es waren vor allem die Überlebenden selbst, die sich in den Jahren nach dem Krieg für die Anerkennung dieser Kriegsverbrechen einsetzten …
Überlebende Frauen von Srebrenica und solche, die zum Opfer der systematischen Vergewaltigungen geworden waren, haben Verbände gegründet und für ihre Rechte gekämpft. Gemeinsam mit unserer Organisation hat etwa der Verband der Mütter von Srebrenica, eine Opferorganisation von Hinterbliebenen, auf ein Gesetz gegen Leugnung von Genozid und Verherrlichung von Kriegsverbrechen gedrängt, das schließlich vom damaligen Hohen Repräsentanten für Bosnien, Valentin Inzko, im Jahr 2021 eingeführt wurde.

»Nach wie vor gibt es Massengräber, die noch nicht ausgehoben wurden. Allein in der Region um Srebrenica hat man 85 Massengräber gefunden.«

Aber die internationale Staatengemeinschaft hat die Überlebenden allein gelassen. Die Frauensektion der NGO »Verein der ehemaligen Lagerinsassen – Kanton Sarajevo« musste schließen, weil die Mitglieder die Miete für ihre Räumlichkeiten nicht mehr bezahlen konnten. Man geht davon aus, dass, sobald ein Krieg vorbei ist, man sich nicht weiter um dessen Folgen kümmern muss. Aber bei den Überlebenden und Angehörigen ist das Gegenteil der Fall.

Auch die Suche nach den vielen Vermissten ist nach wie vor nicht abgeschlossen. Der Genozid von Srebrenica ist auch durch das größte forensische DNA-Identifikationsprojekt der Geschichte belegt.
Nach wie vor gibt es Massengräber, die noch nicht ausgehoben wurden. Allein in der Region um Srebrenica hat man 85 Massengräber gefunden. Die serbischen Nationalisten verwischten damals ihre Spuren, indem sie die Opfer nachträglich wieder exhumierten und an anderer Stelle erneut begruben. Deshalb liegen die Ermordeten in primären, sekundären und sogar tertiären Massengräbern. Teile, die zu einem einzigen Skelett gehören, können von vielen verschiedenen Fundstellen stammen.
Über die ehemaligen Befehlshaber der serbischen Truppen versucht man nach wie vor, die Standorte der Gräber herauszubekommen. In Tuzla im Nordosten Bosniens gibt es außerdem einen Aufbewahrungsort für menschliche Überreste, die nicht zugeordnet werden können, weil beispielsweise die Verwandtschaft fehlt. Es wird schwieriger: Fast 30 Jahre nach dem Krieg sind einige Angehörige der Ermordeten nicht mehr am Leben oder sie leben überall verstreut auf der Welt.

Der Genozid fand vor den Augen der Welt statt. Ist die geplante Resolution auch eine Anerkennung der internationalen Verantwortung?
Der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan hatte gesagt, der Genozid von Srebrenica hätte verhindert werden können. Die Resolution würde die Verpflichtung der Vereinten Nationen bekräftigen, die universellen Menschenrechte zu wahren, die Grundsätze der internationalen Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht zu verteidigen sowie Verbrechen des Völkermords zu verhindern und zu bestrafen. Die Resolution ist ein Weckruf, dass sich so etwas niemals wiederholen darf.
Während des Kriegs traten wir per Funkradio mit Menschen in den serbisch belagerten Städten in Kontakt. Am Tag vor dem Fall von Srebrenica sagte der junge bosnische Journalist Nino Ćatić: »Wenn sie uns jetzt nicht retten, sind wir alle tot.« Er ist verschwunden, man hat seine Überreste bis heute nicht gefunden. Aber die Weltöffentlichkeit wusste Bescheid. Wir haben alles genau übermittelt.

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Jasna Causevic

Jasna Causevic

Bild:
privat

Jasna Causevic ist Referentin für Genozid-Prävention und Schutzverantwortung bei der NGO Gesellschaft für bedrohte Völker, die sich für Menschenrechte und die Opfer von Verbrechen gegen die Menschheit einsetzt. Während des Kriegs in Bosnien und Herzegowina dokumentierte sie Kriegsverbrechen, wertete Zeugenaussagen aus und bereitete diese für das Internationale Kriegsverbrechertribunal in Den Haag auf.