Mein 9. November

The Circumstantial & the Evident III.

Vor dem 9. November gibt es immer einen 1. November, einen 2. November usw. Ich fange also eine Woche vorher an:

2. November 1999.

Lese in der Zeitung B., dass Salomon Korn heute Abend zum Thema "Reichspogromnacht" sprechen soll. Eines der "Leider, leider"-9. November-Ereignisse in Deutschland. Die Zeitung nennt keine Adresse, nur eine Telefonnummer, die nicht existiert. Ich rufe per Handy A. an, die mir eine Adresse gibt. Mit dem Fahrrad durch den Regen zu dem angegebenen Ort, um dann festzustellen, dass die Veranstaltung dort nicht stattfindet. (Notiz für mich: Schutzbleche kaufen.)

Nach sechs weiteren Telefonaten am folgenden Tag weiß ich immer noch nicht, ob die Veranstaltung überhaupt stattgefunden hat. Zuletzt gab mir ein ratloser Mitarbeiter der Jüdischen Gemeinde die Telefonnummer vom Zentralrat der Juden, die würden mir sicherlich die Nummer von Salomon Korn geben können. An diesem Abend des 2. November ist aber nichts mehr zu machen: Ich fotografiere die Synagoge, deren Grundstein für den Wiederaufbau an einem anderen 9. November gelegt wurde, und das jüdische Restaurant O. hinter Gittern. Hungrig gehe ich zu einem jüdischen Imbiss um die Ecke, wo es Bagels gibt. Die Rap-Musik ist so laut, dass ich mich schwer auf das Essen konzentrieren kann. An den Wänden hängen zwar schön gerahmte Bilder mit hebräischer Schrift, aber die Bagels sehen nicht besonders appetitlich aus.

3. November 1999.

Die Zeitungen sind voll von Berichten zum 9. November. U., ein sehr berühmter Rockmusiker, empört sich öffentlich darüber, dass er zum zehnten Jahrestag nicht eingeladen wurde, am Brandenburger Tor zu singen. Angeblich ist er so traurig wie in seiner Kindheit, als er nicht zum zehnten Geburtstag des Klassenlieblings M. eingeladen wurde. Ein kleineres Problem ist, dass nur ein Redner beim Festakt im Bundestag (Reichstag?) aus dem Osten kommt. Das aber auch nur, weil er zufällig Präsident dieser o.g. Organisation ist. Dafür aber darf George Bush, zukünftiger Ehrenbürger von Berlin, reden.

Ich bin so in einer 9. November-Manie, dass ich sogar das Hallo-Berlin-Wochenblatt lese, das normalerweise direkt in der Papiertonne landet. Hier steht die Geschichte von einer Frau R., die am 10. November 1989 die erste Maggi-Suppe ihres Lebens aß.

4. November 1999.

Rufe bei der Bundestagsverwaltung an, um auf die Akkreditierungsliste des 9. November zu kommen. Eine komische Sache, im Telefonbuch steht unter Bundestag der Querverweis: "Deutscher Bundestag siehe auch Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)". Ohne Angabe einer weiteren Partei. (Notiz für mich: Telekom anrufen, um herauszubekommen, wieviel der Partei dieser Querverweis kostete. PDS anrufen, um nachzufragen, ob man diesen Verweis als eine gute Investition ansieht.)

Heute ist ein anderer Jahrestag, der der großen November-Demonstration in der DDR. Dazu gibt es eine Veranstaltung in der Kongresshalle am Alex. Ich könnte schwören, dass ich in der Zeitung gelesen habe, dass die Veranstaltung bis 18 Uhr laufen sollte. Aber um 17.30 Uhr ist alles vorbei. (1) Wenigstens bin ich nicht der Einzige, der zu spät kommt. Eine Journalistin von der renommierten Tageszeitung S. kommt nach mir herein und geht mit ihrem dicken Notizbuch direkt zum Veranstalter. Ich gehe raus und versuche, die Vorhänge an der Garderobe in der Vorhalle zu fotografieren. Ein Wachmann hindert mich daran. "Kein Geheimnis", sagt er mir, holt aber dennoch seinen Chef, um nachzufragen, ob es erlaubt ist, dort Fotos zu machen. Der Chef, Herr B., kommt, um mir zu sagen, dass ich Fotos machen darf. Er empfiehlt mir, wegen der Lichtverhältnisse, die Fotos tagsüber zu machen. Ich mache trotzdem ein Foto. (2)

Ich gehe schnell von der Kongresshalle weg, lasse keine rote Ampel aus und fühle mich wie ein Gesetzesbrecher. Niemand beobachtet mich, bis auf ein Kind, das mich mit seinen Augen verfolgt.

18 Uhr Alex. Ich bekomme gleich einen Schüttelfrost, vielleicht ist es wegen der Kälte und dem Wind. Über den leeren Alexanderplatz hört man das Echo der Reden zum 4. November 1989. Weit oben über den Köpfen laufen auf der Street-TV-Projektionswand die Bilder zum Text. Einige Passanten bleiben stehen und starren auf die Wand. Links und rechts rotieren Reklameschilder. Rechts: Spielbank B. So viel Spaß muss sein. Links: For rent. Zu vermieten.

Ich gehe zum Kaufhof. Zum 20. Jahrestag des Brunnens am Alex war hier groß gefeiert worden, mit der Absicht, den verkaufsoffenen Sonntag durchzusetzen. Ich bin neugierig, wie der Kaufhof den zehnten Jahrestag des 4. November feiert. Im Schaufenster springen Plüschtiere hin und her. (3) Ist das alles? (Notiz für mich: Anrufen und nachfragen, ob hier eine eigene Veranstaltung stattfand.) Um die Ecke singt und tanzt eine Gruppe von fröhlichen jungen Leuten. Sie freuen sich trotz der Kälte über Jesus; einer freut sich auch über mich. Er kommt zu mir, nennt seinen Vornamen und fragt mich nach dem meinen. (Scheiße, ich habe seinen Namen vergessen!) Er will mir ein Buch schenken, aber ich erzähle ihm, dass ich Schwierigkeiten habe, Deutsch zu lesen. Er rät mir, eine Bibel zu besorgen. Es gebe ganz gute Übersetzungen.

Zurück zum Street-TV. Beim Fotografieren von Passanten erkenne ich eines der Gesichter: F., den ich mehrere Jahre nicht gesehen habe. Er sieht gut aus, hat ein paar Kilo zugenommen und ein Kind auf den Schultern. "Unheimlich", sagt er und: "schade". Er erinnert sich an den Tag vor zehn Jahren, er hat wohl mehr erwartet. Sein Kind muss pinkeln, er geht eilig weg, gibt mir aber noch seine neue Telefonnummer.

Um 19.30 Uhr beginnt die nächste Veranstaltung in der Samariterkirche. Ich bin wie immer spät. An der Karl-Marx-Allee sehe ich, dass im Restaurant Moskwa, das seit Jahren geschlossen ist, Licht brennt. In dem Gebäude wird ein Film gedreht. Ein Mitarbeiter des Hauses sagt mir, ich soll mich an Herrn H. wenden, um eine Fotoerlaubnis zu bekommen. Draußen, beim Fotografieren des Catering-Wagens, lerne ich A. kennen. Der kommt aus meinem Nachbarstaat New York. Er erzählt von den guten alten Zeiten, als Bruce Springsteen in den kleinen Clubs an der Küste von New Jersey aufgetreten ist. Auch von dem Haunted Mansion, zwei Ausfahrten vor Seaside Heights, das um '80 abgebrannt ist. Er gibt mir auch eine gute Adresse (K.-Chaussee) in Moskau, für das nächste Mal, wenn ich wieder dort bin.

20.15 Uhr, Samariterkirche. Auf der Treppe zum Balkon gebrauchte Streichhölzer gefunden. (4) Für die vielen Teelichter, die hier brennen? Der seltsame Journalist, der seit Jahren auf allen solchen Veranstaltungen erscheint, ist wieder anwesend. Er scheint längere Zeit nicht gebadet oder seine Kleider gereinigt zu haben. Er macht viele Notizen, die er vor fremden Blicken schützt. Danach mache ich ein Foto von einer Postkarte, die jemand auf dem Rednerpult vergessen hat. Der seltsame Journalist wartet höflich hinter mir, um die Karte dann schnell in seine Tasche zu stecken.

5. November 1999.

Eine Hochzeit am Parlament der Bäume, gegenüber vom Reichstag. Das Hochzeitspaar nimmt an der Zeremonie zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls teil, um der Todesopfer an der Mauer zu gedenken. (5) Sie pflanzen einen Baum und danach die erste von Tausenden von Zwiebeln für jeden Tag, an dem die Mauer stand. Das Ganze ist eine Idee des Künstlers B. W., der ehemalige Todesstreifen soll begrünt und so Ost und West zusammenwachsen lassen. Ein Anlass für Pressefotografen. Die Hochzeitsgäste werden ständig hin und her beordert: "Alle bitte hier hinstellen, dass wir den Reichstag hinter dem Hochzeitspaar sehen." "Sie da! Bitte nach rechts!" "Bitte das Paar hochschauen ... und schön lächeln!" usw. Neben mir flucht einer auf Englisch, dass er solche Fototermine hasse. B. W., der Künstler und Pate der Kunstaktion, schenkt mir eines der Blätter, die an seiner Kutte hängen. (6)

Die Stimmung erinnert an Morgengrauen, das Licht neudeutscher Fotografie, das ich sonst immer verschlafe, und so verknipse ich einen ganzen Film. Jemand, der sich für wichtig hält, erklärt mir, dass dies eine Baustelle sei und signalisiert mir, dass ich verschwinden soll. Ich verschwinde. (7)

Am Nachmittag kümmere ich mich um Akkreditierungen beim Deutschen Bundestag und im noch nicht fertig eingerichteten Pressezentrum des Landes Berlin, "10 Jahre ohne Mauer". (8)

6. November 1999.

Heute findet ein großes Fest in der Gethsemanekirche statt. Man merkt das Bemühen, sich als Anti-Establishment zu verkaufen. Bisher hatte ich immer gedacht, diese Kirche existierte nur, um mich und meine Nachbarschaft sonntags zu wecken. Bürgerrechtler sprechen, Sänger singen, auf Tischen liegen Flugblätter, "Freiheit für Mumia", Spenden und Unterschriften werden gesammelt. Erinnert das an 1989? Die Imbissbude, wo leicht aggressive Jungs mit kurzem Haarschnitt einen blöd anquatschen, wenn man fotografiert, gab es damals sicher noch nicht.

7. November 1999.

11 Uhr. Am Deutschen Theater gibt es eine spannende Diskussion. Anwesend sind der ehemalige sowjetische Gesandte M. und G., DDR-Grenztruppen-Oberst a.D. Herr L., der auch an der Podiumsdiskussion teilnimmt, spricht den Namen des sowjetischen Gesandten M. so oft falsch aus, dass man L. einen Zettel in die Hand drückt, auf dem der Name in in Großbuchstaben geschrieben steht. Nach der Diskussion habe ich den Zettel auf dem Podium gesucht, aber er war leider schon weg.

Im Foyer verfolge ich ein Interview (Fernsehteam von Z.) mit einem anderen ehemaligen Grenztruppen-Offizier, Oberstleutnant a.D., damals Leiter der Dienststelle Zimmerstraße am Checkpoint Charlie. Er beschwert sich über die Prozesse zu den Todesschüssen an der Mauer. Ein guter Freund von ihm ist dort angeklagt und sitzt in Haft.

Draußen sehe ich mich nach einer Nummer für den heutigen Tag um. (Habe ich erwähnt, dass ich für jeden Tag einen Zettel mit beliebigen Zahlen suche?) (Notiz für mich: Nicht vergessen! Am 9. November Lottospielen mit gefundenen Zahlen.) Ich finde keine Zahl, aber eventuell einen sehr interessanten Text, er ist nur schwer zu entziffern. (9) (Notiz für mich: Zettel einem Spezialisten für Hieroglyphen zeigen.) Dann bemerke ich, dass vor mir Zahnstocher auf dem Boden liegen. (10) Leider habe ich keine Zeit, sie zu zählen. (Notiz für mich: später zurückkommen, um die Zahnstocher zu zählen, vielleicht wäre das die Zahl von heute.)

13.50 Uhr. Gorbi kommt mit Tochter und Dolmetscher am Hotel A. an. Das Publikum klatscht ihm begeistert zu. Die Leibwächter und ich kämpfen um einen guten Platz. (11) Wer wohl seine Leibwächter bezahlt? Die Pressestelle der Russischen Botschaft tut so, als wüsste sie von dem Besuch nichts. Werden einem immer Leibwächter gestellt, wenn man von einem Land oder einer Stadt eingeladen wird? Oder zahlt G. sie von seiner Rente?

Anschließend gehe ich im Tiergarten spazieren. Vielleicht kann ich die Uhrzeit für die Zahl von heute benutzen. 14.00 Uhr in Berlin ist 22.00 Uhr in ... Tokio? (12) (Notiz für mich: Auf einer Weltkarte mit Zeitzonen nachsehen!)

17.00 Uhr. Es soll eine Kunstaktion am Checkpoint Charlie geben. Irgendwas mit "Mauerverbrennung". Eigentlich kapiere ich das nicht, wie kann man Beton in Brand setzen, außerdem gibt es hier keine Mauer mehr. Künstler! Aber der Künstler erscheint nicht.

Abends: Ich glaube, es gibt heute jüdische Musik in der Gethsemanekirche. So eine weltoffene Kirche! Jeden Tag verpasse ich eine Reihe von Veranstaltungen zum Mauerfall. Ich wollte sie hier auflisten , aber selbst dazu fehlt mir die Zeit. Also: Falafel essen bei R. Biertrinken im A.

8. November 1999.

Es ist fast so weit, Bush bekommt heute seine Ehrenbürgerschaft. Da er und seine ehemaligen Freunde, Gorbi und Kohl mit Hannelore, Barbara und Eberhard, auf dem Balkon vom Roten Rathaus erscheinen sollen, stehen Hunderte Schaulustiger in der Kälte herum. Mehr als zu Monica Lewinsky ins K. am Wittenbergplatz gekommen sind. Ich bekam leider keine Erlaubnis ins Rathaus, selbst auf die Pressetribüne draußen durfte ich nicht, also bleibe ich unter dem Volk. Wenn der große Augenblick (Auftritt George and Company) kommt, fotografiere ich das Publikum. Die berühmten Persönlichkeiten sind so weit weg, dass man kaum was sieht.

A. sagt mir später, dass es sie an einen königliches Event erinnert. Sie hat es am Fernsehen verfolgt, da konnte man wenigstens etwas sehen. Nachdem die Prominenten den Balkon verlassen haben, gehen die meisten Zuschauer nach Hause. Ich warte, weil ich versuchen wollte, ein Foto von Bush in seiner Limo für meine Serie von "Prominenten in Limos" zu machen. (13) Diepgen muss noch im Rathaus sein, denn der Diepgen-Fan, der immer dabei ist, wartet noch draußen.

Ein älterer Mann kommt aus dem Rathaus, lässt sich mit dem Souvenir- Gästemappe fotografieren. (14) Er hatte Bush begrüßen wollen, aber kein Glück gehabt. Am 8. Juli 1994 aber, als Clinton Berlin besucht hatte, hat er ihm die Hand geschüttelt. (Notiz für mich: Scheiße, ich hätte ihn fragen sollen, mit welcher Hand!) (Geständnis: Ich muss zugeben, dass ich an dem Tag auch da war. In dem entscheidenen Moment, habe ich mich entschieden, ein Foto zu machen, anstatt seine Hand zu schütteln. Nachher habe ich es bereut.)

Es gibt einen Empfang, oder, wie es auf den Einladungskarten steht, ein "Get-together" für die Presse im Tränenpalast, der ehemaligen DDR Grenzkontrollhalle am Bahnhof Friedrichstraße. Wir bekommen vom Land Berlin nicht nur ein kostenloses Büfett und kostenlose Getränke, sondern auch kostenlos das "Berlin"-Heft von Merian, ein paar Bücher, einen Berlin-Kugelscheiber mit der Web-Adresse drauf. Unterhalten werden wir vom S.D. Orchestra. Alles das soll für gute Laune sorgen, damit wir nette Sachen über die Stadt / das Land schreiben.

Während ich die Berliner Pfannkuchen auf dem Büfett-Tisch fotografiere, höre ich hinter mir jemanden, der sich unzufrieden mit dem Angebot zeigt: "Berlin ist wirklich Provinz. Boulette und Berliner zum Büfett ..." (15) Schade, dass ich nie bei einem Büfett in Bonn war. Ich habe irgendwie niedrigere Ansprüche, bin zufrieden mit dem Abend und möchte mich beim Land Berlin dafür bedanken.

9. November 1999.

Endlich! Lese in der Zeitung, dass dieses Ereignis touristisch nur noch nur noch von der Love Parade überholt wird. Wow! Muss noch Filme kaufen. Finde keine O.-Filme. Muss dann leider mit einer (teuren) West-Marke (F.) fotografieren.

Pressebüro des Bundestages. Ausweis abholen. (16) Ich bin einer von nur rund 15 bis 20 Fotografen aus der ganzen Welt, die die Erlaubnis bekamen zu fotografieren. Habe ich die Jungle World als mein news outlet angegeben oder meine New Yorker Agentur genannt?

Ich schaffe es dieses Mal, pünktlich zu sein. Mache schnell ein Foto von dem Ölgemälde, das live im Saal gemalt wird. Setze mich kurz hin und sehe nur zwei Plätze weiter den japanischen Fotografen K., den ich das letzte Mal bei den Protesten auf der Oberbaumbrücke zum fünften Jahrestag des Mauerfalls getroffen habe. (Kennengelernt habe ich ihn bei der Moscow Country Club Fashion Show 1993.)

Es ist ein bisschen zu viel auf einmal, aber ich habe M. aus L.A. (USA) versprochen, einige Videoaufnahmen für ihn zu machen. Also mache ich mit der einen Hand ein Video und mit der anderen Fotos. Das Ganze ist nicht besonders spannend, aber ich freue mich, diesen historischen Moment live zu erleben. Während Kohl spricht, richte ich die Kamera auf mein Gesicht und flüstere: "This is David Reed, live from the Bundestag." Es ist mir etwas peinlich, als mich jemand beobachtet, jetzt aber bin ich froh, dass ich den Shot habe ...

Packe meine Sachen schnell zusammen, weil ich die Geburtstagsfete für die Kinder, die am Mauerfall-Tag geboren sind, nicht verpassen will. Ich renne los, während das Ereignis im Bundestag noch weiter geht. Wenn ich draußen die Leute sehe, die auf die Prominenten warten, denke ich, dass ich vielleicht einen Fehler mache: Dies wäre die perfekte Chance, ein besseres Bild von Bush oder Gorbi in ihren Limos zu bekommen.

Bei der Geburtstagsfete ist was los: Diepgen ist da und viele Fernseh-Teams. (17 und 18) Der Bürgermeister schreibt Autogramme in Souvenir-Bücher, die die Kinder zum Geburtstag bekommen haben. Ich warte höflich, und da ich kein Buch habe, frage ich ihn, ob er mir ein Autogramm auf meine Serviette gibt. Das mag er an einem solchen bedeutenden Tage aber nicht. Ich schlage ihm gebrauchtes Geschenkpapier vor, irgendwie mag er aber auch das nicht. Einer seiner Assistenten will meine Adresse notieren, um mir ein Autogramm zu schicken. Ich versuche, ihm klar zu machen, dass es ganz wichtig ist, dass das Autogramm auf den 9. November datiert ist. Glücklicherweise kommt ein weiterer Assistent mit ein paar Blättern weißem A4-Papier. Auf A4 kann der Regierende Bürgermeister endlich schreiben. (19) Ich bin froh. In meiner Aufregung habe ich jedoch vergessen, Diepgen um den Zusatz "Für David" zu fragen.

17 Uhr, Bernauer Straße (ehemaliger Todesstreifen). Die Formalitäten habe ich verpasst: Richtfest für die neue Kirche, Gedenken an die Opfer Ö Habe gehofft, dass beim Volksfest was los ist, aber es regnet und ist kalt und dunkel. Nur noch wenige Leute sind da. Ich erkenne E., dessen Dokumentarfilm

("N. d. F.") jetzt in den Hackeschen Höfen zu sehen ist. Er erzählt mir, dass ich kurz im Film zu sehen bin. Wow! (Notiz für mich: Allen Freunden erzählen, dass sie diesen Film unbedingt sehen müssen!)

18 Uhr, Moabiter Antifa-Demo. Erinnern an die "Reichspogromnacht".

Irgendwie weniger Polizei als normal. Aber wie immer: Antifas und Polizei lassen sich nicht gerne fotografieren. Selbst ein Polizeiwagen scheint vor mir zu flüchten, hält dann aber doch an, weil sein Fahrer es nicht mag, dass ich das Auto fotografiere. Ich gehe schnell weiter, bevor ich Ärger bekomme.

19 Uhr, Jüdische Gemeinde. Eine Veranstaltung zur 61. "Reichspogromnacht". Für die, die nicht im Regen bei der Demo rumlaufen wollen. Der Saal ist übervoll. Nachher stehe ich zufällig neben Bush, der sich halbherzig beim Veranstalter bedankt und dass er die Zeremonie sehr bewegend gefunden habe.

20 Uhr, Pariser Platz. Zehntausende sind da, trotz des Regens. Den Rocker U. habe ich verpasst. Alles ist aber noch nicht vorbei. Ich finde den Weg zur Pressetribüne und entdecke, dass wir einen wunderbaren Blick auf den "1/2 Meter Bratwurst"-Stand haben. Mache viele Fotos vom Feuerwerk, mit dem Stand im Vordergrund. (20) A., die dieses Mal dabei ist, fragt mich, warum

so viele Leute im Regen rumstehen, wenn sie die Ereignisse doch nur auf einer Leinwand verfolgen können. Sie ist Vegetarierin und versteht nichts von Bratwurst. (21)

22 Uhr. 25. Jahrestag des Todes von Holger Meins. Es gibt viele Veranstaltungen an der Volksbühne. (22) Viele sympathisch aussehende Menschen. Aber keine Bratwurst. Ich bleibe trotzdem und verpasse die Festivitäten an der Bösebrücke (Bornholmer Str.), wo vor genau zehn Jahren, null Sekunden die Mauer gefallen ist. Dafür sitze ich auf einem bequemen Sessel im Warmen.

0:00 Uhr, Bösebrücke. Doch nicht ganz zu spät. Es spielt die Band S.H., und Leute stehen mit Kerzen rum. Einige, die einander vor zehn Jahren kennengelernt haben, treffen sich wieder. Sie fragen mich, ob ich ein Foto von ihnen machen kann.

1.30 Uhr. Die Lichter der Gethsemanekirche sind alle an; die Türen sind aber abgeschlossen. Ein private Party? Ein Deal mit der Bewag? Oder vielleicht einfach ein vergesslicher Hausmeister?

Ich forsche nicht weiter und gehe ins Bett.

Der US-amerikanische Künstler David Reed hat unter dem Titel "The Circumstantial & the Evident" für die Jungle World (Nr. 5 und 6/99) die Spuren von sechs Medien-Ereignissen verfolgt, darunter den O. J. Simpson-Prozess, den Monica Lewinsky-Besuch in L.A. und einen Überfall auf die Bank of America. Reed lebt und arbeitet zur Zeit in Berlin.

Der Autor dankt Marion Schütt für die Übersetzung und Frau A. für ihre Unterstützung.