War das Die Tödliche Doris

Wie wahr nehme ich sie?

Über die Rezipienten der Tödlichen Doris

Sie macht alles anders als die anderen, hieß es im Feuilleton der achtziger Jahre. Für die einen war es Schrott, andere erkannten in der Künstlergruppe Die Tödliche Doris "die intelligentesten unter den 'genialen Dilletanten'", um sie kurz darauf an den Haaren ins Lehrerzimmer zu schleifen: "... und schlau zu sein in diesen Zeiten wäre allemal nicht das Verkehrteste" (konkret, 1981). Vor fast 20 Jahren gegründet, konzipierten Käthe Kruse, der 1996 verstorbene Nikolaus Utermöhlen (Jungle World, Nr. 8/99) und Wolfgang Müller mit der Tödlichen Doris ihre Vorstellung vom Gesamtkunstwerk aus Malerei, Film, Fotografie, Musik und Performance. In Berlin erinnert jetzt eine große Ausstellung an Doris. (Red.)

Doris muß 22 gewesen sein oder doch schon 23, als ich sie das erste Mal sah, auf dem Sofa, bei Heidi & Peter, in der Crellestraße. Hingesunken, entspannt, lächelte sie mich an und setzte mit mir ein Gespräch fort, was noch gar nicht angefangen hatte. Das Manuskript für den Merve-Verlag war so gut wie fertig, die Genialen Dilletanten würden praktizieren, wie das geht, etwas fortzusetzen, mit dem nicht angefangen war.

Ich nahm wahr, was dann im Laufe der achtziger Jahre ganz normal wurde, daß Künstler wie Doris selbdritt sich vom Fortschrittsglauben verabschiedet hatten. Kein Streß mehr, weiße Flecken auf den Landkarten der Avantgarde entdecken zu müssen. Kein Druck, Innovatives zu erfinden und gegen Konkurrenten zu verteidigen. Keine Plackerei für andere und anderes, für die Zukunft, die Utopie oder dieses oder jenes Dogma. Statt dessen vertraute mir Doris auf dem Kanapee an, wie sie zu ihren Objekten gekommen war, zu den zerrissenen Fotomatonbildern, die sie aufgehoben, geklebt und gesammelt hatte. Auch habe ich vor Augen, wie man Fundstücke verwahrt, in kleinen Kästchen sammelt und beschriftet. Denn die Geschichte der Aneignung wird wahr, weil sie dokumentiert ist.

Mir half das damals nicht weiter, weil Werkanalyse gefordert war, jedenfalls von den Lesern der Frankfurter Rundschau, für die ich schreiben wollte. Die Leser bestanden zu 99 Prozent aus Studienräten: Was will der Autor damit sagen? Fragezeichen.

Doris sagt mir was! Ausrufezeichen. Sie nimmt dafür keine speziellen Zuständigkeiten in Anspruch, etwa die Funktion des Autors oder des Unternehmers oder des Produzenten eines Werks.

Doris stellt keine Fragen. Sie gibt Antworten. Man muß ihr nur zuschauen und zuhören, dann kann man beschreiben, ob für die Frankfurter Rundschau oder nicht, auf welche Praxis sie sich spezialisiert hat.

Wir wollen uns daher mit der Phänomenologie der Tödlichen Doris befassen.

Ihre Theorie lassen wir beiseite. Auch überlassen wir die Arbeit anderen, Doris zu verflüssigen, zu kontextualisieren, zu deterritorialisieren, zu flexibilisieren oder sonstwie zu kompatibilisieren. Nein, nein, nein.

Jemandes Diskursbedürfnis befriedigen, ich tu's nicht, Oralverkehr, mit mir nicht. Ich will in Gedanken bei Doris bleiben. Auf dem Sofa. Doris ist an einem Ort. Wo ich hinkommen möchte. Wo ich hinkommen möchte, ist, Doris' Lokalität als eine zu beschreiben, die mehr oder minder öffentlich ist. Das Lokal mag sonstwas sein: der Delphi-Palast 1983/84 (Bd. 1, S. 45); die Insel Helgoland; eine Kunsthochschule (S. 57); eine Weinhandlung; eine Galerie in der Manteuffelstraße, welche als Eisenbahnstraße rezipiert wird; auf dem Lande, welches in der Metropole Warschau gefunden wird; die documenta; ein Nest wo-auch-immer; egal, es ist der Platz der Fans oder der Kumpel oder der Zuschauer. Die Lokalität gehört denen, die da hinkommen. Wir beschreiben momentan den Weg zu Doris' Rezeption, also zu Doris' Lokalitäten, wobei Doris selbstredend nicht geht, sondern schon da ist, denn die Tödliche Doris, und das ist ihre ästhetische Strategie, ist immer da, wo du sie nicht erwartest. Da, wie wir erarbeitet haben, die Lokalität denen gehört, die da hinkommen, treffen ganz parallel sowohl junge Autonome (1.) als auch alte Griechen (2.) auf die dreiköpfige Performancegruppe.

Wir haben ein Nebeneinander 1. von den Besetzern, die in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts nach Christus ein Haus von der Manteuffel- in die Eisenbahnstraße verlagert haben, und 2. von den Zuschauern, deren öffentliche Lokalität Jahrhunderte vor Christus theatron genannt wurde. Das theatron wurde erst sehr viel später in christlichen Zeiten zum Theaterstück und zur Bühne, die exklusiv für Spieler reserviert war. Es ist doch eine schöne Vorstellung, daß die Entwicklung vom Versammlungsort der Zuschauer ausging und daß deren Lokal etymologisch vom theatron zum Theater einerseits, zur Theorie andererseits mutierte. Bloß können wir mit dieser Aufspaltung nichts Schönes anfangen.

Da hilft kein Cross-over und nichts. Wohl aber können wir, nach wie vor auf dem Weg, Doris' Rezeption zu beschreiben, anhand der beiden zeitlich so arg divergierenden Parallelitäten festhalten, daß die Autonomie des Zuschauers oder Besetzers es ist, die den Blick frei macht, Doris wahr zu nehmen. Was ja ein Doppeltes ist, nämlich a) sie und b) ihre Wahrheit zu erfahren.

Wem das zu kryptisch klingt, dem seien die parallelen, aber inkompatiblen Techniken der Wahrnehmung und der Wahrheitsfindung an den Kopf geschleudert. Es ist wahr, wir werden noch zu Doris' Ethik kommen. Besorgt wird heute Ausschau nach den Werten gehalten. Wo sind sie? Wer achtet sie? Und keiner guckt nach bei Heidi & Peter auf dem Sofa, im "Kumpelnest" unter die Kellerluke, im Sofortbild-Automaten hinter den Vorhang: dort ist sie zu finden, die Wahrheit der Normalität, die GNL, die Gemeinschaft Normaler Leute, die Doris 1982 sorgsam fotografisch dokumentiert hatte (Bd. 1, S. 29).

Aber ich greife vor. Wir sind noch im ersten Kapitel, im Bereich der Wahrnehmungswissenschaft. Es hieße Eulen ins theatron tragen, wenn ich hier, im Kunstamt, ein Vierteljahr vor einem neuen Jahrtausend mich ausbreitete über das kulturwissenschaftliche Phänomen einer Werk-, Objekt- und Performance-Rezeption, welche ein Gemeinschaftswerk von Kunst- und Kultur-Produzent einerseits, von Kunst-Rezipient und Kultur-Konsument andererseits sei. Der Zuschauer bringe an die Rezeptionslokalität ein solches Maß eigener Erwartungen, Vorstellungen, d.h. Bildern und Dramaturgien mit, daß das Performance-Ereignis von ihm maßgeblich mitbestimmt werde. Und da es der Zuschauer mehrere sein werden, sei auch die Koproduktion des Events eine Vielheit, determiniert durch die Subjektive des jeweiligen Rezipienten. Demnach hätten wir in der Rezeptionskoproduktion nicht eins, sondern viele Werke. Proliferation! Wachstum! Ich habe mich in den distanzierenden Konjunktiv geflüchtet.

Wir sind zu etwas abgeirrt, das Cultural Studies heißt und, wie Sie wissen, bei uns fleißig beackert wird. Vielleicht nicht in der akademischen Kulturwissenschaft, wohl aber von Spex, Die Beute, Texte zur Kunst, SpoKK - Arbeitsgruppe für Symbolische Politik, Kultur und Kommunikation, testcard und Diedrich Diederichsen. Ich kann da nicht mithalten. Auch ist Doris keine Boy Group. Mir geht es nicht um Diskursimporte oder besser Diskurskrisen-Importe. Wohl aber um den phänomenologischen Ausgangspunkt: die Beschreibung nicht der Objekte der Tödlichen Doris, auch nicht ihrer Auftritte, sondern die Beschreibung der Praktiken, deren sich ihre Fans bedienen, um sich autonom und kreativ das anzueignen, was ihnen in der jeweiligen Lokalität gefällt.

Mein Vortrag hat zum Gegenstand Doris' Rezipienten, nicht unbedingt Doris' Kunst. Und damit sind wir bei dem Punkt, den ich umständlich ansteuern wollte.

Damit seine Besonderheit ersichtlich wird. Doris' Besonderheit. Ich kann sehr wohl unbedingt über Doris' Kunst reden, weil ihre Kunst die der Rezeption ist. Die Praktiken, sich etwas anzueignen, sie macht sie uns vor: Vorbild, Ermunterung und Ermutigung in einem. Wobei das Aneignungsgut vorzugsweise dem Bereich von Kunst & Kultur entnommen wird, aber auch dem der Wirtschaft und des Weinhandels (Bd. 1, S. 49).

Doris' Rezipienten rezipieren Rezeption. Wir wollen deutlicher werden. Hat uns die Tödliche Doris mit ihren Drei-Personen-Auftritten schon in den frühen achtziger Jahren mit Aneignungspraktiken bekannt gemacht, welche in den neunziger Jahren mit der Internet-Kommunikation globalisiert wurden? Wir wollen versuchen, diese Frage, die uns wiederum zur Innovation und Technologie verführen möchte, nicht zu beantworten.

Was uns den Weg weist und was wir brauchen und gebrauchen, sind Gebrauchsanweisungen. Doris' Kunst ist zu gebrauchen. Das Wetter. - Der Reihe nach. Zu den Naturkatastrophen kommen wir abschließend.

Zurück zu Doris' Gebrauchsanweisungen, gerichtet an jeden normalen Menschen, der Bücher liest, die Martin Schmitz verlegt. Die Gebrauchsanweisungen sind von Doris selbst ausprobiert; sie funktionieren; sie sind Kunst; man braucht sie nur zu befolgen; Künstler sein und Dilettant dazu. Die Disziplinen haben ihren Alleinvertretungsanspruch verloren. Wir sind im Jahr 1983, in welchem zwei große Dinge passierten: 1. trat die Tödliche Doris im Delphi-Palast auf; 2. erschien das Buch von Richard Sennett, das dann alle gelesen haben, die nicht im Palast gewesen waren, auf deutsch: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Da war einer betroffen, daß das Wort Dilettant seit ca. 150 Jahren nicht mehr positiv besetzt war.

Daß Künstler und Zuschauer streng getrennt waren, durch die 4. Wand des Theaters, das nicht mehr theatron war. Daß der öffentliche Platz des gesticolare und parlare ungenutzt blieb. Daß man irgendwie zurück müsse. - Aber Richard Sennett hatte Doris nicht getroffen; sie wäre, als er sein Epoche machendes Buch schrieb, immerhin schon 17 gewesen oder 16. So geschah es, daß in eben diesem Jahr 1983 höchst gegenwärtig die Tödliche Doris all das vollbrachte, was allwissende Topintellektuelle in ferner Vergangenheit suchten. Doris hat zum Nutzen aller Leser des handlichen Buchs "Die Tödliche Doris, Bd. 1" über die Praxis Auskunft gegeben, mit deren Hilfe man sich das Know-how zur Produktion eines vermarktbaren Audiotapes aneignet. Es geht um "Chöre & Soli Live im Delphi-Palast" (S. 45), vor allem aber um die Herstellung hierzu unerläßlicher sowie bestickter Kopfkissen: "Nun hieß es, ein neues Musikstück zu komponieren. Der Nikolaus hatte dann die entscheidende Idee. Schon seit längerer Zeit experimentierte er mit den Kissen und Bezügen seines Betts und untersuchte dabei die unterschiedlichen Klänge, die beim Singen mit gleichzeitig vor dem Gesicht beziehungsweise Mund gepreßten Kissen entstehen.

Natürlich kann man einen solchen Effekt recht unkompliziert mit den Mitteln moderner Studiotechnik erzeugen. Aber das abwechselnde Hineinsingen in Kissen ist ebenfalls sehr unkompliziert. Ein zusätzlicher Vorteil: Bei öffentlichen Auftritten ist es nicht nötig, dem jeweiligen Techniker am Mischpult genaue Anweisungen zu geben, die dann - das geschah erfahrungsgemäß bisweilen - doch nicht ausgeführt oder mißverstanden wurden. Wie dem auch sei, ein Kissen ist viel zuverlässiger und praktischer als ein Mensch oder eine Maschine.

Schon schneiderte die Käthe Bezüge für vier Federkissen, die als Stimmenregulator dienen sollten. Wir stellten fest, daß sich auch auf einer Bühne durch diese Anwendung von Kissen eine ganz klare optische und akustische Unterscheidung zwischen gedämpften Chorpassagen und Solis sowie ungedämpften Chor- und Soliteilen für das Publikum ergeben müßte. Ganz wunderbar! Natürlich hätte niemand ahnen können, daß die erste öffentliche Aufführung des Songs 'Maria ...' vor einem zum Teil völlig betrunkenen und total undisziplinierten Publikum stattfinden würde. Die sorgfältig aufeinander abgestimmten Gesangspassagen gingen Sylvester 1983/84 im absoluten Gekreische und Getobe unter."

Soweit Doris. Mein erster Beleg zur Beantwortung der Doppelfrage: Wie rezipiert die Tödliche Doris den öffentlichen Raum und welche Praktiken wendet sie an, ihn sich anzueignen? Zweitens: Was genau praktizierten Doris' Rezipienten in dieser Lokalität? Man wird nicht umhinkönnen zu bemerken, daß mein Belegstück weniger über Rezeption als über Rezeptionskatastrophen Auskunft gibt. Und das ist gut so, denn wir wollen dies im 3. Kapitel des Vortrags, den Naturkatastrophen, zum Thema machen. Denken Sie auch daran, daß zuvor das 2. Kapitel über Doris' Ethik angekündigt ist. Nun aber zum Belegstück Nummer zwei.

Wieder eine Rezeptionskatastrophe. Ein öffentliches Attentat auf Doris. Ich war daran insofern beteiligt, als ich zur Produktion einer im übrigen peinlichen NDR-Videonacht hinzugezogen war. Arglos war Doris der Einladung in die Hamburger Messehalle gefolgt. Live. Publikum. Marianne Rosenberg und Marianne Enzensberger sorgten mit ihren hellen grellen Chinesenstimmen für Jubel, dann traten die drei von der Doris auf die Bühne, und welche Praktik wandte der stadtbekannte Avantgardekünstler und Innovationsrepräsentant, dessen Name mir soeben entfallen ist, an? Er griff zu einem Trockenfeuerlöscher, der gleich rechts neben der Bühne hing, und sprühte den gesamten Inhalt in die offenen Münder der singenden Doris. Also viele Sekunden lang. Zu Hilfe eilen ging nicht, weil Doris im Chemikalienstaub verschwunden war. Sie war unsichtbar, aber ihre Stimmen, ungrell, unchinesisch, eher staubtrocken, erklangen tapfer, bis die Nebel sich legten.

Das läßt sich so leicht sagen: Doris befreit von Kontexten und zwanghaften Repräsentationen. Im Kontext eines Vortrags ist das nicht viel mehr als Wortgeklingel, leer. In der NDR-Videonacht aber führte Doris' menschenfreundliche Befreiungsdarbietung zum dorisverachtenden und menschenfeindlichen Anschlag eines rezeptionsgestörten Avantgardeprotagonisten. Doris' liebevolle Zuwendung, ihr freundliches Angebot, zur gemeinschaftlichen Normalität von Produzent und Rezipient zu finden, ließ in einem der in Disziplinen denkenden Innovationsfetischisten auf völlig undisziplinierte Weise mörderischen Haß aufflammen.

Die Kehrseite ist, daß ich, wenn ich auch als Beschützer damals versagt habe, Doris noch lieber habe. Doris lud in Berlin zum geselligen Rezeptions-Empfang. Auf dem Weg von der Gneisenaustraße in den Hinterhof zum damaligen Kino glimmten auf beiden Seiten Dutzende von Teelichtern. In der Doris-Nacht saß man nicht vor der vierten Wand, auch nicht vor der Leinwand.

Wer kam, war einbezogen in Doris' heimelige Sphäre. Wer ihr zugehört hatte, bot dann selbst ein Couplet dar. So lernte ich Klaus Beier, den immer noch geschätzten Eindeutscher der Beatleslieder, kennen. Langsam wichen die Zwänge, die dem Gemeinschaftswerk von Produktion und Rezeption entgegenstanden. NIE MEHR KONTEXT! NIE MEHR KONTEXT! Kein Vortrag! Aber Gebärdensprache! Oder, wie es Wolfgang Müller Ende der achtziger Jahre so schön formuliert hatte: "Man macht sich einfach keine allzu großen Gedanken." (Bd. 1, S. 64) Aber es wäre unfair, den Kontext dieses Satzes zu unterschlagen.

Doris hatte im Mai 1985 den Raum 376/77 des Künstlerhauses Bethanien bezogen. Käthe, Nikolaus und Wolfgang malten dort die 44 Gemälde der Serie "Was neben der Gesamtheit allen Lebens und allem Darüberhinausgehenden noch geschah". Hierfür steckte Doris zum allererstenmal Keilrahmen zusammen und bespannte sie mit preisgünstig auf dem Markt am Maybachufer erworbenen Nessel. Im Fachbereich 4 der Hochschule der Künste war sowas nicht zu lernen. Müller (Bd. 1, S.61): "Vielleicht klingt es unglaubwürdig oder mindestens etwas kokett, aber Keilrahmen waren zu dieser Zeit wirklich absurde und absonderliche Instrumente für uns. Genau wie Schlagzeug und Gitarre einige Jahre vorher, als wir den Entschluß faßten, eine Musikgruppe oder besser: eine Rockband zu gründen. Andererseits ist der Keilrahmen immer noch der normalste und naheliegendste Träger für ein Bildwerk oder Gemälde. So wie wir als Musikgruppe immer mehr Interesse an den gemeinen Rockmusikinstrumenten hatten - die Grundbesetzung bestand aus Baßgitarre, Schlagzeug und Gesang -, so setzte sich diese Normalität hier fort.

Einwände, daß der Gebrauch von Lack- oder Anstreichfarben Assoziationen in Richtung Arbeiter, Anstreicher oder Anti-Kunst wecken würde, verwarfen wir nach einer kleinen Bedenkpause. Auf die Grundierung aufgetragen, so ergaben die Vorversuche, sieht Lackfarbe gar nicht nach Fensterrahmen oder bemaltem Beistelltisch aus. Man macht sich einfach keine allzu großen Gedanken."

Ich darf hier festhalten und insistieren: Doris sucht und findet schöpferische Nähe zum Rezipienten, indem sie sich als jemand gibt, der grade auch zum erstenmal den Akt gewagt hat. Die Debütantin spricht mit einem, der auch erst den Anfang macht - oder machen könnte. Zweitens ist es beruhigend zu wissen, daß der Akt normal ist. Und drittens braucht man nicht ans Überich oder den Dogmatiker-über-uns zu denken; der leidigen Interpretationszwänge sind wir ledig; wir sind ganz unter uns, eine Gemeinschaft normaler Leute, nackt und unschuldig. 1987 spielen Nikolaus Utermöhlen und Wolfgang Müller nackt auf einer Bühne. In Warschau. Titel: "Auf dem Lande".

Wenn Sie wüßten, was diese praktizierte Idylle für Schreiber wie Leser der Frankfurter Rundschau bedeutete, denen die Gewißheit antrainiert worden war: "Der Mensch ist ein Problem. Und wir müssen eine Lösung dafür finden"! Statt sich mit Gewißheiten zu blockieren, hatten Doris' Rezipienten was zu tun, nämlich sich zu vergewissern, was an ihrer Lokalität für Akte passierten, dann Doris zu kopieren, was nur logisch wäre, wenn ich Produzentin und Rezipientin auf ein und dasselbe Sofa setze, was ich freilich hier nicht meine, sondern den Fotokopierapparat in Doris' Büro.

Käthe Kruse erzählt vom Kunstkongreß 1988 in Hamburg (Schule, S. 39): "Ich habe unsere Aktenordner mitgenommen, wo die ganzen Rohentwürfe, Texte, Fotosammlungen von unseren Reisen, Partituren, Beschwerdebriefe, Ab- und Zusagen, Reste, Plakate - eigentlich alles, was es aus den 7 Jahren Tödliche Doris gibt - zusammengetragen sind. Angefangen habe ich natürlich mit dem Häuschen, eine zwei mal zwei Meter große Pappbude, aber nicht schäbig, eher etwas rustikal gebaut. Das Kopiergerät nahm viel Platz ein. Es wurde kopiert, es gab Gespräche, die ganz tolle Konzerte waren." Und eine Säzzerbemerkung, weil Käthes Text 1988 in der taz gestanden hatte: "Mann, ist das ein tiefgründiger Dialog."

Ja, das Gespräch war ein Konzert und kein Diskurs. Das ist es: Gebärde, Geste und Daheimsein. Wir springen ins 2. Kapitel: Doris' Ethik. Wir lüften das Geheimnis von Doris' Rezeption: Menschen wenden sich an Menschen, die sich von Hemmungen, wie sie die Studienräte der Frankfurter Rundschau oder der Hamburger Avantgardekünstler antrainiert hatten, befreit haben. Doris' Humanität ist ihre Normalität. Fotokopieren muß man schon selbst, es ist vorbei damit, sich passiv zu verhalten und die Formeln von Avantgardelehrern aufzuschreiben. Wer produktiv rezipieren will, braucht dann irgendwann Käthes oder Doris' Präsenz nicht mehr. Er spielt das 3 '02 '' dauernde Stück "Ungerechtigkeit Teil II (20 Pfennig Finderlohn)" der 4. LP der Tödlichen Doris zeitgleich mit dem ebenso langen Titel "Ortsgespräch 1986" der LP 6 ab, bis der Groschen ganz von selbst fällt.

Zum abermalen: Wer hört, der produziert und ist sein eigener Chef; er ist dann auch Musiker, Doris gleich und bleibt Subjekt; wer hört, wechselt Tätigkeiten; auch Doris bleibt nicht beim Fach, sie bewirbt sich um einen Sitz im Berliner Senat, Wolfgang Müller zeichnet 1988 mit der Berufsangabe Weinhändler (Schule, S. 68). Wer zu Doris aufs Sofa kommt, dem teilt es sich mit, wie wahr sie ist, je mehr sie gottweißwo debütiert. Die Wahrheit dieser Wahrnehmung findet sich darin, daß Doris in sich ihren festen Ort hat. Niemals teilte sie sich, aus wieviel Teilen die Gruppe auch bestanden haben mag. Das ist ihre Antwort auf die von den zuständigen Repräsentanten dieser Welt so beklagte Arbeitsteiligkeit des flexiblen Menschen. Doris, die ja schon Richard Sennett hätte effektiv trösten können, wenn er denn sie hätte lassen - Doris gibt durch ihre schiere Gegenwart ohne jeden Diskursaufwand die hilfreiche Antwort auf jene, die gern in andere Zeiten gucken und uns besorgt und betroffen machen wollen, weil überall Böses dräut. Drum flink das Furcht einflößende Vokabular umgedreht: Doris hilft uns zu entglobalisieren, zu reterritorialisieren, zu entkontextualisieren sowie bitte das Fokussieren zu unterlassen und weiter nichts zu tun, als sich eine Fotokopie zu holen und sich nochmal aufs Sofa zu setzen. Doris' Werte: die Gesamtheit ihres Lebens und allem Darüberhinausgehenden nebst allem, was bei Doris' Rezipienten noch geschah.

Wir brauchen das wertvolle Doris-Zentrum, um katastrophentauglich zu sein.

Wie sieht Doris' Überlebenshilfe aus? Wir beginnen das 3. Kapitel, Naturkatastrophen, Januar 1982 bis April 1984. Video-Objekte-Fotos-Texte. Gelbe Musik, Schaperstr. 11, 10719 Berlin, die 45er Schallplatte von 1984.

Dietrich Kuhlbrodts Text ist ein Beitrag aus der Vortragsreihe zur Ausstellung "Die Tödliche Doris - Kunst" , die noch bis zum 17. Oktober im Kunstamt Kreuzberg / Bethanien, Mariannenplatz 2, 10997 Berlin, zu sehen ist. Das Buch zur Ausstellung, "Die Tödliche Doris - Kunst / The Deadly Doris Art" ist im Martin Schmitz Verlag, Berlin 1999, erschienen.