Die japanische Zwickmühle

Szenarien für das Harakiri des globalen Finanzsystems.

Die Räume werden eng auf dem Spielfeld des Weltmarkts. Das von einer neuen Qualität der Rationalisierung erzwungene Abschmelzen der Arbeitssubstanz führt zu einer abgehobenen Scheinakkumulation des "fiktiven Kapitals" (Marx) auf den Finanzmärkten, die nicht mehr zyklisch begrenzt ist, sondern seit Mitte der achtziger Jahre strukturellen Charakter angenommen hat.

In dieser Transformation wurde das Verhältnis von Realökonomie und Finanzüberbau auf den Kopf gestellt: Die Liquidität ist nicht mehr der Geldausdruck der Realakkumulation, vielmehr erscheint umgekehrt die reale Güterproduktion nur noch als Anhängsel einer geisterhaften Selbstbewegung des Geldkapitals (shareholder value). Ist dieser Prozeß auch im gesamten Weltsystem zu beobachten, so hat er doch wie alle kapitalistischen Entwicklungsstufen einen regionalen Schwerpunkt ausgebildet. Das Sturmzentrum des Kasino-Kapitalismus ist das pazifische Becken.

Auf der einen Seite befindet sich die Weltmacht-Ökonomie der USA. Zwar hat ihr weltpolizeilicher Militärapparat den USA eine so schwere unproduktive Last aufgebürdet, daß ihre ökonomische Führungsrolle längst in Frage gestellt ist. Aber eben aufgrund dieser politisch-militärischen Position blieb der US-Dollar das "Weltgeld" als primäre Handels- und Reservewährung. Das bedeutet, daß sich die USA als einziges Land in ihrer eigenen Währung bei anderen Staaten "irregulär" verschulden konnten, weil sie nicht entsprechend Devisen durch Exporte verdienen müssen.

So konnte die Reagan-Administration in den achtziger Jahren trotz der extrem niedrigen US-Sparquote die Sowjetunion mittels Auslandsanleihen durch einen monströsen Militär-Keynesianismus totrüsten. Gleichzeitig häufte die "letzte Weltmacht" historisch beispiellose Handelsdefizite an. Mittlerweile hat nahezu die ganze Welt Überschüsse gegenüber den USA. Im Grunde ist es dieses permanente Ansaugen der Warenströme und des überschüssigen Geldkapitals durch die US-Ökonomie, das seit 15 Jahren auf der Basis von Dollar-Verschuldung die Weltwirtschaft heizt und realökonomisches Wachstum simuliert.

Auf der anderen Seite des Stillen Ozeans war es Japan, das über die "pazifische Einbahnstraße" zum Hauptlieferanten der US-Defizitkünstler aufstieg und sich somit durch die US-Schuldverschreibungen reich rechnen konnte. Rückgekoppelt wurde der pazifische Defizitkreislauf, indem die Japaner einen erheblichen Teil ihrer Exportgewinne in US-Staatsanleihen anlegten: Die Dollarverschuldung wurde mit Dollarschulden gefüttert, eine Münchhausiade, wie sie im Buche steht.

Auf dieses absurde Konstrukt sattelte die Nippon AG einen seinerseits wieder kreditfinanzierten Spekulationsboom durch die exorbitante Steigerung der Immobilienpreise und Aktienkurse auf, der alle Kasino-Kapitalismen in den Schatten stellte. Das derart doppelt und dreifach reich gerechnete Japan wurde zum größten Netto-Exporteur von Geldkapital und zum globalen Großfinanzier.

Aber die total überzogene Blähung des japanischen Finanzmarktes führte zwangsläufig zum großen Aktien- und Immobiliencrash: 1990 brach der Nikkei-Index um mehr als die Hälfte ein und hat sich nie mehr erholt. Japan war de facto pleite, und es drohte der Notverkauf der US-Anleihen, was das pazifische Gesamtkunstwerk und in der Folge die Weltwirtschaft in die Luft gejagt hätte.

Die Japaner verfielen auf einen prekären Ausweg, den die mafiotischen Strukturen ihrer Wirtschaft ihnen nahelegten: Die durch Zins und Zinseszins weiterwuchernden faulen Kredite (mittlerweile in der Größenordnung des gesamten Sozialprodukts) wurden in Auffanggesellschaften "geparkt" und ticken seitdem als Zeitbombe. Trotzdem erhielt sich Japan die "Lizenz zum Gelddrucken", indem die Leitzinsen nahezu auf Null gesenkt wurden, um zum Nulltarif "geschöpfte" Yen in relativ hochverzinsliche Dollaranlagen zu pumpen. Auf diese Weise versorgte Japan, obwohl eigentlich bankrott, die simulationskapitalistische Welt munter weiter mit sprudelnder Liquidität, während die Last der faulen Kredite die eigene Konjunktur abwürgte. Es entstand das Paradox einer rezessiven Wirtschaft mit Nullzinsniveau, die gleichzeitig die Welt mit Liquidität überschwemmt.

In diesem grandiosen Kontext folgten alsbald die Tigerländer Japans Spuren und gingen in ihrer - auf das "schwarze Loch" der US-Defizite ausgerichteten - Exportindustrialisierung von der Leichtindustrie zur High-Tech-Produktion über. Im Unterschied zu Japan beherrschen sie aber bis heute nur einen Bruchteil der technologischen Fertigungstiefe und müssen die wichtigsten Komponenten mittels Außenverschuldung importieren - und zwar hauptsächlich aus Japan, das auf diese Weise über die Tiger einen zweiten, sekundären Defizitkreislauf eröffnete.

Wie wenig der Tigerboom mit einem regulären Exportgewinn zu tun hatte, läßt sich daran ablesen, daß fast ohne eigene Produktivitätssteigerung im Baukastensystem eine Exportfabrik an die andere gereiht wurde, deren Vorteile zunächst nur im Billiglohn und in heruntermanipulierten Wechselkursen bestanden. Trotz der noch viel brüchigeren Grundlage übertrafen die Tiger ihren außenwirtschaftlichen Scheinerfolg noch durch einen Spekulationsboom bei Immobilien und Aktien wie zuvor Japan.

Die Folgen konnten nicht ausbleiben. Der Vorteil der Billiglöhne verschwand, weil das extensive Wachstum die Arbeitsmärkte rasch ausgeschöpft hatte. Und ebenso schnell mußten die Wechselkurse durch Anbindung an den US-Dollar nunmehr umgekehrt nach oben manipuliert werden, um das ausländische (vor allem japanische) Geldkapital zur Finanzierung der Importe von High-Tech-Maschinen und Vorprodukten anzulocken.

Schon 1996 brachen daher die Gewinne der Exportindustrialisierung dramatisch ein. 1997 folgten der Zusammenbruch der Wechselkurse sowie der Aktienmärkte und die panische Flucht des Auslandskapitals. Binnen weniger Monate entpuppte sich eine faul gewordene Verschuldung der Tiger in Höhe von mehreren hundert Prozent des Sozialprodukts. Da es sich der Form nach größtenteils um Außenschulden bei Japan handelte und die Tiger ihre Zinsen in der Krise massiv erhöhen mußten, ist ein temporäres Wegmanipulieren des Crashs wie seit 1990 in Japan unmöglich. Für Japan kommt somit zu der tickenden heimischen Zeitbombe der akute Kreditnotfall aus dem regionalen Umfeld in ähnlicher Größenordnung hinzu. Der binnenasiatische Defizitkreislauf droht zu kollabieren und damit auch der große pazifische, trotz der verzweifelten Hilfsaktionen des IWF.

Gleichzeitig geht peinlicherweise die japanische "Lizenz zum Gelddrucken" zu Ende. Weil die zum Nulltarif geschöpften Yen nicht binnenökonomisch investiert, sondern permanent gegen US-Dollars getauscht und im internationalen Finanzüberbau angelegt werden, verfällt seit 1995 der Wechselkurs des Yen gegenüber dem Dollar. Das bedeutet eine Inflationierung der Importpreise, was Japan wegen seiner Energie- und Rohstoffabhängigkeit besonders hart trifft und die Rezession der Binnenökonomie verschärft. Vor allem aber macht die Verteuerung des Dollar sukzessive das Ausnutzen des Zinsgefälles unmöglich.

Bei einem weiteren Wechselkursverfall des Yen wird ein asiatischer Abwertungswettlauf durch den rasanten Anstieg der Importpreise und das Versiegen des Zuflusses von Geldkapital ganz Asien unter Einschluß von China mit unabsehbaren Folgen ruinieren, während durch denselben Mechanismus die japanische Liquiditätspumpe für das kasinokapitalistische Weltsystem versagen muß. Steuert Japan aber durch die längst überfällige Erhöhung seiner Zinsen dagegen, dann würgt es nicht nur seine Binnenkonjunktur endgültig ab, sondern erstickt auch an den plötzlich steigenden Kosten für seine versteckten faulen Kredite, während die "Lizenz zum Gelddrucken" durch das Verschwinden des Zinsgefälles zu den USA erst recht aufgehoben wird.

Wie es scheint, ist der pazifische Defizitkreislauf ausgereizt. Es ist absehbar, daß die Mittel des IWF für die Bewältigung der Tigerkrise nicht ausreichen. Die gegenwärtigen Stützungskäufe der Notenbanken zur Stabilisierung des Yen können nur begrenzte Zeit durchgehalten werden.

In einer ausweglosen Zwickmühle befindet sich die japanische Regierung: Obwohl schon ein gutes Dutzend Konjunkturprogramme zu einer Rekordverschuldung des Staates geführt und trotzdem nichts bewirkt haben, wird nicht nur ein weiteres Paket angekündigt, sondern auch ein neues staatliches Auffangprogramm für die faulen Kredite - und gleichzeitig sollen die Steuern gesenkt werden! Die Quadratur des Kreises wäre eine leichte Übung dagegen.

So taucht abermals und viel unabweisbarer als 1990 die Gefahr des japanischen Notverkaufs jener riesigen Masse von US-Anleihen auf, die den Hintergrund des gesamten Kasinokapitalismus und seiner globalen Scheinakkumulation bilden. Auf die Dauer ist der Kapitalismus vielleicht doch nicht schlau genug, sich selbst zu überlisten.