Migrantische Selbstorganisation

Ende einer Bootsfahrt

Während die italienische Regierung Schaukämpfe gegen die Schleuser in der Adria führt, organisieren sich die Immigranten.

Fünf Tage lang war das Schiff ohne Namen und ohne Flagge von Izmir unterwegs. Trotz eines Sturms erreichte der alte Kutter am Montag vergangener Woche die süditalienische Küste. An Bord drängten sich 435 kurdische Flüchtlinge.

Die Bilder von den überfüllten Schiffen der Immigranten sind in Italien inzwischen zu einer Gewohnheit geworden. Und nicht immer sind die Landungen an den Küsten des Stiefels spektakulär. Besonders in den Sommermonaten, wenn das Mittelmeer ruhiger ist, setzen Tausende nicht-offizieller Einwanderer in kleinen Schlauchbooten von Albanien nach Italien über. Die Meerenge bei Otranto hat sich zu einer der Hauptrouten ins Schengenland entwickelt.

Ende Juli zeigte die Nachrichtensendung mit den höchsten Einschaltquoten in Italien, Tg1, eine bemerkenswerte Reportage: Ein Kamerateam begleitete die albanische Polizei bei ihrer Jagd auf ein Boot in der Adria und filmte, wie einige Schleuser anschließend in einer Flussmündung in Albanien festgenommen wurden. Neben den albanischen Polizisten, die ihre Gesichter unter Mützen verbargen, waren nach Angaben des Reporters auch zwei italienische Beamte am Einsatz beteiligt. Die Jagd war erfolgreich. Das neue Schlauchboot wurde beschlagnahmt, »den Insassen gelang es jedoch zu entkommen«, wie es in der Reportage hieß. Dennoch: Die Aktion sei ein »harter Schlag« gegen den organisierten Schleuserverkehr.

Die Verfolgungsjagd war mit großer Wahrscheinlichkeit gestellt, um der italienischen Öffentlichkeit vorzuführen, wie erfolgreich gegen die »skrupellosen Schleuser« vorgegangen wird. Denn nur ein paar Tage zuvor waren beim Zusammenstoß eines Schleuserboots mit der italienischen Küstenwacht zwei italienische Beamte ertrunken, wie es offiziell hieß. Insgesamt starben fünf Menschen bei der Kollision. Es gibt viele Hinweise darauf, dass die drei Insassen in dem Schlauchboot hauptberuflich albanische Polizisten waren.

In der südalbanischen Stadt Valona wissen alle, einschließlich der Polizei, wo die schnellen Boote liegen, wer sie steuert und wer sie in Stand setzt, wo sie ablegen, welche Preise für die heimliche Reise ans andere Ufer gezahlt werden und wer die Geschäfte führt. In einem Interview mit der Monatszeitschrift Carta berichtete ein albanischer Schleuser detailliert, wie der Transport der Immigranten organisiert ist. Die Schleuser hätten nicht das geringste Interesse daran, dass ihre Kunden Schaden nehmen. Denn das würde auch dem Geschäft schaden. Für ihn sei die Lage offensichtlich: Wo immer eine Ware verboten ist, seien es Drogen, Waffen oder Einwanderung, gibt es auch jemanden, der diese Ware beschafft.

Was in der Adria geschieht, ist kein Geheimnis. Doch in den Massenmedien und in der italienischen Öffentlichkeit geht es nicht um Erkenntnis, die Diskussion wird derzeit immer hysterischer. Im nächsten Jahr stehen Wahlen an. Und weil die rechte Oppositionskoalition von Silvio Berlusconi bessere Chancen hat, versucht die Mitte-Links-Regierung mit allen Mitteln zu demonstrieren, dass sie weitaus entschiedener als die Rechte gegen das Phänomen vorgeht.

Andererseits ist in den letzten Monaten klar geworden, dass die jährliche Einwanderungsquote von 65 000 Personen nicht ausreicht. Denn die Industrie in Norditalien braucht mehr solcher Arbeiter, denen sie für einen geringen Lohn eine hohe Flexibilität abverlangen kann. Daher hat sich die Regierung für eine Doppelstrategie entschieden: Den illegalen Immigranten begegnet sie mit Härte, gleichzeitigwird aber darüber nachgedacht, die kontrollierte Einwanderung um 30 000 Personen zu erhöhen.

So ist eine zutiefst rassistische Diskussion darüber entstanden, wie nützlich die Einwanderer sind - ohne die schon jetzt der gesamte Produktionsapparat in der Lombardei und im Veneto nicht funktionieren würde. Außerdem gelten sie als potenzielle Retter für das Rentensystem in der alternden italienischen Gesellschaft. Zugleich wird davor gewarnt, die massive Einwanderung von ausländischen Arbeitern bedrohe die nationale Identität der Italiener. Sogar die größte italienische Tageszeitung Corriere della Sera weist in einem Leitartikel auf die Gefahren einer »multi-ethnischen Gesellschaft« hin. Stattdessen wird das nordamerikanische Modell empfohlen: Der Kontakt zwischen den einzelnen ethnischen Enklaven wird ausschließlich über die dominierende angelsächsische Kultur hergestellt.

Nach vielen Verhandlungen erklärte Innenminister Enzo Bianco, die Einwanderungsquote werde in absehbarer Zeit nicht erhöht, denn zunächst müsse festgestellt werden, wie viele junge Leute aus Süditalien, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist, bereit sind, im Norden Arbeit anzunehmen. Mit anderen Worten: Wäre auch ein Kalabrier bereit, die gesundheitsschädlichen, schlecht bezahlten Arbeiten anzunehmen, die fast ausschließlich von ausländischen Arbeitern verrichtet werden? Das ist die offizielle Frage.

In der Zwischenzeit gewöhnen sich die Italiener an die unter ihnen lebenden Immigranten. Das tun sie auf ihre Weise, oft entgegen der Stimmung in den Medien und der Politik. Bemerkenswert ist der Widerstand vieler sozialer Organisationen gegen die so genannten Zentren für befristete Inhaftierung. In diesen Lagern werden Immigranten ohne Papiere bis zu einem Monat eingesperrt, und zwar ohne irgendeine Anklage und ohne die üblichen Rechte eines Beschuldigten. Die Proteste haben dazu geführt, dass die beiden übelsten dieser Lager in Triest und Mailand geschlossen wurden. Zudem wurden keine neuen Lager eröffnet. In Sizilien hat die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen den Präfekten von Trapani erhoben. Dort waren zu Beginn des Jahres fünf Inhaftierte bei einem Brand ums Leben gekommen. Sie hatten gegen die Zustände im Lager protestiert. Alle fünf starben in einer Zelle, weil trotz des Feuers niemand rechtzeitig die Tür öffnete. Nun scheint es, dass auch das Lager in Trapani bald schließen muss.

Noch ermutigender sind die selbstorganisierten Proteste der Immigranten in den letzten Monaten, die in Brescia begannen. Vor einem Jahr wurde den Pakistanis, Indern und Afrikanern, auf deren Arbeit die kleineren und mittleren Unternehmen in der Region angewiesen sind, die Möglichkeit gegeben, sich registrieren zu lassen. Versprochen wurden ihnen eine Aufenthaltsgenehmigung für fünf Jahre, reguläre Papiere und einige soziale Rechte. Daraufhin stellten 200 000 Immigranten einen Antrag. Und das trotz der hohen Anforderung, eine Wohnung und einen regulären Arbeitsvertrag nachzuweisen - in einem Land, in dem »schwarze« Mietverträge und Arbeitsverhältnisse den Normalfall bedeuten.

Doch rund 50 000 dieser Anfragen verstaubten in den Polizeipräsidien und wurden nie bearbeitet. Die Immigranten in Brescia wollten nicht länger warten und gingen in den Hungerstreik. Mit der Unterstützung einiger Centri Sociali, der linken Gewerkschaft CGIL und anderen Gruppen organisierten sie eine Großdemonstration. Der Protest weitete sich auf andere Städte aus. In Rom fand zum ersten Mal eine Demonstration statt, auf der nur Ausländer mitliefen.Zwar versprach die italienische Regierung inzwischen Besserung, doch noch immer werden die Aufenthaltsgenehmingungen nur schleppend ausgestellt.

Und so gehen die Proteste weiter: In mehreren Städten gingen am Wochenende Migranten wieder auf die Straße.

Pierluigi Sullo ist Chefredakteur der italienischen Monatszeitschrift Carta.