Die West-Linke und Jugoslawien

Dark Continent

Anfang der neunziger Jahre fiel mir ein schmales rotes Buch über Tito in die Hände, das zwanzig Jahre vorher erschienen war. Dieses Buch machte mir klar, dass eine Debatte abgerissen ist, die in den Sechzigern und Siebzigern zwischen der westlichen und der jugoslawischen Linken existiert hatte. Über die Bedeutung des sozialistischen Jugoslawien für die West-Linke war dort im Vorwort zu lesen: »Während der Mitarbeit an Büchern zu den Mai-Ereignissen in Frankreich und den Betriebskämpfen bei Fiat drängte sich die Frage nach dem bestehenden Modell einer Gesellschaft auf, in der die unmittelbaren Produzenten die gesellschaftliche Entwicklung bestimmen. Ein solches Modell bietet die in Jugoslawien seit 1950 durchgeführte Arbeiterselbstverwaltung.« Im Laufe der siebziger Jahre riss die internationale Diskussion zwischen West- und Ost-Linken, die links von den KPen positioniert waren und im warmen Wind von '68 segelten, ab.

Als in den achtziger Jahren gleichzeitig in Jugoslawien und in der BRD neue soziale Bewegungen auftauchten, existierte ein größeres internationales Gesprächsforum zwischen Ost- und West-Linken nicht mehr. Dabei wäre es interessant gewesen zu diskutieren, warum die mikro-politischen Bewegungen in Jugoslawien die Nationalisierung der Gesellschaft nicht aufhalten konnten, während sie in der BRD die Mischung aus Konservatismus, Lifestylisierung und Neo-Nationalismus nicht abgeblockt haben.

Als in den neunziger Jahren die nationalistisch und rassistisch motivierten Sezessionskriege in Jugoslawien begannen, hat sich die BRD-Linke weitgehend darauf beschränkt, die deutschen Interessen, die deutsche Anerkennungspolitik und ihr antiserbisches Ressentiment zu kritisieren. Es gab kaum Ost-West-Diskussionen über das Schicksal der slowenischen Subkultur, die in den Achtzigern die Machtstruktur des Systems aufgebrochen hatte und dann erkennen musste, einer bürgerlich-nationalen Reform und der endgültigen Einführung des Kapitalismus Raum verschafft zu haben. Es gab kaum Diskussionen mit der marginalisierten Anti-Kriegsbewegung in Kroatien, mit Leuten von dem Zagreber Magazin arkzin zum Beispiel, die gegen Tudjmans faschistoide Politik zu agieren versuchten. Es gab kaum Diskussionen mit linksalternativen, gewerkschaftlichen oder feministischen Gruppen in Serbien, die die Kriegspolitik, den Nationalismus und Rassismus der Sozialistischen Partei, des ehemaligen Bundes der Kommunisten Serbiens, angriffen.

Während der Nato-Bombardierung wurde für große Teile der BRD-Linken Jugoslawien vollständig zum dark continent. Das Land war eine Leerstelle, reines Objekt westlicher Strategien. Analysen und politische Praktiken beschränkten sich auf eine radikale Kritik des Nato-Angriffs und auf die Beschreibung von Rot-Grün als neokoloniale Modernisierer. Die deutsche Linke diskutierte ihre Differenzen, was die ökonomischen, militärischen und ethnifizierten Konzepte des Westens anbelangt. Jugoslawische KritikerInnen des Nationalismus und des Kriegs, die hier leben, wurden nur sehr zögerlich zu Diskussionen eingeladen.

Gerade weil die moral majority der Neuen Mitte die Ethnifizierung des ehemaligen Jugoslawiens und die rassistischen Kriege als Begründung für ihren neo-militärischen Interventionismus instrumentalisiert haben, ist es wichtig, eine gemeinsame Diskussion über Nationalismus und Herrschaftsstrategien hier und dort aufzubauen. Eine Politik des taktischen Schweigens über das Scheitern des jugoslawischen Sozialismus schafft es nicht, den herrschenden Begründungszusammenhang zu zerschneiden.

Hatte die Positivität von 1968 Fiat-Besetzung, Uni-Streik und den Kampf um das Schicksal des jugoslawischen Selbstverwaltungs-Sozialismus für eine historische Sekunde verschweißt, müsste die soziale Negativität der Neunziger die Kritik am Krieg der Neuen Mitte und am Sieg des Nationalismus in Jugoslawien zusammenbringen.