Aus dem wirklichen Hamburg: "Aprilkinder" von Yüksel Yavuz

O Mann, Realität!

Eine Prostitutierte erklärt ihrem kurdischen Freier, ein türkischer Stammkunde habe neun Kinder. Die seien allesamt im April geboren - als Folge des jährlichen Heimaturlaubes ihres Klienten im Sommer. "Machst du deine Kinder auch im Urlaub?"

Nein. Cem (Erdal Yildiz), der Freier und Wurstfabriksklave in Yüksel Yavuz' gleichnamigem Film, muß da passen. Der älteste Sohn eines kurdischen Emigranten lebt seit Jahren mit seiner Familie in Hamburg. Und die Stimmung zu Hause ist nicht die beste: Mutter (Serif Sefer) versteht kaum Deutsch und damit auch ihre Kinder nicht, die sich hektisch fremde Worte an den Kopf werfen. Der Vater (Cemal Yavuz) hat sich eine asthmatische Krankheit zugezogen, dämmert im Morgenrock auf dem Sofa dahin. Mehmet (Bülent Esrüngün), Cems jüngerer Bruder, träumt von einer Karriere als erfolgreicher Krimineller. Den großen Bruder verachtet er, weil ehrliche Arbeit eben eine stinkende Angelegenheit sei. Zum gemeinsamen Abendessen fliegen die Fetzen, und nur unter größter Anstrengung gelingt es den anderen, die beiden auseinanderzubringen.

Während Mehmet mit seinen Freunden - alle im illegalen Elektrogeräte-Handel tätig - großspurt, reagiert Cem auf die Welt um ihn herum mit extremer Schüchternheit. Es braucht schon eine Weile, bis ihn die Kollegen dazu überreden können, mal mit in den Puff zu gehen. Cem lernt die leicht abgetakelte Kim kennen, deren blonde Perücke immer etwas schief sitzt. Ins Bett traut er sich mit ihr nicht, beherzigt aber den Rat Mehmets: Statt einer halben Stunde Sex gönnt er sich eine ausgiebige Brause. Die beiden werden sich unglücklich verlieben: Nach guter Mütter Sitte ist Cem für seine Cousine bestimmt, deren Ankunft von allen, nur nicht von ihm heiß erwartet wird. Sie lebt in Türkisch-Kurdistan, das gerade von der Armee auseinandergenommen wird, da ist die Heirat auch eine existentielle Frage.

Regisseur Yüksel Yavuz und sein Team haben sich alle erdenkliche Mühe gegeben, die Drehorte authentisch aussehen zu lassen. Die Küche ist ein kahler Ort, die Gurken stehen auf dem Fensterbrett. Im Bordell hängt die Tapete von der Wand, die Dusche ist ein mobiler Plastikapparat. Wer Stereoanlagen klaut, fährt Golf, wer Drogenkurier ist, Mercedes mit Schürze.

Den Stoff, sagt Yavuz, habe ihm sein Vater geliefert, der in "Aprilkinder" auch das Familienoberhaupt spielt. Mit ihm drehte er den mehrfach ausgezeichneten Dokumentarfilm "Mein Vater, der Gastarbeiter". Yavuz mußte nicht allzu lang nach Ideen suchen: 1964 geboren im türkischen Karakocan, wandert er 1980 im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland ein. "Als ich den unerreichbaren Berg überklettert hatte, stellte ich fest, daß das sagenumwobene Germanistan meiner Kindheit aus einer Barackensiedlung am Rande einer Werft bestand."

1982 nimmt er einen Job in einer Fabrik an, engagiert sich in der Sozial-und Kulturarbeit und ist Mitherausgeber einer Migrantenzeitschrift. 1986 studiert Yavuz Volkswirtschaft und Soziologie in Hamburg. Seit 1990 wirkt er bei verschiedenen Filmproduktionen mit, 1992 bis 1996 ist er Student an der HBK in Hamburg. Neben "Mein Vater, der Gastarbeiter" hat er den 18-Minüter "100 und eine Mark" (NDR) gedreht.

Yavuz entwirft in seinem ersten Spielfilm einen Kosmos, der ungefähr so funktioniert wie das Jugoslawien Emir Kusturicas oder John Waters' Baltimore. Geradlinig und doch komplex, hochironisch und tragisch. Im Gegensatz zu anderen in Deutschland lebenden Regisseuren liegt Yavuz' Hamburg auch in Hamburg. Das hat hierzulande kaum Tradition, und wenn's mal so kommt, daß im Film etwas aussieht wie ohne Film, dann rennt man aufgeregt herum. O Mann, Realität.

Was nur zeigt, wie es sich zutragen könnte. Man muß Filmen wie "Aprilkinder" nicht gleich unterstellen, sie seien Hoffnungsträger eines neuen deutschen, womöglich "sozialen" Kinos, bloß, weil sie eine glaubhafte Geschichte erzählen. Vielleicht ruft uns Yavuz einfach nur längst vergessene Sehgewohnheiten in Erinnerung - aus der Zeit, als ein versoffener Günter Lamprecht der Superstar war. Zu wünschen wäre es daher, wenn die Ära der trotz Millionenfinanzierung nach Filmförderung jammernden Sönke Wortmanns und Detlev Bucks dem Ende zuginge.

Die - wenn auch apologetische - Presse hat das leider mißverstanden, denn was heißt "Der neue deutsche Film ist da"? So ist es eben nicht ganz, weil es durchaus schon ein Kino realer Geschichten in Deutschland gab. Wahr hingegen mag sein, daß das "deutsche" Kino der Wort- und Riemanns von Leuten wie Yavuz einfach nicht beachtet wird.

Die taz hingegen attestierte "Aprilkinder": "Eine Welt, die mitten in Hamburg ist, aber irgendwie eben auch ganz fern." Das verschweigt, daß es mitten in Hamburg vielleicht eine große Gruppe von Migranten geben könnte, und auch, daß es Zuschauer geben könnte, denen diese Welt nicht ganz so fern ist wie den Leuten aus der Redaktionsstube. Denen es nicht anders möglich ist, als mit multikulturellem Wohlwollen auf den "Ausländer" zu schauen, wenn er ihnen auf der Leinwand begegnet.

Die Welt vor der Haustür scheint für manche so schwer verstehbar zu sein, daß sie ihr nur auf dem Wege einer exotistisch interpretierten Kinowelt begegnen kann. Weil Politik und Journalismus scheitern, muß die Kunst ran - und deren Mängel an Realitätsnähe durch Bilder ausgleichen.

"Aprilkinder". D 1998. R: Yüksel Yavuz, D: Erdal Yildiz, Inga Busch, Serif Sezer, Bülent Esrüngrün, Senem Tepe, Ercan Durmaz, Hasan Ali Mete, Axel Lapa, Idil Üner. Start: 28. Januar