Hungerstreik türkischer Gefangener

Fasten für den Knast

Nach über 50 Tagen Hungerstreik gibt die türkische Regierung den Forderungen der politischen Häftlinge nach.

Erst vier Jahre ist es her: Jede Woche gab es damals mindestens einen Toten, in Bayrampasa, Kartal, den Istanbuler Haftanstalten, in denen die meisten politischen Gefangenen einsitzen. Damals gab es eine islamistisch-rechte Regierung. Der Justizminister Sevket Kazan musste schließlich eingestehen, dass er die Kontrolle über die Situation verloren hatte. Intellektuelle mit Knasterfahrung wie der Anwalt und Menschenrechtler Eber Yagmurdereli sowie bekannte Schriftsteller und Künstler wie Yasar Kemal und Zülfü Livaneli vermittelten schließlich in dem Konflikt.

Ähnlich gestaltete sich auch die Entwicklung in dem aktuellen Streik. Am 51. Tag des Hungerstreikes besuchten Orhan Pamuk, Yasar Kemal und Zülfü Livaneli die Hungerstreikenden in Bayrampasa. Gleichzeitig erklärte der Justizminister Hikmet Sami Türk, dass die geplante Verlegung der Häftlinge in den F-Typus - Gefängnisse mit Einzelzellen oder Zellen mit zwei oder drei Insassen - auf unbestimmte Zeit verschoben ist. Die Regierung wolle nicht »Gesundheit und Leben der Gefangenen gefährden«. Die neuen Zellen sollten erst dann belegt werden, wenn eine Vereinbarung mit den Hungerstreikenden getroffen sei.

Damit ist die Hauptforderung der mehr als 200 Streikenden erfüllt. Zu dem Erfolg beigetragen haben sicherlich auch die zahlreichen Solidaritätsaktionen. So protestierten in Istanbul am vergangenen Wochenende über 1 000 Personen friedlich für das Anliegen der Häftlinge. Dennoch wurden etwa 200 Teilnehmer festgenommen. Auch in zahlreichen europäischen Städten wurden Kundgebungen abgehalten.

Doch der Preis für diesen vorläufigen Erfolg ist hoch. In Rotterdam wurde am Sonntag ein 22jähriger Belgier erstochen, nachdem vermutlich Angehörige der faschistischen Grauen Wölfe eine Solidaritäts-Kundgebung angegriffen hatten. Zehn Gefangene schweben derzeit noch in Lebensgefahr: Die Gefangene Ayse Eren etwa wiegt noch 36 Kilo. Auch wenn sie den Hungerstreik jetzt abbricht, wird sie lebenslange Schäden davontragen. Warum also innerhalb von vier Jahren der zweite große Todes-Hungerstreik?

Schon 1996 wurde eine Reform angekündigt, alles sollte besser werden. Es hat sich allerdings wenig verändert. Nun sollten mit dem F-Typus vor allem die großen Gemeinschaftszellen abgeschafft werden. Tatsächlich ermöglichen diese Zellen, dass sich starke Fraktionen im Knast bilden, die sich dann auch noch untereinander bekämpfen.

So gibt es die PKK-Zelle, die Hisbollah-Zelle und natürlich auch die Mafia-Zellen. Die Mafia schmiert auch regelmäßig die Gefängnisleitung, sodass die Inhaftierten unter anderem Waffen, Laptops und Mobiltelefone besitzen. Kolumbianische Zustände also, nur, dass die Gefangenen anstelle von Pablo Escobar Alaatin Çakici oder Haluk Kici heißen.

Die politischen Gefangenen wehren sich gegen den F-Typus, weil sie nicht in der Lage sind, die Gefängnisleitungen zu bezahlen. Stattdessen konnten sie sich bisher halbwegs durch ihre Kollektivität schützen. Denn das Hauptproblem der Gefangenen ist die Willkür in den Strafanstalten. In Filmen wie »Midnight-Express«, die die Situation in den türkischen Knästen international bekannt gemacht haben, erfährt man nichts über dieses System. Die beste Beschreibung der Zustände hat wohl Yilmaz Güney mit »Duvar« produziert. Der Film handelt vor allem von Kindern im Knast, die versuchen, sich gegen Vergewaltigung und Missbrauch zu wehren.

Die Misshandlungen von Gefangenen oder die Tatsache, dass den Angeklagten häufig die Teilnahme an laufenden Verfahren verweigert und die Kommunikation mit ihren Anwälten verwehrt wird, sind nicht durch Gesetzesreformen oder Appelle zu verändern, wie es die wechselnden türkischen Regierungen immer wieder versucht haben. Solange die Reformen vor allem bei den politischen Gefangenen nicht angewendet werden, sind sie nutzlos. Dieser Umstand erklärt auch, warum die Gefangenen auf Gemeinschaftszellen bestehen. Denn trotz aller Widrigkeiten garantieren diese Zellen immerhin noch ein gewisses soziales System - auch wenn sie von autoritäten Strukturen und politischen Flügelkämpfen geprägt sind.

Es bleibt jetzt abzuwarten, wie die Ecevit-Regierung das Problem angehen wird. Grundsätzlich könnten die großen Zellen mit zwei Dreiergruppen sogar eine Verbesserung darstellen, zumal, wenn Rechte wie der Zugang zu Medien, Büchern und Gemeinschaftsräumen oder der tägliche Hofgang garantiert würden.

Die neuen Gefängnisse des F-Typus bieten jedoch auch zahlreiche Möglichkeiten für einen Missbrauch. Das wissen die 13 000 politischen Gefangenen in den türkischen Knäste nur zu gut. In den Gemeinschaftszelle sind zur Zeit etwa 30 bis 40 Menschen zusammengepfercht, oft auch bis zu hundert. Meistens sind diese Gemeinschaftszellen für maximal die Hälfte der Menschen gedacht.

In vielen Strafanstalten müssen sich zwei bis drei Gefangene ein Bett teilen, deshalb wird oft in Schichten geschlafen. Die Verpflegung wird über die Angehörigen organisiert, da die Mahlzeiten häufig ungenießbar sind. Der Vorteil davon ist, dass Gefangene, deren Angehörige weit weg wohnen oder die keine Verwandte mehr haben, mitverpflegt werden. Die hygienischen Verhältnisse sind unbeschreiblich. In der Regel gibt es eine nicht funktionierende Toilette für Dutzende von Menschen, Hepatitis und andere Krankheiten sind keine Seltenheit. Zwischen 1981 bis 1998 verloren 230 Menschen ihr Leben in den Haftanstalten, 175 davon waren wegen politischer Delikte verurteilt.

Einige überlebten die Folterungen nicht, andere wurden bei der Niederschlagung von Aufständen erschossen oder starben, weil ihnen medizinische Hilfe verweigert wurde. So starb Murat Dil vor zwei Wochen im Istanbuler Beyoglu Krankenhaus. Dem an Leberkrebs erkrankten politischen Häftling wurde die Behandlung verweigert, was einer Hinrichtung ohne Urteil gleichkam.

Vieles müsste also verändert werden, aber neue Gefängnisse werden sicherlich keine Lösung bringen. Mit in diese Diskussion fließt auch das umstrittene Amnestiegesetz ein. Die türkische Nationalversammlung hatte vergangenen Freitag ein entsprechendes Gesetz gebilligt, durch das fast die Hälfte der 72 000 Häftlinge mit ihrer baldigen Freilassung rechnen können. Ausgeschlossen von dem Straferlass sind Personen, die wegen Hochverrats und anderer staatsfeindlicher Taten verurteilt wurden, Vergewaltiger sowie wegen Korruption verurteilte Beamte und Drogenhändler.

Die türkische Regierungskoalition versucht vor allem, ihre Gefängnisse zu leeren: Profitieren werden vor allem konventionelle Straftäter. So kann ein Serienkiller tatsächlich einen Straferlass erwarten, während Mitglieder politischer Organisationen, die in keine Gewaltakte verwickelt sind, leer ausgehen. Ihre Straftaten fallen unter das Anti-Terrorgesetz. Und da hört für den türkischen Staat schließlich die Gnade auf.