Ballermann am Bodensee

Nichts wie weg: Während die Tourismusbranche expandiert und die Zahl der Auslandsreisen stark ansteigt, stagniert der "Fremdenverkehr" in Deutschland

Wem hierzulande der Winter zu ungemütlich wird, macht sich auf in sonnigere Breiten und läßt die Minustemperaturen hinter sich. Die Deutschen sind im Reiserausch, und wenn sie ins Ausland fahren, dann am liebsten nach Spanien. Mit sechs Millionen Fluggästen pro Jahr stehen die blassen Alemannen 1998 zahlenmäßig an der Spitze der insgesamt 17 Millionen Mallorca-Besucher.

Doch das ist nicht der einzige Rekord, den die reiselustigen Deutschen aufstellten. Rund 80 Milliarden Mark machten deutsche Touristen nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin im vergangenen Jahr auf ihren Auslandsreisen locker - immerhin 2,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Trotz allgemein stagnierender Kauflust und sinkendem Realeinkommen stiegen auch im vergangenen Jahr die Ausgaben für Reisen um rund fünf Prozent. Der Bundesverband der Deutschen Tourismuswirtschaft (BTW) wird deshalb auch nicht müde, darauf hinzuweisen, daß die Reisewirtschaft die Leitbranche auf dem Weg zur Dienstleistungsgesellschaft sei und mittlerweile acht Prozent des Bruttoinlandsproduktes erwirtschafte - mehr als der Agrarsektor.

Und dieser Anteil soll noch weiter steigen. Zum Jahresende stellte der BTW seine Prognosen für die nächsten zehn Jahre vor: Bis 2010 soll sich demnach die Zahl der Auslandsreisen um 70 Prozent erhöhen. Neben einer Verdoppelung der Umsätze seien 43 Prozent mehr Arbeitsplätze als heute zu erwarten. Aber bei aller Euphorie gab es von Erich Kaub, Präsident des BTW, auch viel Tadel: Die Dienstleistungsbranche sei immer noch ein Stiefkind der deutschen Politik. Und auch die neue Bundesregierung komme nicht davon ab, sich "auf Industrie- und Agrarpolitik zu fokussieren", schimpfte der Tourismuslobbyist. So gibt es zwar einen Minister für Landwirtschaft, nicht aber einen für Tourismus. Selbst die EU, ansonsten nicht gerade ein Synonym für Innovation und schnelle Entschlüsse, habe immerhin schon einen Tourismuskommissar vorzuweisen.

Während die Politik noch den Gegebenheiten hinterherhinkt, kämpfen die Wettbewerber um potentielle Kunden mit immer neuen Strategien. Selbstverständlich ist Reise nicht gleich Reise. Die Anbieter und Profiteure etwa von Flugreisen und von Kuraufenthalten unterscheiden sich in Struktur und Management erheblich. Wer mit dem Bus zur Kaffeefahrt nach Wien fährt, ist mit dem Abenteuerurlauber in der Sahara schwer vergleichbar. Und die Abiturienten, die es nach bestandener Reifeprüfung scharenweise in die Länder der Dritten Welt zieht, erwarten andere Leistungen als ein Rentnerehepaar im Schwarzwald. Diese Ausbrüche aus dem Alltag firmieren dennoch alle unter "Tourismus".

Wer in dem scharfen Konkurrenzkampf der Branche mithalten will, muß eine immer diversifiziertere Angebots-palette vorweisen. Der Pauschalreise folgte die Last-Minute-Manie, der Luxuskreuzfahrt die exzentrische Abenteuerreise. Der wichtigste Trend bei den mittelständischen Urlauber ist derzeit die Reise nach dem Baustein-Prinzip. An den Flug können je nach Wunsch beliebig Übernachtungen und Extras wie Safaris oder Sportangebote angeschlossen werden. Das vermittelt dem Kunden den Eindruck, die Reise sei speziell auf seine Bedürfnisse zugeschnitten; das ist auch für die Veranstalter leicht zu handhaben, weil die einzelnen Bausteine vollständig standardisiert sind.

Wie in anderen Sektoren erfordert diese Strategie allerdings ein hohes Maß an finanzieller Flexibilität des Anbieters. Fusionen wie die von Hapag Lloyd und TUI sind die Folge. Ohne Kapitalkonzentration bleiben nur Nischenplätze offen, die stark krisenanfällig sind. Verbraucherschützer befürchten, daß es bald aus sein könnte mit den Billigreisen, wenn der Markt erst einmal aufgeteilt ist. Dann würden Absprachen unter den wenigen verbleibenden Mega-Konzernen das Preisdumping der letzten Jahre beenden.

Doch bislang wird noch um jeden Kunden auf dem äußerst lukrativ Markt gerangelt. Jedes Jahr setzen die Reiseanbieter weltweit 5,5 Billionen Mark um. Wer mithalten will, muß sich den Urlaubsgewohnheiten anpassen oder neue erfinden - und die haben sich in den vergangenen vierzig Jahren grundlegend geändert. Während die Deutschen sich vor 1960 nur vereinzelt ins Ausland wagten, begann mit dem Werbefeldzug von Neckermann 1962 "15 Tage Mallorca für 338 Mark" die große Volksbewegung der sonnenbrandgierigen Südeuropa-Invasoren.

Seit 1968 reisen Jahr für Jahr stetig mehr Deutsche ins Ausland als in die Touristengebiete im eigenen Land. Nichts wie weg, heißt seitdem die Devise: Während 1960 gerade mal eine Milliarde Mark mehr für Auslandsreisen ausgegeben wurde, als für den Urlaub zwischen Schwarzwald und Nordsee, beträgt die Differenz 1998 bereits knapp 52 Milliarden Mark. Auffällig ist, daß der Löwenanteil der deutschen Reisenden in Europa bleibt. Nur Traumziele wie die Dominikanische Republik, Außenstellen europäischer Clubketten wie etwa in Tunesien und der große Bruder USA können mit Deutschland, Spanien, Italien oder der Türkei konkurrieren.

Doch bei den heimatverbundenen Deutschen ist die Bundesrepublik als Reseziel immer noch wesentlich beliebter als bei Touristen aus dem Ausland. Die können sich nicht so recht für die Pensionen und Freizeitparks hierzulande begeistern - denn den ehrgeizigen Plänen der hiesigen Tourismusbranche steht eine gewaltige Hürde im Weg: die Mentalität der Gastgeber.

So ist Deutschland vermutlich eines der wenigen Länder, in dem Gäste immer noch in "Fremdenzimmern" untergebracht werden. Die Übernachtungszahlen und Bettenauslastung stagnieren auch wegen dem "mangelhaften Service, verkrusteten Strukturen, Qualitätsmängeln und einem zum Teil wenig zeitgemäßen Angebot", kritisiert das BTW. Hinzukommen die merkwürdigen Werbekonzepte der Branche: Ob es der Ruhr-Pott ist, der angeblich kocht, ein Reitweg-Konzeption des "Grünen Ringes Leipzig" oder die geplante Beschilderung des Wasserradweges an der Porta Westfalica - die deutschen Tourismusplaner scheinen sich eher im Fernhalten von Fremden zu üben.

In Baden-Württemberg, mit rund 35 Millionen Übernachtungen immerhin noch an Platz zwei auf der Beliebtheitsskala der Bundesländer, hat man damit schon Erfahrung. Allerdings ist die Touristenbekämpfung in Schwaben durchaus beabsichtigt: Rechtsradikale Skinheads, die Rupert Seibold, Staatsschutzexperte im Augsburger Polizeipräsidium, gegenüber den Stuttgarter Nachrichten als "gewaltbereit und äußerst reisefreudig" bezeichnete, machen mit Ausflügen an den Bodensee und in die Schwäbische Alb die Gegend unsicher. Häufig komme es bei diesem Skinhead-Tourismus zu Übergriffen auf Ausländer.

Kein Wunder also, daß es mit dem "Fremdenverkehr" in Deutschland nicht so richtig klappen will.