Mauselöcher für Elefanten

Vergebliche Hoffnung: Chinas Export-Boom hat noch nicht stattgefunden

Die soziale Hoffnung in Entwicklungsländern wie China war jahrzehntelang auf das Ziel der "nationalen Befreiung" gerichtet. Doch das entwicklungspolitische Modell gilt spätestens seit Ende der achtziger Jahre als gescheitert, eine Abkoppelung unmöglich.

Aus dieser Not haben Institutionen wie IWF und Weltbank im Zeichen der neoliberalen Öffnung des Weltmarktes eine Tugend gemacht. Sie versprachen eine neue, der alten Entwicklungstheorie diametral entgegengesetzte Perspektive: Die Entwicklung sollte nicht mehr durch Import-Substitution und eine Binnen-Industrialisierung, sondern durch eine Export-Spezialisierung stattfinden. Nicht mehr ein breitgefächertes industrielles Gesamt-Ensemble war das Ziel, das von den Grundstoff-Industrien bis zur Konsumgüterproduktion alle wichtigen Sektoren enthalten und eine nationalökonomische Kohärenz garantiert sollte.

Statt dessen soll sich nun jedes Land gemäß der Theorie des Freihandels eine spezielle "Exportnische" suchen und sich nur noch auf diejenigen Produkte konzentrieren, die es mit relativ niedrigeren Kosten herstellen und für die es also "komparative Vorteile" auf dem Weltmarkt geltend machen kann.

Leider hat diese Theorie der "komparativen Vorteile" von David Ricardo (1772-1823) auch in der Vergangenheit niemals gestimmt. Sie könnte bestenfalls funktionieren, wenn es sich um einen Austausch zwischen Nationen handeln würde, die erstens den größeren Teil ihrer Reproduktion binnenökonomisch betreiben und nur relativ wenige spezielle Produkte exportieren bzw. importieren und die zweitens ungefähr das gleiche Entwicklungsniveau haben. Beides trifft für die heutige Welt weniger denn je zu. Weder haben wir es mit vergleichbaren Niveaus der Entwicklung noch mit kohärenten Nationalökonomien zu tun. Die Krise muß daher gerade die ehemaligen "Entwicklungsländer" um so härter treffen.

Die neue Unmittelbarkeit des Weltmarkts zwingt sie sukzessive, überhaupt nur noch solche Produkte herzustellen, die sie relativ billiger für den globalen Raum anbieten können, und alles andere aufzugeben. Jedes Land kann nur noch einige wenige Export-Nischen besetzen, während der Rest vom globalisierten Angebot überschwemmt und ersäuft wird. Die Länder hören auf, Länder zu sein. Sie werden zu Zonen des Weltmarkts mit unterschiedlicher Dichte. Und das heißt, daß nur noch soviel Menschen eine Möglichkeit der Existenz haben, wie die Weltmarkt-Nischen zu fassen vermögen. Das betrifft nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Unternehmer.

Selektive Export-Industrialisierung bedeutet, Nischen auf dem Weltmarkt zu besetzen. Das Wort "Nische" sagt aber schon, daß es sich dabei um einen sehr begrenzten Raum handelt. Genauer gesagt: Die "Tigerstaaten" müssen eigentlich Mäuse sein, um in die Mauselöcher der Weltwirtschaft zu passen. Deshalb gilt als Faustregel: Je kleiner ein Land ist und je weniger Bevölkerung es hat, desto mehr kann sich die betriebswirtschaftliche Strategie der Export-Nischen mit einer Konzeption für das ganze Land decken. Und umgekehrt: Je größer ein Land ist und je mehr Einwohner es hat, desto absurder muß die Option der Nischen auf dem Weltmarkt werden.

Das läßt sich absolut und relativ beweisen. Die bisherigen Superstars des Weltmarkts in Südostasien, Hongkong und Singapur, sind winzige Stadtstaaten mit weniger als drei Millionen Einwohnern. Sie haben zumindest vorläufig Platz in einem Mauseloch des Weltmarkts. Schwieriger wird es schon für Länder wie Südkorea, Taiwan oder Thailand in Asien, für Argentinien und Chile in Lateinamerika und für Polen, Tschechien oder Ungarn in Osteuropa. Diese Länder, die ungefähr zwischen 15 und 50 Millionen Einwohner haben, besitzen schon eher die Größe von Katzen als von Mäusen. Sie können daher nur noch einen Teil ihrer Menschen in der Nische plazieren. Indonesien oder Indien in Asien, Brasilien in Lateinamerika und Rußland in Osteuropa, alles Länder mit mehr als 120 Millionen Einwohnern, gleichen dagegen Elefanten, denen einen Platz im Mauseloch anzubieten nur noch lächerlich oder zynisch ist.

Es gibt aber ein Land in der Welt, bei dem die Option der Export-Nische geradezu furchterregend monströs und obszön wirkt. Dieses Land ist China. Die ungeheure Masse von heute mehr als 1 200 Millionen Menschen ist kein Elefant mehr, sondern schon ein Mammut oder gar ein Saurier. Was muß geschehen, wenn man diesem Riesen einen komfortablen Platz in einem Mauseloch anbietet? Die neoliberalen Ideologen des Freihandels sind verrückt genug, in aller Unschuld dieses Angebot zu machen. Und die chinesische Regierung hat in der vergangenen Dekade tatsächlich versucht, zur Strategie der Export-Industrialisierung überzugehen.

In den südlichen Küstenprovinzen wurden "Sonderwirtschaftszonen" wie Shenzhen eingerichtet, die man für ausländische Investoren durch Steuervergünstigungen, Billiglohn und Verzicht auf soziale oder ökologische Auflagen attraktiv gemacht hat. Dort werden unter frühkapitalistischen Bedingungen hauptsächlich Komponenten für globalisierte Konzerne aus Japan, aus Hongkong oder aus westlichen Ländern gefertigt. Die Arbeiter sind kaserniert und werden wie Sträflinge gehalten, die Arbeitszeiten sind extrem lang, es gibt fast keine Sicherheitsvorkehrungen. Immer wieder werden schwere Unfälle und Brandkatastrophen gemeldet.

Trotz derart brutaler Bedingungen können die Sektoren der Export-Industrialisierung selbst im günstigsten Fall maximal 200 Millionen Menschen erfassen. Gleichzeitig ist es aber längerfristig unmöglich, daß China einerseits auf die Weltmärkte drängt und andererseits den größeren Teil seiner Reproduktion weiterhin abschottet. Das gilt vor allem auch für das gesamte Geld- und Kreditsystem und für den Wechselkurs. Export-Industrialisierung ist auf Dauer nur möglich, wenn die Währung konvertibel ist. Eine konvertible Währung wiederum verlangt, daß die Geldmenge unter Kontrolle bleibt und Kredite nur nach den Regeln der Rentabilität vergeben werden.

Das hat schwerwiegende Konsequenzen für die Binnenökonomie. Der größte Teil der mehr als zwei Millionen chinesischen Staatsbetriebe mit 150 Millionen Beschäftigten muß geschlossen werden. Auch die nach globalen Kriterien unterproduktive Landwirtschaft, von der die überwältigende Mehrheit der Chinesen lebt, ist damit dem Untergang geweiht. Um diese Konsequenzen zu vermeiden, ging die chinesische Administration zu einer doppelten Buchführung über. Nicht nur verschiedene Wechselkurse der Währung, sondern auch verschiedene Formen der statistischen Erhebung laufen nebeneinander her. Die in aller Welt bestaunten hohen Wachstumsraten setzen sich aus qualitativ völlig verschiedenen Bestandteilen zusammen. Sie enthalten nicht nur das reelle Wachstum der Exportsektoren, sondern auch das bloß fiktive Wachstum großer Teile der Binnenökonomie, die nur noch am Tropf der staatlichen Notenpresse hängen.

Während man im Westen China zum Träger des großen Booms für das 21. Jahrhundert hochjubelt, ist die reale Lage längst kritisch geworden. Nach Angaben der amtlichen Agentur Xinhua gab es bereits 1995 über 230 Millionen Arbeitslose, mehr als 25 Prozent der Erwerbsbevölkerung. 150 Millionen Menschen irren auf der Suche nach Einkommen durch das Land. Die Inflation hat für viele sogar die Grundnahrungsmittel unerschwinglich gemacht.

Irgendwann wird die doppelte Buchführung ganz zusammenbrechen. Will die chinesische Regierung dann 1 000 Millionen Menschen erklären, daß sie marktwirtschaftlich "überflüssig" sind? An zahlreichen Orten lieferten sich aufständische Bauern Feuergefechte mit Polizei und Militär. Die Küstenprovinzen zahlen schon lange keine Steuern mehr an die Zentrale. Experten vom Londoner Institut für Internationale Studien befürchten, daß China bald in Bürgerkriegen auseinanderbrechen wird.

Das Land des Traums vom großen Boom könnte zum Katastrophen-Modell der Export-Industrialisierung werden.