Spaziergänge mit Kunzelmann

Eine Erinnerung

Irgendwann hatte ich seine Darstellung begriffen, was an Strafen auf ihn zukommen würde und aus welchen Eiern sie sich zusammensetzten. Alles in allem fast ein Jahr. Ob ihm angesichts dieser langen Zeit des Eingesperrtseins nicht doch mulmig geworden ist? Er komme gut zurecht im Knast! Davor habe er keine Angst, versicherte er.

Das habe ich geglaubt, bis er mich zu Beginn der letzten Eierprozeßwelle mitten in der Nacht anrief: Kannst Du mir morgen früh um halb acht in den Mantel helfen? Ich muß zu einem Gerichtstermin nach Moabit. Vielleicht würden sie ihn anschließend gleich einkassieren wegen Kühlerhaube, rechtskräftig zwei Wochen, weißt du? ... Wie? Verstehste nicht? Die Tagessätze! Absitzen, kapiert? wird nicht gezahlt! Tagessätze nie! Klar? ... achso ... Kann sein, daß sie die fünf Monate in Sachen Eierwurf-Zwei gleich dranhängen bzw. vielleicht auch nur die, das sind ja alles Teile vom Ganzen nur verstehste? Verstand gar nichts, knurrte. Aber: Ja.

Einmal, das war im Herbst '97, fehlte mir die Elastizität, die den Umgang sehr erleichterte. Dazu später. Nun ist er fort, keiner weiß wohin, ich auch nicht. Eigentlich wollte er doch seine Memoiren schreiben! Und die Zeit im Knast käme ihm ganz gelegen. Da werde er die Ruhe finden, die zum Schreiben notwendig sei. Zum Knast hatte er aber wirklich ein Verhältnis, das muß man wissen. Waren es fünf Jahre, die er mal am Stück gesessen hat? - Den Ort, die Gesetze kannte er, er hatte Zugang zu dieser Erfahrung, die alle, die einmal drin waren, miteinander teilen. Fast wie Krieg: auch eine Erfahrung, die alle, die sie gemacht haben, verbindet und, andersrum, eine Barriere aufbaut zu denen, die nichts davon wissen. Deswegen hatte Kunzelmann auch einige sehr gute Kontakte zu Tabak- und Zigarettenhändlern, weil eine Tätigkeit in dieser Branche bei Ex-Knackis recht verbreitet ist. Zum Beispiel der gute Freddy, Alter-Deine-Luschen-sind-da-Freddy, ehemals Kalfaktor in einem Berliner Knast: sofort ein Verbündeter von Kunzelmann.

Als er mir am Morgen die Tür öffnete, war er kaum wiederzuerkennen, er sah aus wie das tapfere Schneiderlein mit etwas Doolittle abgeschmeckt. Tadellose Verkleidung, nur alte Sachen aus dem letzten Jahrhundert: Cut, Binder, verspaakte Schlotterhose, oben Zylinder. Damit krabbelte er durch die Wohnung, wie ein Käfer, ein schillerndes Exemplar, immer in Bodennähe, eine Höhe, in der bei ihm ja ohnehin alles organisiert war, kein Tisch, kein Stuhl, kein Bett, überall Teppich, sogar in mehreren Schichten, daß die krabbelnde Art der Fortbewegung sich sowieso empfahl.

Das Zentrum seiner ganzen Unternehmungen stellte ein Rucksack dar, ebenfalls aus vergangenen Tagen, prall gefüllt mit Klamotten und Tabak plus Blättchen für den Rest aller Zeiten. Ins Auge stach die äußere Dekoration, eine Schlagzeile der B.Z. zu Schönbohms Säuberungen: "Berlin wird wieder sauber". Dazu passend ein buntes Allerlei von Reinigungsmitteln, uralte Schrubber und Bürsten, die bei Rot über die Straße gelaufen waren, Schwämme, Putzlappen - lauter Gelumpe, das er mit Schnüren und Tesafilm kunstvoll befestigt hatte. Es sah eigentlich aus wie eine Assemblage! Ein kleines Meisterwerk!

Um die Vorbereitungen zum Abschluß zu bringen, arbeitete seine innere Maschine an diesem Morgen wie wahnsinnig. Jeden Moment mußte man einen schrillen Ton befürchten, mit dem sich alles festfressen würde, so bekloppt schnell. Wie ein Irrer astete er herum, klaubte Zeugs zusammen, brachte es wieder zurück, drehte eine Sache auf diese Seite, auf die andere, flitzte zur Uhr, stellte diverse Wecker auf Kurzweckzeiten, die in seinem Masterplan diffizile Arbeitsschritte anmahnten. Kaum klingelte es, sauste er herbei, murmelte ein paar Worte, "das", "dies", stellte gleich wieder neue Zeiten ein, "fünf", "vier", "einhalb", flitzte wieder weg, nahm nochmals den Stapel Papiere auf, den er eben an den Rand gesetzt hatte, sortierte nach einem noch komplizierteren Prinzip, setzte ihn auf einen Haufen drauf, um das Ganze gleich wieder auseinanderzuklamüsern.

Zwischendurch krabbelte er in einen anderen Winkel seiner Behausung, zog dort etwas hervor, was in irgendeiner Verbindung mit dem Stapel stand, strich mit Leuchtmarkern herum, drehte eine Zigarette, brummelte: "So!", "das!", "dies!" oder "noch!", rief "Feuer!", suchte bestimmte Filzer, mit denen er wieder in einem anderen Winkel auf einer Fotokopie etwas anmerkte, zweifarbig unterstrichen - es wollte kein Ende nehmen, er verströmte eine starke Hitze, klingeling! Wieder die Wecker, neue Frist! Es dampfte, man hätte ihn von oben mit kaltem Wasser berieseln müssen, so heiß alles, seine Birne, die kleinen Rädchen in den filigranen Lagern, der starke Strom, der durch ihn hindurchging, ratter-ratter, Schweiß lief herunter, alles dicht an der Überlast.

Plötzlich klingelte alles auf einmal, er starrte die Eieruhren an: Mantel! Ich reichte ihm den Mantel ... Hast Du schon mal jemandem in den Mantel geholfen? Was? ... Jetzt, langsam. Nicht so hoch! Mensch, weißt Du nicht, wie man jemandem in den Mantel hilft? Tiefer, tiefer! Noch mal von vorn! Tieeefer! Sag mal! Was machst Du denn?!

... Ich war unsicher. Eine Kunst ist das!! rief er. In den Mantel helfen! Kunst das! Mußt Du mal üben! Dann kam der Rucksack dran, das Meisterwerk, alle Achtung. Wir gingen damit ins Treppenhaus, ich oben, er zwei Stufen tiefer. Jetzt ganz vorsichtig! Jetzt überlegen! Senken! Nicht so!! Langsam! ... Das Ding war wahnsinnig schwer. Etwas anheben links! Rechts-rechts! Rüber! ... Ich gab mir alle Mühe, das Gewicht langsam auf seinen zarten Rücken zu übertragen. Er wackelte, kriegte Übergewicht nach hinten, schlug mit den Armen. Das braucht Gefühl! ... meine Leistungen stellten ihn nicht zufrieden. Eine Kunstform, verstehste?! Kulturleistung! Halten! Anheben!! Laß! Laß!! Nich, nein! ... ich versagte total. Verärgert wurschtelte er am Cut herum, der vom Gewicht ganz zerknittert saß, überall Falten, drehte sich um und guckte mich böse an. Er sah bekloppt aus. Stock!! Ich reichte ihm den Stock. Er drückte mir den Wohnungsschlüssel in die Hand, und wir gingen zur U-Bahn, er vorneweg, ich hinterher. Am Görlitzer Bahnhof stand bereits das Übernahme-Kommando, ein Mädchen, ein Junge, beide höchstens zwanzig. Lange weg war Dieter nicht. Fünf Minuten nach Beginn der Vorstellung wurde vertagt.

Wie ich ihn kennengelernt habe, das weiß ich noch ganz genau, das war Anfang '95, als Tobias Hauser in seinem Atelier ein Fest veranstaltete, in dessen Verlauf eine Schießübung mit abschließendem Kampfschießen stattfand. Als langjähriges Mitglied des Schützenvereins Raven-Rolfsen und Träger der Hutschützen-Nadel war mir übertragen worden, einen schützenmäßigen Ablauf dieses Teils der Veranstaltung zu gewährleisten. Ich war die Autoritätsperson beim Schießen, an dem auch Kunzelmann teilnahm. Er war kein guter Schütze. Aber von seinen Schießleistungen einmal abgesehen, zeichnete er sich vor allem dadurch aus, daß er sich nicht an meine Anweisungen hielt und einen unglaublich störenden Einfluß auf die Veranstaltung nahm. Er hatte sich schneller auf mich eingeschossen, als daß er mal wirklich ins Schwarze traf. Man muß sagen erfolgreich. Denn bald hatte ich die Schnauze voll, gestrichen. Er hatte mich besiegt, er war so dermaßen renitent, ich bin bald wahnsinnig geworden, so fuchtelte er mit dem Gewehr herum, trat immer über die Linie, wollte sich nicht an den Strich halten, richtete die Flinte fahrig in die Menge, machte einen unglaublichen Aufstand - es war zum Verrücktwerden mit ihm. Und wie es dauerte! Und wie lange der brauchte! Erstmal eine Bekanntmachung loslassen! Bevor er auch nur einen Schuß absetzte, erstmal einen Eklat produzieren, damit auch alle gucken, was für einen gewaltigen Schuß er absetzt. Und immer wieder über die Linie! Und wieder abgesetzt! Deklamiert! Dabei mit dem Gewehr herumgefuhrwerkelt! Noch einen Satz herausgebrüllt! An alle! ...

Der Gewinner war schließlich Klaus Bittermann, der besaß genau das, was Kunzelmann nicht hatte, Konstitution, Wesen und Eigenschaften eines guten Schützen: gutes Augenlicht, regelmäßiges Atmen, etwas phlegmatisch. Kunzelmann war eigentlich gar nicht richtig bei der Sache. Oder auch so: Er war voll und ganz dabei. Nämlich mich, die Autoritätsperson, fertigzumachen und den von mir gezogenen Strich mit Füßen zu treten. So hab ich ihn kennengelernt, das war er. Zuvor vergewisserte er sich der Aufmerksamkeit der Anwesenden. Alle sollten seinen Übertritt bezeugen, seinen Schuß, seinen Knall, das Peng! das. Alle mal hergucken!

Ich kann nicht mehr, sagte ich zu Tobias, ich war am Ende: Es macht überhaupt keinen Spaß; der Mann da mit Hut gehorcht mir nicht, der tritt immer über den Strich. Laß gut sein, meinte Tobias, das ist Kunzelmann, und entließ mich.

Lange besaß ich weder Anschrift noch Telefonnummer von ihm. Er war heikel in dieser Sache, so sehr, daß man ihr schon einen sportlichen Reiz abgewinnen konnte: Wie gewinne ich das Vertrauen und die Anschrift von Dieter Kunzelmann? Das war eine echte Aufgabe. Man mußte sich bewerben, aber unauffällig, ganz subtil klarstellen, daß man ein Mensch ist, der diese kostbare Information verdient, das ging über mehrere Wochen. Bis schließlich Dieter Kunzelmann, sein inneres Komitee, in einer geheimen Sitzung den Beschluß faßte, dem Individuum X das kostbare Wissen zuzuteilen. Beachten Sie bitte das außerordentliche Vertrauen, das Ihnen hiermit entgegengebracht wird, und erweisen Sie sich seiner würdig.

Irgendwann gingen wir dann mal zu ihm. Er wohnte nicht weit weg - ich scheue mich immer noch zu sagen wo, ich bin diskret. Also gut: Er wohnte in Kreuzberg. Aber wo ich ihn am häufigsten traf, das war im Waschsalon. Bevor ich seine Adresse hatte und er eine Waschmaschine, war das praktisch unser Treffpunkt. Dort sprach ihn mal jemand an, jemand aus der autonomen Szene: Bist Du nicht der Kunzelmann? Worauf Kunzelmann diesen Menschen kurz musterte und dann recht freundlich: Wieso?

Er versuchte nicht lange abzustreiten, Kunzelmann zu sein. In der Ansprache lag bei aller szenemäßigen Vertrautheit, die manch einer als anmaßend empfunden hätte, aber auch eine Menge Respekt. Ja, Kunzelmann stellte in bestimmten autonomen Kreisen eine sehr respektable Persönlichkeit dar. Er genoß das Vertrauen dieser Leute, sie blickten fast ein wenig zu ihm auf - soweit das zwischen Menschen möglich ist, denen die Emanzipation von unnötigem Zwang das Wichtigste ist. Den Respekt hat er sich immer wieder neu verdient - durch seine niemals gebrochene Vorliebe für Aktionen aller Art, seinen Einsatz, seine Furchtlosigkeit und Intransigenz.

Mit seiner Anschrift in der Hand konnte ich noch lange warten, bis er mir seine Telefonnummer gab. Das war die nächsthöhere Auszeichnung. Ich habe nie darauf gedrängt, sonst hätte ich sie wohl nie bekommen. Dann, endlich, war es so weit, ich weiß noch genau, er hatte sie auf ein winzig kleines Stück kartoniertes Papier geschrieben, ein echter Kunzelmann: Das Papier stammte von der Polizei. Oben Polizeiemblem und darunter der Spruch "Für Ihre Sicherheit - Ihre Polizei". Auf der anderen Seite: diese kostbare Folge von Zahlen, handgeschrieben. Auf mich machte das einen starken Eindruck, als müßte ich den Zettel nach einmaligem Durchlesen in den Mund stecken und neutralisieren. Er reichte ihn mir mit ernstem Gesicht, ich empfing die höheren Weihen, ich war zum Abendmahl zugelassen, die Oblate kam, bin konfirmiert.

Kunzelmann war kreuzberger als jeder Kreuzberger. Das habe ich mit als erstes kapiert. Ein Lokalpatriot! Er war unglaublich lächerlich mit dem ständigen Kiezkram. Anfangs führte das dazu, daß ich ihn mehr als Witzfigur denn als alles andere wahrnahm. Immer wieder KIEZ! Sag mal was ist denn mit dem los? Manchmal konnte man denken, er hätte gar nichts anderes im Kopf als KIEZ. Es war grotesk. Ständig KIEZ! Auf einem Spaziergang, als wir den Landwehrkanal überschritten, sagte er plötzlich

"Feindliches Gebiet." "Was meinst Du?" fragte ich. "Mensch, hier fängt Neukölln an!" - "Achso, wußte ich gar nicht", sagte ich, "daß hier Neukölln anfängt." Er tat einen Satz zur Seite und starrte mich mit entsetzten Augen an: "Was? Du weißt nicht, daß hier die Grenze zwischen Kreuzberg und Neukölln verläuft? Ñ Du mußt noch viel lernen."

Die letzten Zuckungen, die das Kreuzberger Kieztum zeigte, konnten sich seiner Teilnahme gewiß sein, er war dabei Ñ mit Feuereifer. Wenn nur Kreuzberg wieder in die Schlagzeilen geriet! Als er einmal bei mir oben war, um im Milchkaffee zu rühren, bat ich ihn am Ende seiner Visite, einen Brief für mich einzuwerfen. Er guckte sofort nach, was ich als Absender geschrieben hatte. Resultat: Ein Anfall.

Das ging so: Erstmal eine deutlich wahrnehmbare Pause, bis sich der Blick auf ihn konzentrierte. Daraufhin verdrehte er die Augen, bog das Kinn runter auf den Brustkasten, um von dort unten Schwung nehmend den Kopf zurückzuwerfen und in der Aufwärtsbewegung die Szene zu gestalten.

"Was fällt Dir ein!"
"Wieso? - (Große Pause) - "Was ist, wieso?"
"Mensch, so schreibt man doch nicht seine Adresse!!"
"Ist doch korrekt."
"Verstehste nicht? - die wollen doch die Bezirke zusammenlegen!"
"Naja ..."
"Wenn Du schon die neuen Postleitzahlen verwendest, dann aber mindestens 10999 Berlin-Kreuzberg. Oder 10999 Berlin SO 36!"

Die nachlassende Popularität Kreuzbergs hätte ihn eigentlich deprimieren müssen. Aber nein, unverbrüchlich, fest und zuverlässig stand er zum Kiez und ließ nicht nach in seinen Bemühungen, Kreuzberg attraktiv zu machen. Kreuzberg war ja tatsächlich deswegen so attraktiv, weil Kunzelmann darin herumpeeste, mit Hut. Zum Beispiel passierte es mir oft, daß ich über die Straße ging, und plötzlich kam von irgendwoher ein Meckern. Wer meckert denn da? Ich drehte mich nach allen Seiten um ... da! hinter einem Gebüsch stand Kunzelmann und hatte seinen Spaß.

Ein Kasper, ja, da hat Ulrich recht. Es war manchmal schwierig, ihn jenseits davon wahrzunehmen - kein Durchkommen, nur Kuriositäten. Es war allerdings auch nicht vorteilhaft, ihn ständig beim Wort zu nehmen oder bei seinen raumgreifenden Gesten, genau! seine zahlreichen Gesten, die Distanzsprünge, mit denen er einen Vortrag einleitete, einen gepfefferten. Großer Theatraliker! Da mußte man erstmal durch.

Berlin, Sonntagmorgen (Invokavit), 16. 2. 97

Liebe Großmutter!

Falls Dich die etwas panische Herzlichkeit meines verspäteten Glückwunsches gewundert hat, so hast Du dies dem Bürgerschreck Dieter Kunzelmann zu verdanken. Als ich am Mittwoch auf einem kleinen Gang mit ihm bemerkte, daß heute meine Großmutter ihren 92. Geburtstag feiere, sprang er drei Schritte von mir fort, sah mich aus dieser Distanz entgeistert an, riß sich die Brille von der Nase und nagelte mich mit irrem Blick fest.
"Bist Du des Wahnsinns? - Was machst Du denn hier, wieso bist Du nicht bei Deiner Großmutter? Schäm Dich!"
Ich war so erschrocken, daß ich stammelte, Du würdest so weit weg wohnen. Aber am Wochenende würde es sich vielleicht einrichten lassen, Dich ... Das erboste Männlein fiel mir ins Wort: "Wehe! Wehe! Wehe!" Damit setzte er endlich wieder seine Brille auf, um die Szene zu beenden.
Gestern nachmittag ging sie weiter. Ich saß am Schreibtisch und arbeitete unter Hochdruck, als es plötzlich klingelte, und zwar in der theatralischen Art, in der nur der Ex-Kommunarde und heutige Eierwerfer Nummer 1 klingelt. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie er tobte, als er mich nicht zu Deinen Füßen, sondern in meiner Wohnung fand. Der Schrecken, den mir sein Auftritt einjagte, war nachhaltig. Der Mann ist ein feuriger Vertreter Deiner Interessen, das kannst Du glauben.
Ich umarme Dich herzlich, Deine Dir treu ergebene Nr. 13

Nachdem wir uns besser kennengelernt hatten, kurz vor der Zuteilung seiner Anschrift, begannen wir, kleine Spaziergänge zu unternehmen. Das fing ganz langsam an. Ich wirtschaftete oben in meiner Wohnung herum und plötzlich klingelte es. Aber nicht normal, sondern extrem, als klingelten mindestens fünf Personen, jeder einen Durchsuchungsbefehl in der Hand. So klingelte Kunzelmann, ganz allein. Später mußte ich auch lernen, so brutal zu klingeln, die bestimmte Abfolge von einzelnen Klingelattacken einhalten, wenn ich ihn besuchen wollte. Sonst machte er mir eine Szene. Eine Szene nur, ja, eine von den vielen kleinen, die er am Tag improvisierte. Der Umgang mit ihm war wirklich reich an Szenen, für den Connaisseur immer was zu gucken. Sein Klingeln hatte aber noch einen Vorteil: Wenn man einmal verstand, wie es ging, - die Parole - dann konnte man mit Sicherheit bestimmen, Dieter zu sprechen oder nicht. So klingelte sonst wirklich keine Sau.

Er meldete sich stets mit "Herr K Punkt". Er hätte sich aber auch ganz anders melden können, seine Stimme war vollkommen distinkt, so unverwechselbar wie sein Klingeln. Er komme grad mal so vorbei, knarzte er in den Apparat, und wie's so geht, und was machst Du gerade, achso, und später? Aha, ja, und so weiter, wir kamen ins Plaudern.

Zuerst fand ich das sehr merkwürdig, an der Gegensprechanlage zu plaudern. Dann habe ich mich daran gewöhnt, obwohl er die Sache wirklich ausreizte - zehn Minuten, eine Viertelstunde, mit Unterbrechungen eine halbe. Manchmal mußten Pausen eingelegt werden, weil andere Leute auch was sagen wollten, Mitbewohner ins Haus, Patienten zum Doktor, sowas: kein Problem. Dieter hörte unten mit, ich lauschte oben. Oder ich mußte mir eine Zigarette holen. Dafür hatte er dann Verständnis. Oder er mußte sich erstmal eine Minipizza holen, ok. Aber "Warte mal, da kommt gerade Sowieso vorbei, dem muß ich eben ..." - das war hart an der Grenze. Und schließlich führte gerade diese Tendenz bei ihm, Parallelgespräche aufzubauen, zum Problem, also die Elastizität, die mir dann einmal fehlte, das, der Brief.

Die Gespräche an der Gegensprechanlage dauerten in jedem Fall länger als die Telefonate. Dem Telefonapparat mißtraute er, zur Gegensprechanlage hatte er grenzenloses Vertrauen. Wir diskutierten darüber auch kulturelle oder politische Ereignisse, den Begriff der Liebe, attraktive Fernziele, die Loveparade, kann man sagen alles.

Solche Gespräche waren für ihn von großer Bedeutung, zumindest in seinem Zeitplan. Das ließ er sich was kosten, seine sämtlichen Unterhaltungen an den ganzen Gegensprechanlagen im Kiez. Das wurde mir im Laufe der Spaziergänge, auf denen er hier und da Kurzgespräche führte, spätestens aber in dem Moment klar, als mein Freund Hartmut, den er bei einer Geburtstagsfeier kennengelernt hatte, von seinen Unterhaltungen mit Kunzelmann an der Gegensprechanlage berichtete.

Einmal, das war schon mittendrin in den Spaziergängen und einer der schönsten, gingen wir über den Markt am Maybachufer. Wir kauften Blumen und kehrten schließlich bei Kaffee und Kognak im Rotkäppchen ein. Ich trinke ja eigentlich keinen Alk, sagte er mit dem Blick ins Glas gerichtet, um es dann voller Verachtung zu kippen. Er kaute nach, las im leeren Glas ab, wie das Zeug war, mahlte mit den Kiefern, betätigte die Gesichtsmuskeln, Stöhnen. Wieso tut er sich das an? dachte ich zuerst. Ein Lernprozeß. Später wußte ich: Er schmeckt nur nach.

Jetzt die mangelnde Elastizität.

Lieber Dieter,
wenn Du noch einmal mit mir Kaffeetrinken willst, dann überlege Dir genau, ob Du mit mir Kaffeetrinken willst, oder ob Du überall mal HALLO sagen willst und hier noch was zu erledigen hast, da noch mal kurz vorbeischauen könntest, mit sowieso ein paar Worte über die Gegensprechanlage zu wechseln hast usw. Mit KAFFEETRINKEN MIT HERMANN läßt sich nichts davon vereinbaren, zumindest Hermann sind solche gekoppelten Unternehmungen nicht länger angenehm.
Verstehst Du mich? Zur Sicherheit noch mal: Wenn Du mit mir Kaffeetrinken willst und wir uns verabredet haben, daß Du so gegen x Uhr hier vorbeikommst und wenn Du dann gegen x Uhr vorbeikommst und klingelst, dann wirst Du - wenn Du mit mir Kaffeetrinken willst - nach dem Klingeln warten, bis ich mich mit KOMME! melde. Du wirst sagen VERSTANDEN und weiter so lange strammstehen, bis ich unten bin. Was Du nicht machen wirst, ist: Noch mal schnell bei Futomania HALLO SAGEN oder gegenüber oder wo auch immer. Nein, Du bleibst solange geduldig und freudig wartend unten an der Tür stehen, bis Papa da ist. Wenn die Tür dann aufgeht und ich heraustrete, wirst Du salutieren und sagen HALLO HERMANN! Dann gehen wir Kaffeetrinken. Und sonst gar nichts.
Ich hoffe, das ist alles klipp und klar jetzt, ist es? Richtig, Du bist nicht der Großwezir von Kreuzberg. Sondern ich.
Schöne Grüße, Dein Hermann

Der Autor hat diesen Beitrag für Dieter Kunzelmanns (Auto-) Biographie "Leisten Sie keinen Widerstand! Bilder aus meinem Leben", 207 S., DM 38, Transit Buchverlag, Berlin, geschrieben. Für die Jungle World hat er den Text mit einer neuen Zeichensetzung versehen und fünf Flapsigkeiten getilgt ("blöd", "Idiot", "aber egal", "weeßte" und "scheiße renitent"). Die Biographie enthält neben zahlreichen unbekannten Abbildungen und Dokumenten auch Ulrich Enzensbergers in der Jungle World erschienenen Essay "Kaspar ist tot". Unter Mitwirkung von Ulrich Enzensberger, Hermann Bohlen, Bernd Rabehl u.a. wird die Biographie Kunzelmanns am Montag, den 2. November, um 20 Uhr im Berliner Mehringhof-Theater, Gneisenaustr. 2a, aufgeführt.