»Die Zeit der staatlichen Kontrolle ist vorbei«

Nach der Schließung des Berliner Videodrom durch die Sittenpolizei: Ein Gespräch mit dem Kino-Betreiber Andreas Döhler und dem Publizisten Alexander Reich

Was bedeutet das Videodrom und besonders die Schließung für Euch?

Andreas Döhler: Das ist schlicht eine Katastrophe, unter ganz verschiedenen Aspekten. Das Videodrom ist - ganz praktisch - eine Quelle, weil es dort Filme gab, die es sonst nirgendwo gibt. Das hat die praktische Kinoarbeit erleichtert - wenn man beispielsweise irgendwelche raren Filmkopien ausgegraben hat, die aber für die Pressevorführung nicht kriegt, dann konnte man ins Videodrom gehen. Und darüber hinaus ist es natürlich eine unerlässliche Inspirationsquelle. Vor allem, wenn man Festivals organisiert. Da kann man recherchieren, das ist äußerst hilfreich.

Wo liegt denn der Unterschied zu anderen Archiven?

Döhler: Das Videodrom hat einen unglaublich großen zeitlichen Vorlauf. Und dort gibt es viele Filme, die niemals in Deutschland ins Kino kommen würden. Und für Festivalmacher wie mich, die sich darauf konzentrieren, Filme zu zeigen, die keinen deutschen Verleih haben, ist es wichtig, sich solche Filme ausleihen und anschauen zu können. Das erleichtert eine Menge Arbeit: Bevor man in der ganzen Welt herumtelefoniert, schaut man einfach da vorbei, sieht sich die Neuheiten an und lässt sich inspirieren. Das Videodrom ist eben keine übliche Videothek.

Alexander Reich: Das Videodrom ist ein riesiges Archiv - und egal, ob man Filme zeigt oder darüber schreibt oder sich einfach nur so für Filme interessiert: Man steht immer vor dem Problem, dass es kein zentrales Archiv gibt, wo man hingehen und sich die Filme ausleihen kann. Das ist ein Problem der Filmkultur, dass Dinge schnell wegbrechen und vergessen werden. Deshalb ist es wichtig, dass es Institutionen gibt, wo man anrufen und fragen kann, ob sie ein Video haben.

Döhler: Seit Jahren gibt es ja diese Diskussion, jetzt wieder im Zusammenhang mit dem Umzug der Kinemathek zum Potsdamer Platz, wer finanziert ein großes Film- und Medienarchiv in Deutschland? Denn das gibt es nicht, im Unterschied zu Großbritannien beispielsweise, wo sich das Britische Filminstitut um so etwas kümmert. Und nun gibt es Leute, die aus Eigeninitiative über zehn Jahre genau so etwas aufbauen, ein Archiv, das nicht einmal von staatlichen Geldern gefördert wird, und dann wird so etwas von einem Tag auf den anderen vernichtet.

Was sind das denn für Allianzen, die sich im Zuge der Solidaritätsbewegung mit dem Videodrom ergeben?

Döhler: Das sind vor allem Leute aus dem Filmbereich. Und eigentlich ist es ziemlich erstaunlich, wie groß die Bandbreite ist. Von Filmjournalisten bis zur Berliner Filmprominenz, wie Franka Potente und Jürgen Vogel. Dass das so schnell so eine Größe bekommen hat, ist eigentlich ganz erfreulich.

Reich: Das finde ich auch wichtig. Wobei das Problem bei dieser Solidarisierung ist, dass sich neben der Empörung über die Schließung vor allem darüber lustig gemacht wird, dass sich die Polizisten nicht in der Filmografie von Faßbinder oder David Lynch auskennen und dann einen Film von Lynch mitnehmen, obwohl der gerade den Europäischen Filmpreis bekommen hat. Das ist aber nicht der Punkt. Das ist aus Versehen passiert, und man kann nicht den ganzen Diskurs darüber aufbauen, dass da verbriefte Kunst beschlagnahmt worden ist. Das ist Kunst, und danach haben die aber nicht gesucht - diese Filme werden wieder zurückkommen. Man sollte darüber reden, was sie sonst noch mitgenommen haben. Über die Filme, die nicht wieder zurückkommen werden.

Döhler: Die ganze Debatte ist natürlich verkürzt. Wobei ich mit dieser Verkürzung im Augenblick aber leben kann, weil es jetzt darum geht, die Unterstützung zu organisieren, damit das Videodrom wieder aufmachen kann. Darüber hinaus ist es aber natürlich wichtig, die Zensur- und Gewaltdebatte in einen gesellschaftlichen Kontext zu stellen. Und das sollte auch dann weitergehen, wenn die Videodrom-Geschichte ein Happy End bekommen sollte.

Natürlich muss man sehen, dass die Schließung des Videodrom im Zusammenhang mit der Diskussion über die Morde von Bad Reichenhall und Meißen steht. Genau wie die Aufregung um den Film »Tötet Mrs. Tingle«.

Reich: Ich finde es auch völlig in Ordnung, jetzt taktisch vorzugehen, um die Öffentlichkeit zu mobilisieren. Aber bevor das Videodrom wieder öffnet und alles in Vergessenheit gerät, halte ich es für extrem wichtig festzustellen, dass das Videodrom, genau so wie es war, eine Existenzberechtigung hat. Letztendlich geht es um das Prinzip der maximalen Sichtbarkeit, die das Auge ja auch an eine Grenze führt. Während das von den Rändern her immer weiter in den Kunst- oder Mainstream-Film hineinwächst, werden die Ränder selbst nach wie vor wegkriminalisiert. Ob in der Pornografie, im Zombie-Film, in »Texas Chainsaw Massacre« oder sonstwo.

Anfang der Neunziger gab es große Diskussionen darüber, ob man Filme wie »Beruf Neonazi« oder Schlingensiefs »Terror 2000« zeigen sollte oder nicht. Zur Schließung des Videodrom gibt es eine übergreifende Solidaritätsgeste von allen Seiten. Was gab es denn da für Verschiebungen in den letzten Jahren?

Döhler: Ich mache seit fast fünfzehn Jahren Kino. Und nach meiner Erfahrung gibt es keine rote Linie. Es gibt von Seiten staatlicher Organe keine kontinuierliche Repression. Man muss da sehr genau hinschauen. Viele Sachen, die Ende der Achtziger oder Anfang der Neunziger für Furore gesorgt haben - ich war da ja selbst auch betroffen -, die kamen aus einem autonomen Selbstverständnis, aus einer autonomen Politik, die es so gar nicht mehr gibt, was irgendwie auch schade ist. Das hat sich immer wieder entzündet, und war meist albern und unberechtigt. Es gibt aber keine kontinuierliche Zensur im deutschen Kino der letzten fünfzehn Jahre. Das hat eher etwas mit Willkür und persönlicher Betroffenheit zu tun. Bei der »Beruf Neonazi»-Debatte war das so, weil jemand als Privatperson den Filmemacher angezeigt hat, weil er glaubte, der Film erfülle den Tatbestand der Volksverhetzung - ich hab damals auch eine Anzeige wegen Volksverhetzung bekommen -, schließlich wurde er sogar verboten, weil der Film diesen Tatbestand zu erfüllen schien, und irgendwann hatte sich die ganze Debatte erledigt.

Dann gab es den jahrelangen Kampf des Werkstattkinos mit der Staatsanwaltschaft in München, und der ging vor allem darum, dass da ein Staatsanwalt ganz persönlich dieses Kino in sein Schussfeld genommen hat. Wenn man was finden will, dann findet man was. Im Grunde könnte jeder von uns hergehen und sagen, den Film finde ich gewaltverherrlichend und den zeige ich jetzt an. Und diese Anzeige muss dann auch bearbeitet werden.

Reich: Aber ist es nicht so, dass Leute, die damals für die Verbrennung der Filmkopien von »Terror 2000« waren, heute auf den Unterschriftenlisten gegen die Schließung des Videodroms stehen? Wäre das nicht möglich?

Döhler: Schwierige Frage. Man verändert sich und seine Wahrnehmung. Das findet man ja überall, vom Innenminister bis zu Horst Mahler. Gewisse Dinge wirft man eben über Bord. Ich glaube, dass die Debatte damals von einer gewissen Hysterie getrieben wurde. Die meisten hatten die Filme damals gar nicht gesehen, genau wie jetzt im Fall Videodrom auch. Damals war das so etwas Ähnliches wie eine Kulturdebatte. Eine, die sich rasch erledigt hat, sich aber auf anderen Ebenen fortschreibt. Seit Jahren liest man immer wieder das Gleiche, die einen sagen, die Bilder sind schuld an der Gewalt und die anderen sagen, sind sie nicht. Das sind die Positionen. Und da hat sich in den letzten fünfzehn Jahren wenig verändert.

Wäre es möglich, dass auf Seiten der Linken sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass, je geringer die eigene kulturelle Definitionsmacht ist, desto stärker die Forderung nach Zensur auf einen selbst zurückfällt?

Reich: Für mich stellt sich die Frage anders. Im Moment läuft die Debatte darauf hinaus, dass die Meinungsfreiheit auf jeden Fall gewahrt bleiben muss. Wenn man sagt, dass jeder seine Meinung äußern darf, dann ist man nicht weiter als dabei, die Freiheit des bürgerlichen Individuums zu fordern, das tun und lassen kann, was es will. Ob das eine Gewaltphantasie ist oder irgendwas anderes. Das ist aber erst einmal inhaltlich nicht gefüllt. Um bei einer Zensur-Debatte zu landen, müsste man das aber inhaltlich aufladen, eine Grenze ziehen, damit man etwas hat, worüber man sich verständigen kann.

Man braucht also immer eine Grenze?

Döhler: Das ist ein wichtiger Punkt. Die Zeit der staatlichen Kontrolle ist schlicht vorbei. Wenn man sich Feuilletondebatten anschaut über das Fernsehen, dann heißt es ständig, es gibt keine Grenzen mehr, Privatfernsehen, alles ist möglich, jede Geschmacklosigkeit. Genauso im Internet. Die Staatsanwaltschaft verhält sich wie ein Dinosaurier, der Kontroll-Dinosaurier, der merkt, dass er stirbt und nun noch einmal zuschlägt und sich so einen kleinen Laden schnappt. Während drumherum überhaupt nichts mehr unter Kontrolle ist. Das Fernsehen und das Internet sind schwer bis gar nicht zu kontrollieren und das finde ich auch gut so. Der Glaube, man könnte Listen mit Filmen aufstellen, die indiziert sind, und das dann mit dem Sortiment des Videodrom abgleichen, um zu schauen, was erlaubt ist und was nicht, ist ein völliger Anachronismus.

Was tritt denn an die Stelle dieses alten Kontrollregimes?

Döhler: Für mich und für die Leute vom Videodrom geht es beim Ziehen unserer Grenzen um eine gewisse Selbstkontrolle, eine cinematographische Kompetenz. Man weiß eben, an welche Grenzen man mit dem, was man zeigt oder was man ausleiht, gehen will. Und was darüber hinausgeht, ist dann in einem positiven Sinne nicht erlaubt. Weil es ja auch nicht darum geht, alles zu zeigen. Ich will nicht alles zeigen. Und dieses Wissen ist Teil des Selbstverständnisses von vielen Leuten. Und diese Selbstkontrolle ist auch nicht festgeschrieben, das ist ein Selbstverständnis, mit dem man Kulturarbeit macht.

Reich: Ich glaube, dass der Aspekt der ökonomischen Verteilung von Gewalt entscheidend ist. Gerade, wenn man von Fernsehen spricht und von Quoten. Das ist auch eine Art von Selbstzensur - die anders funktioniert als bei Dir, aber Du bewegst Dich ja auch an den Rändern - aber das ist eine Zensur, die über einen ökonomischen Druck funktioniert. Und dieser Druck tritt an die Stelle der alten Zensur. Eine bestimmte Art von Gewaltdarstellung ist erlaubt und wird gewollt, und eine andere, die die nicht gewollt wird - die häßliche, obszöne Gewalt -, die wird zensiert. Die eine ist sauber, die andere ist dreckig.

Und es geht ja nicht nur um Verbote. Ob ein Film ein Prädikat bekommt wie »besonders wertvoll« oder nicht, das hat ökonomische Konsequenzen, davon hängt ab, wieviel Vergnügungssteuer gezahlt werden muss. Das sind entscheidende ökonomische Faktoren. Genau wie bei der Freiwilligen Selbstkontrolle. Ob man dort ab 8, ab 12 oder ab 14 freigegeben wird, das ist wichtig, wenn es darum geht, wieviel ein Film einspielt.

Widerspricht sich das?

Reich: Natürlich ist das okay, wenn Leute, die mein Vertrauen haben, Kultur machen, dafür bin ich auch dankbar. Trotzdem ist das ein Problem, wenn eine Wirtschaftslogik an die Stelle von staatlicher Zensur tritt.

Ist es da nicht kontraproduktiv, wenn das Videodrom jetzt vor allem damit verteidigt wird, dass »anspruchsvolle Filme« beschlagnahmt wurden?

Döhler: Natürlich haben die dies und jenes als Fehlgriffe mitgenommen. Das sollte man ganz schnell als Anekdote abhaken. Darum geht es nicht. Es geht darum, dass es riesige Diskrepanzen gibt, und dass Bewertungen relativ sind. Der besagte Film »Texas Chainsaw Massacre« ist mittlerweile ganz offiziell im Museum Of Modern Art in New York als einer der wichtigsten 100 Filme der Filmgeschichte aufgeführt. Und darüber gab es jahrelang die heftigsten Schlachten. Inzwischen ist er ja nicht einmal mehr verboten ...

Reich: Man darf ihn allerdings nicht bewerben, was einem Verbot gleichkommt, weil, wie willst du ankündigen, dass er irgendwo gezeigt wird, wenn du ihn nicht bewerben darfst. Du darfst den Titel nicht nennen. Du darfst nicht sagen, dass du ihn zeigst.

Dafür bräuchte man dann wieder das Videodrom, wo man ihn sich ausleihen könnte.

Reich: Genau deshalb darf eben nicht passieren, dass die ganzen »anspruchsvollen Filme« wieder in den Regalen stehen, aber ein halbes Dutzend anderer Filme einbehalten wird und alle zur Tagesordung übergehen und die Diskussion nicht weitergeführt wird.

Döhler: Mir fällt im Zusammenhang mit dieser ganzen Videodrom-Affäre auf - und da will ich mich gar nicht ausnehmen -, dass eigentlich niemand wissen will, wie diese Kontrollen konkret funktionieren. Welches Kontrollorgan prüft welche Filme, was für Leute sind das und was für Kriterien legen die an? Bei der FSK weiß man einigermaßen, wie das funktioniert, aber wie ist das bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften? So lange nichts passiert, interessiert das niemand, aber da sollte man doch ein bisschen mehr Interesse hineinstecken, wie solche Prozesse genau ablaufen und nach was für Kriterien da vorgegangen wird.

Reich: Im Grunde müssten diese Gutachten publiziert werden, nach welchen Kriterien da entschieden wird, ob irgendetwas jetzt Kunst ist oder nicht. Man müsste sich erkären lassen können, was man nicht sehen darf und warum. Natürlich wird das davon abhängen, wie die Staatsanwaltschaft sich verhält und welche Filme nicht zurückkommen werden. Dann müsste man schauen, ob man an diese Gutachten herankommt. Wer entscheidet wie und warum darüber, welche Filme Leute sehen dürfen, die älter sind als 18 Jahre.

Und da wird sich dann die Frage stellen, wie weit so eine Allianz zur Rettung des Videodroms trägt. Ob Franka Potente dann immer noch bereit ist, bestimmte Filme zu verteidigen. Fänd ich gut, wenn sie das machen würde. Aber da wird es dann interessant. Ob man die Öffentlichkeit, die jetzt da ist, dann immer noch nutzen kann, um über solche Dinge zu sprechen. Und dabei geht es ja nicht nur um Prominente, genauso kann man fragen, wie weit Videodrom-Sympathisanten bereit sind, den Verleih von Filmen zu verteidigen, die ihren politischen Überzeugungen entgegenlaufen.

Wie werden solche Indizierungen in anderen Ländern gehandhabt? Gibt es anderswo ein deutlicheres Bewusstsein dafür, wer bestimmt, was läuft und warum?

Döhler: Man darf Deutschland nicht dämonisieren. In England etwa ist das teilweise schlimmer. »Fight Club« ist da nur gekürzt ins Kino gekommen, es hat Monate gedauert, bis »Crash« von David Cronenberg dort freigegeben worden ist. Da ist aber auch eine andere Sensibilität am Werk. Da geht es vor allem um Kino: Kino als öffentlicher Raum wird deutlich von Videos getrennt. Und so ist dort im Videobereich einiges mehr möglich als in Deutschland. Da wird nicht so restriktiv zugeschlagen, während die britische Zensurbehörde im Kinobereich relativ streng ist.

Am kommenden Freitag, dem 17. Dezember, wird es in der Berliner Akademie der Künste eine Podiumsdiskussion zur Schließung des Videodroms geben. Teilnehmen werden der Regisseur Jörg Buttgereit, der Filmkritiker Volker Gunske und der Filmemacher Wilhelm Hein. Im Anschluss wird der Film »South Park« gezeigt.