Radio Days

Zauberwort Pluralität

Über die Ausrichtung Freier Radios entscheiden ihre Mitglieder - und die Landesmedienanstalten

Der Rausch des Sendestarts war noch nicht verflogen, da witterte das Schwäbische Tagblatt schon den ersten Skandal im Hause Wüste Welle: Zensur im Freien Radio!

Was war geschehen? Der Moderator einer Comedy-Show hatte seinen Sendeplatz verloren, weil das Redaktionsplenum, die Vertretung aller RadiomacherInnen, seine Witze für unvereinbar mit den Prinzipien Freier Radios hielt. Für das Tübinger Blatt gehörten die "paar unverbindlichen Blondinen- und Behindertenwitze" zum "professional entertaining" und die Wüste Welle in die Schublade mit der Aufschrift Intoleranz.

Die Wogen haben sich inzwischen geglättet, aber noch immer versuchen die verschiedensten Gruppen, mit dem Ruf nach Toleranz einen Sendeplatz zu ergattern. Nach dem Motto "Laß mich doch machen, ich will ja auch nichts von dir" sollen ihre neuesten CDs und mehr oder weniger neue Erkenntnisse in den Äther gestreut werden. Bei den Stuttgarter "Freien" hatte gar in den ersten Monaten eine fundamentalistisch-islamistische Gruppe gesendet. Kann sich also im Freien Radio jeder und jede in aller Ruhe austoben?

Diese Art von Freiheit bieten häufig die in vielen Bundesländern als "Bürgermedien" eingerichteten Offenen Kanäle, in denen ohne inhaltliche Konzeption Sendungen nacheinander abgespielt werden. Freie Radios dagegen sind selbstorganisierte Projekte, die sich ihre eigenen Regeln schaffen. Deren Freiheit besteht in der Abwesenheit von Intendanten und Chefredakteuren, aber auch von Putzfrauen und Sekretärinnen.

Daß dabei neben Plattenteller und Mundwerk auch Müll, Wischmob, jede Menge Bürokratiekram und festgefahrene Positionen bewegt werden, das unterscheidet sie vom Offenen Kanal. Wer was mitzuteilen hat und Freiheit weder in der Vereinzelung noch in der Hingabe an eine festgefügte Ordnung sucht, organisiert sich hier. Freie Radios ziehen bunte Vögel an und sind so zum Treffpunkt für DissidentInnen in bewegungsarmen Zeit geworden.

Da sind aber auch noch die, die gerne mal berühmter Radiomoderator werden wollen. Und die, die es schlicht cool finden, "in the mix" zu sein. Und natürlich die, die einfach ihre "Erleuchtung" anderen mitteilen wollen. Freie Radios sind keine geschlossenen Gesellschaften, und darum vernehmen die HörerInnen auch nicht nur Gutes, Wahres und Schönes. Dennoch bieten sie die Möglichkeit zu verändern: Die Entscheidungsstrukturen sind transparent, Mitglieder bestimmen, wenn's um die richtige Richtung geht.

Nicht zuletzt, weil es immer noch zu wenige Mitglieder gibt, hat die Freiheit der Freien jedoch Grenzen, die von den Landesmedienanstalten gezogen werden. In Baden-Württemberg z.B. wurde Lizenzierung und Förderung an den offenen Zugang gesellschaftlicher Gruppen zum Radio gekoppelt.

Damit war auch die Öffnung für Feuerwehr, Sportverein oder diverse Religionsgemeinschaften gemeint. Deren Anfragen sind bislang aber eine Seltenheit geblieben - vielleicht, weil sich ein Feuerwehrmann ohne Hierarchieleiter reichlich verloren vorkäme. Zwar besteht also selten ein konkreter Zwang, solche Gruppen senden zu lassen, dennoch geht der Druck der Landesmedienanstalt an den strukturellen Entscheidungen und politischen Ausrichtungen der Radios nicht gänzlich vorbei. So wurden Redaktionsstatute teilweise so formuliert, daß sich ein Ausschluß von Gruppen, die nicht ins Konzept Freier Radios passen, nur schwer zu machen ist. Schließlich heißt das Zauberwort, das die Tür zum Äther aufgestoßen hat, Pluralität.

Doch Pluralität, sprich Vielfalt, läßt sich in doppelter Hinsicht interpretieren: Nach Definition der Medienanstalten müssen die gesellschaftlichen Verhältnisse im Programm genau gespiegelt und dieses damit überflüssig gemacht werden. Im Sinn der Freien Radios dagegen soll Offenheit zwar für die unterschiedlichsten Interessierten, aber besonders für jene hergestellt werden, die diesen Verhältnissen entgegenwirken. Jenen also, die andere Töne setzen: Linken WortredakteurInnen und untergründige DJs ebenso wie SchülerInnen, die sich mit betreuten Mädchenradiosendungen einen öffentlichen Raum erschließen. Vielfalt und Freiheit bedeutet also auch die Abgrenzung von sexistischen und rassistischen Gruppen - und manchmal die Trennung von Leuten, die von Selbstorganisation nichts wissen wollen.

Wie ein Radio in Bewegung selbst Bewegung hervorbringen kann, hat zuletzt die Tübinger "Love-and-Hate-Parade" gegen Vertreibungspolitik in den Innenstädten gezeigt: Vermeintlich unpolitische Techno-DJs gingen gemeinsam mit linken Gruppen auf die Straße - eine Initiative, die ohne die oft auch nervenaufreibenden Auseinandersetzungen im Freien Radio kaum möglich gewesen wäre.

Der Sender wird zum sozialen Ort, der so manche ungewöhnliche Verbindung hervorbringt. Schließlich wird die Skizze der gesellschaftlichen Veränderung nicht in Quarantäne gezeichnet.