Alternative Lebensformen

Informationssucht

Zum 27. September 1998 mußte auch Christoph Schlingensief seinen Senf geben. Denn dem kollektiven Scheitern folgte zwangsläufig das "Wahldebakel '98" in der Volksbühne. Neben dem Chance 2000-Senf konnte man sich auch noch Buletten und Wiener jeweils mit Brot und Senf zuführen. Einen Stand weiter wurde die neue Losung "Chance 2000 ist kommerzialisiert!" sichtbar: Das Parteilogo ziert Prospekte, Postkarten, T-Shirts und - Fähnchen!

Flüssige Nahrung gab es bei Direktkandidat Achim von Paczensky: "Wir trinken jetzt Getränke", lautete seine ungleich reizvollere Parole, vor allem weil Schlingensief nicht müde wurde, ständig darauf hinzuweisen: "Achim von Paczensky serviert jetzt Getränke." Dem konnten sich die von Buletten-und-Wiener-mit-Brot-und-Senf-Gesättigten natürlich nicht entziehen und begaben sich auf dem schnellsten Weg vom Foyer ins Parkett.

Dort mußte man sich aber auch noch andere Dinge anhören und ansehen. Schlingensief, Schütz, Kuhlbrodt, Brecht, Zirkus Sperlich u.a. hüpften ganz aufgeregt auf der Bühne herum und grölten: "Die Ursache liegt in der Zukunft", was wohl irgendwie mit der Aussage "Wenn das Ziel explodiert ist, geht der Weg trotzdem weiter" zusammenhängt. Deshalb ruft Schlingensief auch die ganze Zeit, daß wir "das System eins verlassen müssen".

Aber so einfach läßt sich das staunende Publikum natürlich nicht vertreiben, schließlich wartet man ungeduldig auf die ersten Hochrechnungen. Doch, was ist das: Schlingensief, der Blödmann, hat keinen Bock mehr: "Die Medien sind am Selbstzersetzungsprozeß von System eins beteiligt", meint er und versetzt ihnen sogleich den Todesstoß. Mit einer Axt wird das Kabel der Fernsehleitung durchtrennt: "Wir leben. Wir sind von System eins befreit."

Also nichts wie raus ins Foyer, da gibt's wenigstens Hochrechnungen und Senf statt "die Geburtsstunde von System zwei". Aber zu früh gefreut, denn erst muß man noch Schelte über sich ergehen lassen: "Viele gehen jetzt raus, weil sie süchtig sind nach Information", lautet die Diagnose. Ein ganz Ungeduldiger versucht es mit dem Zwischenruf "Christoph, ich will dich ficken". Mit diesem spontanen Bekenntnis beweist er zwar, daß es ihn gibt, das Hochrechnungsproblem ist damit jedoch noch nicht aus dem Wege geschafft.

Also doch raus. Im Foyer tummeln sich all jene "Chancisten", die die Wahl irgendwie schon interessanter als das mit den Systemen finden. Auf der Bühne ist Kohl nur als Pappkamerad vorhanden, hier kann man ihn auf dem Bildschirm im Foyer beruhigt den "deutlichen Sieg der Sozialdemokraten" verkünden sehen.

Informationssucht gestillt.