Tapes über Telefon

Die ehemaligen Radio 100-Aktivisten Harald Asel und Gregor Schuster erinnern sich an den ersten Privatsender Berlins

Ende der Achtziger konnte, wer wollte, in Berlin und Umgebung ein ungewöhnliches Radioprogramm empfangen: Radio 100 war der Hörfunk der Anti-Berliner. Studenten, Frauen-, Ausländergruppen, Schwule und Lesben, anarchistische Jugendliche, Linksradikale, Punkmusiker, Avantgardisten, aber auch Popper, Ökologen und Bürgerrechtler bestimmten das Programm des ersten Privatsenders der Stadt. 1991 reichte der Geschäftsführer Thomas Thimme den Konkurs ein. Der frühere Medienreferent der Grünen wechselte in die Führungsriege des Hitsenders Radio Energy, der die Frequenz übernahm, und später in die von Ulrich Schamonis TV-Kanal 1 A.

Harald Asel und Gregor Schuster waren ständige Mitarbeiter von Radio 100. Beide sind heute beim öffentlich-rechtlichen Berliner Info Radio beschäftigt und gehören damit zu den vielen Funkaktivisten von damals, die inzwischen für große Anstalten arbeiten.

Nach dem Ende von Radio 100 kam ein merkwürdiger Begriff auf: Was sind "Ätherhuren"?

Gregor Schuster: Das sind Menschen, die das Ausbildungsprojekt Radio 100 erfolgreich durchlaufen haben und jetzt mit diesem Beruf Geld verdienen.

Hermann L. Gremliza hat einmal über die taz gesagt, sie sei das ausgelagerte Volontariat der Bürgerpresse.

Harald Asel: Man muß wissen, daß man sich in der Branche immer prostituiert. Es kommt darauf an, auf welchem Niveau man das tut. Viele von denen, die bei Radio 100 angefangen haben, wollten nicht einfach nur Radio machen. Sie wollten etwas vermitteln. Das erkennt man noch heute an der Art, wie sie Themen auswählen und an Themen herangehen.

Vermißt Ihr etwas von damals in Eurer heutigen Arbeit?

Asel: Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und in der Medienlandschaft insgesamt wird nicht ausgereizt, was man im Medium machen kann. Ich finde den Hörfunk heute, von ein paar Nischen abgesehen, wenig radiophon. Zu Radio 100-Zeiten waren die Hörer bereit, ins Offene, Unbekannte zu gehen. Heute dagegen gibt es ein starkes Sicherungsbedürfnis. Das hat etwas mit der gesellschaftlichen Situation zu tun. Es wäre heute sehr schwer, für ein so buntes Programm von Experimentalmusik über die Discoschnulzen im Schwulen- und Lesbenprogramm bis hin zu Hardcore-Trikont-Berichterstattung Hörer zu finden.

Schuster: Man kann es sich schon gar nicht mehr vorstellen, wie das funktioniert hat - so viele unterschiedliche Gruppen, die ganze Offenheit.

In anderen Städten läuft das ja noch. Gibt es das Publikum in Berlin nicht mehr?

Schuster: Würde ich nicht sagen.

Asel: Radio 100 war ein westberliner Kind der achtziger Jahre. Wir haben damals so viel gesendet, als die Mauer gefallen ist, wir haben gar nicht bemerkt, daß sich da um uns herum etwas verschoben hat. Wir haben uns nicht um ewige Wahrheiten gekümmert, sondern um Aktionen, um eine bestimmte Art zu leben. Dann machte Randale Spaß - ein großes Ereignis bei Radio 100 war die Berichterstattung vom 1. Mai 1987.

Es ging darum, seinen Lebensentwurf zu reflektieren und zu vergleichen mit den Lebensentwürfen anderer. Das spüre ich heute nicht mehr.

Was verloren gegangen ist - das Stichwort "Radiophonie" ist gefallen, man könnte auch vom "souveränen Medium" sprechen -, ist also zumindest eine formale Offenheit, eine gewisse Experimentierlust.

Schuster: Die finde ich, wenn ich Radio höre, nur noch in Ansätzen. Es gab auf Sputnik bis vor etwa einem Jahr noch solche Ansätze, auf Fritz, in manchen Hörspielen oder späten Kultursendungen. Aber ich kann kein Programm empfangen, wo 24 Stunden Radioexperiment stattfindet.

Schon das Radio 100-Experiment war auf den Abend beschränkt, das Tagesprogramm hingegen blieb orientiert an der klassischen Magazinform, an der Form der Öffentlich-Rechtlichen.

Asel: Das hat damit zu tun, in welche Situation wir im Sommer 1989 gekommen sind. Wir haben 1987 vier Stunden gesendet, später sechs Stunden, ab 17 Uhr, da war man für die Werbewirtschaft nicht sonderlich interessant. Nachdem im Sommer 1989 der Sender, der die restlichen Stunden füllte - Radio in Berlin, später Hit 103 -, aufgegeben hatte, gab es nur die Möglichkeit, auf die Vollfrequenz zu gehen, auf 24 Stunden. Damit begann eine Art strategischer Überdehnung. Sowohl in der Kernredaktion, die aus sieben Mitgliedern bestand, als auch auf der Ebene der Gesellschafter war alles auf Konsens ausgelegt. In der neuen Situation mußte man jedoch sehr schnell reagieren, was mit dieser Art der Entscheidungsfindung nicht so einfach war.

Der ökonomische Druck wurde dadurch erhöht, daß Radio 100 ab diesem Zeitpunkt mehr Geld einspielen mußte. Wären aber nicht andere Modelle denkbar gewesen - die Finanzierung durch Sponsoren oder Abonnenten?

Schuster: Das wurde durchaus versucht. Kurz vor dem Konkurs wurden große Erfolge mit Benefizveranstaltungen erzielt. So funktioniert das übrigens bei vielen Radios in den USA. Aber das kostet natürlich viel Arbeit, es brauchte eine Zeit, bis etwas ins Rollen kam. Als endlich etwas geschah, reichte der Geschäftsführer den Konkurs ein, was er genausogut drei Jahre früher hätte machen können.

Asel: Ein aktuelles Hörfunkprogramm kann man nicht auf der Basis eines Abonnenten-Systems machen. Aber man hätte sich ja nicht dafür entscheiden müssen, eine Art taz im Hörfunk einzurichten, eine, die auch noch jeden Winkelzug des Berliner Senats mit Mikrophon und Kommentar begleitet. Das sehe ich im heute als falsch an. Man hätte erklären müssen: Wir machen eine andere Art von Radio und verzichten an bestimmten Punkten auf Aktualität, weil wir es uns nicht leisten können.

Und doch besaß Radio 100 einen hohen Neuigkeitswert: In bestimmten Auseinandersetzungen, die heute Geschichte sind - Straßenkämpfe, Reagan-Besuch, Lenné-Dreieck - hatten wir eine Scharnierfunktion zwischen, sagen wir, auf der einen Seite den Innensenator von der SPD, auf der anderen Seite autonome Gruppen, die uns Informationen anvertraut haben. Polizei und Verfassungsschutz haben uns intensiv gehört ...

Schuster: ... auch die Stasi. Ich habe mal eine Frau kennengelernt, die mußte ein halbes Jahr lang jeden Tag ein paar Stunden Radio 100 mitschneiden.

Als Radio 100 auf der Suche nach neuen Gesellschaftern war, haben sich zwei Fraktionen herausgebildet: kompromißbereit die eine, bewahrend die andere.

Schuster: Es gab immer die Betonfraktion um "Welt am Draht" (eine aktuelle Magazinsendung auf Radio 100; d.Red.) und zum anderen eine Gruppe, die sich aktiv um Gelder bemüht hat. Ich hatte das Gefühl, daß diese Gruppen gar nicht mehr so viel miteinander zu tun hatten.

Asel: Es gab Leute, die auf diese neuen Gesellschafter gehofft haben und die das, was sie unter der Professionalisierung ihrer Arbeit verstanden, durch sie abgesichert sehen wollten. Im nachhinein halte ich das für legitim.

Wenn man aber heute Radio Energy, das sich damals an Radio 100 beteiligen wollte und am Ende auch die Frequenz übernommen hat, hört...

Schuster: Bei Radio Energy war es mir damals schon klar, daß es in diese kommerzielle Richtung laufen muß. Ich habe nur lachen können, als einige Radio 100-Mitarbeiter Radio Energy auch noch die Legitimation gegeben haben, indem sie in der Anfangszeit dort arbeiteten. Aber es gab damals auch andere Optionen. Es wurden zum Beispiel Gespräche mit dem Elefanten-Press-Herausgeber Schmidt & Partner geführt...

Das hätte sicher auch schlimm geendet. Wie liefen die Verhandlungen mit dem Linksrheinischen Rundfunk?

Asel: Mit dem hatten wir zu Beginn ganz schlechte Erfahrungen gemacht. Der Linksrheinische Rundfunk gehörte mit Neues Radio Berlin und anderen zu den Gründungsgesellschaftern 1987. Er versuchte, ein sozialdemokratisch-pragmatisches Programm durchzusetzen. Das führte im Sommer 1987 zu einem Streik der Redaktion gegen ihre Gesellschafter. Man sieht, wie breit die Bündnisse bereits am Anfang waren, um überhaupt an die Sendelizenz zu kommen. Radio 100 hat wohl nur deshalb überhaupt eine Lizenz bekommen, um anderen privaten Anwärtern, vor allem 100,6 von Schamoni selig, den Weg zu ebnen.

Schuster: Wir waren das Feigenblatt.

Asel: In den Verhandlungen beharrte der Großteil der Redaktion auf einem emanzipatorischen Ansatz. Wir waren der Meinung, daß Probleme der Darstellung den Sachproblemen nicht äußerlich sind: In einem kurzen Stakkato kann man die Probleme dieser Stadt nur denen darstellen, denen sie ohnehin schon klar sind. Dieser pädagogische Ansatz hat uns getrieben. Auf ein strenges Format wollten wir uns deshalb nicht einlassen. Da wurde uns bedeutet, daß derjenige, der unsere Schulden bezahlt, auch die Entscheidungen fällt. Aber wenn ein Programm gewachsen ist, wenn Leute einen Sender selbst verwaltet haben, dann sagen sie zu Recht: "Warum sollen wir nun einen, der mit einem Batzen Geld ankommt, bestimmen lassen, wer hier bleiben darf und wer nicht?" Die Leute, die geglaubt haben, daß sie bleiben werden, haben sich natürlich leichter auf die Positionen der Verhandlungspartner eingelassen.

Schuster: Wir waren so sehr mit Radiomachen beschäftigt, daß es uns völlig entgangen ist, in welche Richtung das lief. Das bot Thomas Thimme die Möglichkeit, das Steuer rumzureißen. Es ist uns entglitten.

Asel: Wir haben später erfahren, daß schon Ende 1987 das Radio bankrott war.

Um seine finanziellen Schwierigkeiten zu meistern, hat Radio 100 auch Werbung zugelassen.

Asel: Das hat uns viel Kritik von den Freien Radios in Westdeutschland eingetragen. Dabei hat Radio 100 sehr originelle Clips produziert. Ich vermisse solche Werbesendungen heute in Berlin. Damals wurden Debatten geführt, die heute niemand mehr verstehen kann, etwa darüber, ob Mercedes Benz bei uns Werbung schalten darf oder nicht. Entsprechend wurde damals in der Szene gefragt: "Dürfen wir Staatsknete annehmen?" Heute schreit jedes Projekt auf, dem eine ABM-Stelle gekürzt wird. Ich weiß nicht, ob wir damals auf dem richtigen Weg waren. Aber unser Umgehen damit hatte vielleicht auch mit einer größeren Unabhängigkeit im Kopf zu tun.

Welchen Anteil hatte die Werbung am Gesamtetat?

Asel: Das meiste waren Kompensationsgeschäfte. Das Geld kam von den Gesellschaftern ...

Schuster: ... und von den nicht gezahlten Löhnen. Einige haben bespieltes Bandmaterial aus den Funkhäusern, in denen sie gearbeitet haben, mitgebracht. Das wurde dann recycelt.

Asel: So haben wir schneiden gelernt. Das gehörte zur harten Schule von Radio 100. Wir sind nicht im radiophonen Wohlstand großgeworden. Wir mußten die Sendungen selber fahren und oft auch noch obervoicen, wenn ein Techniker nicht gekommen war.

Habt Ihr Euch manchmal gefragt, wer den Sender hört?

Schuster: Ich kenne viele Leute, die Radio 100 gehört haben. In der Graefestraße bin ich mal in einen Copy-Shop gegangen. Da lief Radio 100 wie immer. über das Radio kam die Nachricht: "Die Mainzer Straße wird geräumt." Der Copy-Laden wurde daraufhin geschlossen und wir sind gemeinsam zur Mainzer Straße gefahren.

Asel: Im Rückblick verklärt sich vieles, aber das Programm hatte eine Funktion. Zum Beispiel bis zum November 1989 für die Menschen auf der anderen Seite. Zwei Stunden nach der Maueröffnung waren die ersten Ostberliner Radio 100-Hörer bei uns im Sender.

Ich habe einen Mann in Zittau getroffen, der regelmäßig Cassettenmitschnitte von "Radio Glasnost", der Bürgerrechtler-Sendung auf Radio 100, gehört hatte. Ich war entsetzt über seine nationalen Vorstellungen. Gab es in der Redaktion Diskussionen über diese Sendereihe?

Asel: Aber da ist ja nicht zur deutschen Einheit aufgerufen worden. Das hätte zu massiven Protesten geführt. Es gab eine sehr hohe Diskussionsbereitschaft, wenn ein nationalistischer, rassistischer oder sexistischer Hintergrund vermutet wurde. Einem mißfiel schon die Werbung für Erdinger Weißbier: "Deutschland ist schön. Seine Wiesen, seine Felder ..."

Gab es eine Sendung, die Euch gar nicht gepaßt hat?

Asel: Es gab manchmal Moderatoren, die am Rande der Sprachlosigkeit, betrunken und bekifft, im Studio waren. Einmal mußte ich den Mitschnitt einer solchen Nacht anhören ...

Schuster: An die Sendung erinnere ich mich noch sehr gerne.

Zu den Highlights gehörte sicher "Nikos Sauerbraten", die Kochsendung mit Niko Tenten.

Schuster: Ein Vater und sein Sohn, die diese Sendereihe schon länger verfolgt hatten, kamen nach der Wende aus dem Osten angereist und waren dann ganz enttäuscht, daß nicht im Studio gekocht wurde.

Das habe ich damals auch geglaubt. Was wird Euch in Erinnerung bleiben?

Asel: Zu meiner ersten Live-Sendung war ich mit einer Theaterkritik ins Studio gekommen und erfuhr, daß der Moderator eine Stunde zuvor mit einem Nervenzusammenbruch den Sender verlassen habe. Wenn ich wolle, könne ich aber zwischen den Musikstücken was sagen.

Schuster: An einem Abend war ich für die Technik zuständig und die Moderatorin war nicht erschienen. Es stellte sich heraus, daß sie keine Lust hatte zu kommen und zu Hause in der Badewanne lag. Da hat sie schließlich die Sendung aus der Badewanne moderiert und sogar Tapes über das Telefon eingespielt.