Ein Geschichte aus Forschung und Traurigkeit

Gut in Mathe, schlecht in Intimität

Eine Geschichte aus Forschung und Traurigkeit.

Ich will weg. Dahin, wo die Menschen Steine essen und zwei Leute für einander mehr sind als beschlagene Spiegel.

Ihr Hals ist trocken, die Arme hängen schlaff am müden Leib. Der Taillensaum ihres Le Tigre-T-Shirts ist dreckig, sie hat sich damit die Augen auszuwischen versucht, als das langweilige Weinen anfing. Das ist viele Stunden her, das blöde Weinen hört aber nicht auf. Lydia spürt in ihrem Kopf, in der verstopften Nase, hinter der heißen Stirn, alte Lieder aus der Teeniezeit dröhnen - Motörhead: »... maybe this time babe, you're gonna get it right / one moment you were there, now just an empty chair ...« Lustig (oder doof, je nachdem), woran man denkt, wenn man eine Entscheidung getroffen hat, die alle bestürzen wird. Ihre ist getroffen, seit vorgestern Mittag, nach dem letzten Gespräch mit Marcus. Es war gar nicht so leicht, alles zusammenzutragen. Wenigstens hat die persönliche Sache auch eine objektive Seite: Lydia wird »die Vielwelten-Interpretation der Quantenmechanik beweisen«, nach dem Rezept, das in dem Max-Tegmark-Papier von 1997 steht. Die Versuchsanordnung ist aufgebaut, Lydia ist bereit, es durchzuziehen.

»Es durchziehen«: Marcus hat immer gelacht, über diese sturen Wendungen, die so »very Lydia« sind. Er weiß, was sich gehört, lacht leise, höflich über ihre Schrullen, ihre harten Handtücher, ihren Ordnungswahn und dass sie mit seinen philosophischen Monologen nicht so viel anfangen kann. Aber eben: er lacht. Sie dagegen lacht nicht, zweifelt nicht, muss immer nur die Differenz rausarbeiten, wie bei einem wissenschaftlichen Problem. Dann, wenn's klar ist, versichert sie ihm, wie sehr sie ihn liebt. Stimmt ja auch. Soll ihn aber irgendwie zugleich auf Distanz halten: Ich bin es, die hier liebt. Kein Wunder, dass sie ihn verloren hat. Sie ist eben verbissen und »zieht es durch«. Du kommst aus behüteter Familie, Marcus, für dich klingt's bockig, aber ich wär' am Arsch ohne diese Platte. Ich hätte, wär's nach meinen Eltern gegangen, irgend so'n Heizungsbauer oder Fleischer geheiratet und seine Bälger geworfen, statt Physik zu studieren. Für mich ist diese Sturheit Teil meines Skeletts, für dich unangenehm. Deshalb bis du jetzt auch bei Monika, denn die ist nett statt bockig.

»Und, naja, sie ist auch mehr mein Typ, äußerlich. Das ist unfair, und ich hätt's früher merken müssen, aber ich muss dir doch jetzt die Wahrheit sagen.« Ja, musst du, denkt Lydia. Nach dem ersten Seitensprung mit Monika, vor einem halben Jahr, war die abschließende Wahrheit noch: »Ich hab' mich für dich entschieden, du Küken. Und bin froh. Wir passen so gut zusammen, du und ich.« Das war wahr. Aber das andere auch, damals schon: Dass Monika cool ist und »besser aussieht«. Wie kann beides wahr sein? Tja, zur Wahrheit gehört mehr als bloß »wie die Dinge sind«. Erst wenn man sie lebt, wird sie lebendig. Lebt man Wahrheiten aber so, als wären sie einem aufgezwungen worden, dann gibt's keine Vorwarnung. Dein schönes, starkes Herz, Marcus, das so fein mit mir lachen konnte, kann leider furchtbar feige sein. Wie lange hat es gebraucht, um zu kneifen, beim größten denkbaren Abenteuer? Fast ein Jahr. Samt der kleinen Unterbrechung, in der »schon mal was war« mit Monika.

Die liest sogar die richtige Musikzeitschrift: die, für die Marcus manchmal schreibt. Monika, Freundin des Monats. Cool. Klar, aber erst du machst sie dazu, indem du mich für sie verlässt, denkt Lydia. Ich bin definitiv nicht mehr cool. Bloß noch kaputt. Beschädigtes Arbeiterkind. Ehrgeizig, gut in Mathe, schlecht in Intimität. Keine Nähe, hat Marcus sich immer beklagt. Nur: woher soll die Nähe kommen, wenn die Sehnsucht größer ist als der Wortschatz?

Dabei ist Lydias Wortschatz so klein auch wieder nicht. Aber die Sehnsucht war immer mächtiger als die Ausdrücke aus Lydias schmalem Wörterbuch der Liebe. Einmal, als sie ihn vom Bahnhof abholte, sah sie ihn schneller als er sie. Sein Herumirren und Suchen zwischen all den Fremden war das Schönste, was sie einen Menschen je tun gesehen hatte: eine Seele, die ihre sucht. Da wusste sie: Was sie jetzt nicht hat, braucht sie gar nicht, und was sie jetzt nicht weiß, kann sie dafür spüren.

Aber als er sie dann fand, war der Moment fast schon vorbei, und sie war innerlich verstummt vor Ehrfurcht, weil das so mächtig gewesen war. Da hat sie dann gefuchtelt und geredet, wie so oft, damit er's merkt: He, hallo, Liebe! Aber Liebe ist ein Boot für zwei - wenn nur einer rudert und nicht wartet, bis der/die andre einen Rhythmus findet, fährt's im Kreis. Ist das Redenkönnen darüber 'ne Klassenfrage? Marcus' Eltern: Lehrer und Lehrerin. Lydias Eltern: peinlich. Er bei VW, dann Hausmeister, sie Zahntechnikerin. Mein Gott, sogar im Schützenverein ist mein Vater. Sammelt Waffen. Wählt SPD wegen der Gewerkschaft.

Prolet. In Lydias Kopf antwortet die passende Musik, Metal (haben wir damals alle gehört, auch die Mädchen, an meiner Schule war's so): »I'm low life, born and bred/ and I don't give a damn.« Ich zieh's durch. Sie muss es tun, bevor Studenten kommen, die an den Übungen (gekoppelte Systeme von Massepunkten, Hauptachsentransformation quadratischer Formen) teilnehmen, bevor Dozenten aufkreuzen, bevor Leben in die Bude kommt, in dieses Institut, diesen Tempel. Es ist entschieden - eine private Entscheidung, die für Lydia auch eine wissenschaftliche ist. Was sonst? Oder kann ihr jemand sagen, wo genau in diesem erschöpften Körper die 32 Jahre alte Wissenschaftlerin aufhört, die ihre Bettelbriefe an die DFG mit »Doktor Lydia Meinert« unterschreibt, und wo das verheulte geprügelte Tier anfängt, in dem sie jetzt gefangen ist? Du Küken. Gerupft.

Lydia steht hinterm Fensterkreuz im Warmen. In ihrem Bauch ist es kalt genug für sieben Winter. Fast wär' ich schwanger geworden, damals, am Anfang, in den unvorsichtigen, aber heiligen ersten Nächten mit Marcus. Es war nur Glück. Ich wollte das Kind nicht, aber ich hätte es vielleicht doch gekriegt und wäre nicht nur deprimiert gewesen. So einfach ist das nämlich nicht, mit dem Wollen. Da gehört mehr dazu als irgendein innerer Vorgang. Wenn man wen liebt, sind dessen Sichwohlfühlen, dessen Körper, dessen Kinder, die man mit ihm oder ihr haben könnte, nämlich auch Teil des eigenen Willens, und wenn man dann zusieht, wie der oder die andere sich entfernt, aber nichts dagegen machen kann, nimmt man selber an Substanz ab, wird fadenscheinig, verschwindet, verdampft.

Das einzige, was da noch wächst, ist Angst, bei beiden. Weiß Marcus das? Was kann Marcus, der Autor, dafür, dass er nicht weiß, was nicht in (seinen) Sätzen steht? Dass er nicht mal ahnt, dass man nicht machen darf, was er gemacht hat, wenn man ihr nicht die Welt vor Augen auflösen will? Sie verlassen, das schon, obwohl's so oder so weh täte. Aber aufgeben, was bei allen Stockungen und Widrigkeiten spürbar im Wachsen war, was so groß werden wollte, so köstlich war? Leider: Marcus ist ein anderer Mensch; woher soll der wissen, welchen Faden man nicht rausziehen darf aus ihrem Weltbildteppich, damit der sich nicht auflöst? Eine Strähne fällt ihr vors Gesicht, sie pustet sie weg und kann nicht vermeiden, dass ihr einfällt, dass er auch diese Haarfarbe nie gemocht hat: Komisches Rot hat er's genannt. Das war noch mitten in diesem Film gewesen, der jetzt zuende ist. Komisches Rot. Kann man nichts machen, Farben sind Lichtwellenlängen. Fakt.

Öffentlich einsehbar. Sie denkt daran, was fair wäre - wie man sich verhalten müsste, um die Trennung von Öffentlichkeit (wo die Leute miteinander auskommen müssen) und Privatheit (wo man leidet und keiner was machen kann) aufzuheben; sie erinnert sich an ein Wort aus dem Konfirmationsunterricht, etwas Wunderschönes und Trauriges aus den Sprüchen Salomos, das sie sogar als Atheistin, die sie seit ihrem 17. Lebensjahr ist, im Gedächtnis behalten hat: »Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind.« Das müsstest du lernen, Marcus, dann wärst du ein Autor. Aber es ist Lydia, die jetzt ihren Mund auftut. Sie spricht leise ein paar Zeilen aus dem Motörheadsong, den hier, in dem verlassenen Raum, der ihr Kopf ist, nur sie hören kann: »You just can't figure out / why I'm the way I am / I'm low life, born and bred ...« Sie atmet aus, ändert das Zitat und sagt: »... but I do give a damn.«

Lydia sieht durch bläuliche Fensterscheiben, wie der Wind im Hof eine Bild-Zeitung herumwirft, als ob Gott sagen wollte: Sowas les' ich nicht, das schmeiße ich weg, nur wo soll ich's hinschmeißen, wenn doch die ganze Welt mein Wohnzimmer ist, weil ich ja Gott bin? Lydias Augen bewegen sich langsam. Sie sind rotgeweint, schmerzen wie von zuviel Innendruck, fühlen sich fremd an in den Höhlen - kein Wunder: Die ganze Nacht haben diese Augen auf den Monitor geschaut, auf Tegmarks Aufsatz: »The Interpretation of Quantum Mechanics: Many Worlds or Many Words?«, und dabei flossen diese doofen Tränen die Wangen runter wie Wasser an den Wänden einer Kalksteinhöhle. Wie lange kann man weinen, bevor man wegen Dehydrierung vom Hocker sinkt? Auch so'ne empirische Frage. Genau wie die, die Lydias Experiment hier im Labor jetzt beantworten wird.

Gehen wir's nochmal durch, denkt sie, wendet sich der Versuchsanordnung zu und merkt nicht, dass sie ihr inneres Referat an niemand andern richtet als an den Verletzer ihrer Pläne von Fahrten nach Florenz, zusammen Aufwachen, ihn mit Öl massieren und streicheln: Also, schau, Marcus, das mit der Quantenmechanik ist folgendermaßen. Vor hundert Jahren fand Planck raus, dass die Energie, mit der sich die kleinsten Sachen, die es gibt, bewegen - Sachen, aus denen alles besteht, sogar Monikas geiler Arsch - nicht stufenlos wächst oder abnimmt, sondern in Päckchen, »Quanten«, vorkommt. Um das daraus folgende, sehr komische Verhalten dieser kleinen Sachen zu beschreiben, entwickelte man eine Theorie. Leute namens Heisenberg, Bohr, Schrödinger und Dirac dachten sich Formeln aus, die diese Welt der Energiepäckchen erfassen. Dabei mussten sie eine Menge Scheiß in Kauf nehmen, etwa diverse Unschärfen der Eigenschaftsbestimmung oder die Tatsache, dass Teilchen nicht nur Teilchen sind, sondern auch Wellen, je nachdem, wie man sie misst.

Daraus ergab sich das Messproblem - die Mathematik, die vorhersagt, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Teilchen was machen, das heißt die »Schrödingergleichung«, lässt's nämlich so aussehen, als wär' bis zur Messung alles offen, als könnte also, sagen wir: ein Marcusteilchen gleichzeitig mit einem Monikateilchen kollidieren und mit einem Lydiateilchen. Erst, wenn man nachguckt, weiß man's. Aber warum soll die Welt geteilt sein in Teilchen und Messapparate, die doch auch aus Teilchen sind? Warum »bricht die Funktion zusammen«, die all die überlagerten Wahrscheinlichkeiten beschreibt? Darüber geht seit siebzig Jahren der Streit um die »Interpretation« der Quantenmechanik.

Ein Vorschlag, wie man's lösen kann, kam von einem Typ namens Everett, der sagte: Das ganze Universum entwickelt sich entsprechend der Schrödingergleichung. Es gibt also nur scheinbar ein definitives Resultat der Messung, das die in der Gleichung vorhergesagten vielen Möglichkeiten zugunsten einer einzigen auslöscht - in Wirklichkeit leben wir mit unserem Messquatsch in einer von vielen Welten, die nicht mal nur »parallel« existieren, sondern einander überlagern. Und, äh, deshalb ...

Lydias innerer Monolog reißt ab, während sie die Aufhängung des Schnellfeuergewehrs und den selbst konstruierten Auslösermechanismus überprüft. Die SIG M 51 aus Vaters Waffenkeller ist fester verschraubt, als selbst bei heftigster Rückstoßerschütterung nötig wäre. Die Lafette ist stabil, Munition ist eingelegt. Der Auslöser ist mit dem Messapparat verbunden - jedesmal, wenn Lydia den Auslöser betätigt, wird der z-Spin eines Teilchens vom Detektor gemessen. Wenn das Resultat »down« heißt, schießt das Ding eine Kugel ab. Wenn es »up« heißt, gibt's nur ein Klicken. Der Zeitabstand zwischen der Quantenbit-Erzeugung und dem Schuss ist kürzer als jede mögliche Wahrnehmung. Die klassische Quantenmechanik verlangt, dass es für eine Beobachterin im Zustand »tot« keine Wahrscheinlichkeiten gibt - das wäre »nicht sinnvoll«. Theorien, die einen nicht-unitären Kollaps der Wellenfunktion vorhersagen, behaupten, dass Lydia nach dem ersten Abdrückereignis entweder tot oder lebendig wäre.

Es gibt einen Klick oder zwei, mit Glück auch drei, irgendwann dann nichts mehr: Quantenselbstmord. Die Everett-Theorie aber sagt, dass es unter vielen Lydias mindestens eine gibt, die zu 100 Prozent immer nur Klicks hört. So eine unsterbliche Lydia hätte die Everett-Theorie bewiesen, wenn auch nur für sich selbst. Die Kollegen, Professoren oder Studenten, die ihre Leiche in den anderen Welten finden, würden vom Erfolg nichts wissen.

Lydia klopft mit Fingerknöcheln gegen den Lauf. Dann stellt sie sich vor den Sandsack am Ende des Laborkorridors und denkt, dass sie genau weiß, warum sie das hier macht: Es kann nicht sein, dass die Welt so ist, wie ich sie jetzt erlebe. Es ist eine Ausrede, dass man gelenkt wird von lieblosen Schlenkern, nicht diskutierbaren Wünschen und Problemen. Es muss sich auszahlen, wenn man das eigene Herz nicht mit Ausreden oder Ängsten vollpumpt wie mit Speed und Tranquilizern, es muss sich lohnen, ein nüchternes, wahrhaftiges Herz zuzulassen, und sei es nur für mich selber. Sonst lebe ich gar nicht, sonst lebt niemand, sonst ist alles bloß ein Wind, der uns herumwirft. Wo ist das hin, was ich brauche? Dein Zigaretten-Geschmack beim Küssen, dein kaputter Zahn, deine süßen engen Pullis, deine Unzufriedenheit mit dem Quatsch ringsum?

Lydia merkt nicht, dass die Tränen nicht mehr fließen, weil sie jetzt anders traurig ist: klarer. Ich, denkt Lydia, will ein Leben, das unseres hätte sein können: eins, in dem es etwas gibt, das über meine Stimmung im Moment, sogar über diese bescheuerten Qualen hier hinausreicht. Wenn ich Schreiberin wäre, würde ich den Traum aufschreiben. Dann könnte er ihn lesen, jetzt, wo er nicht mal zurückkommen könnte, wenn wir es beide wollten, weil er sich in die Position gebracht hat, mich für einen Neuanfang dazu bringen zu müssen, ihm zu vertrauen - und davor habe ich die größte Angst. Wir können vielleicht nicht mal Freunde sein: Was für eine Freundschaft lässt sein Nachgeben gegenüber dem, was wir beide nicht »beeinflussen« können, noch zu?

Sie lächelt den Spindetektor an, als wär's ein neuer Freund, der das Risiko mit ihr eingehen will, weil er weiß, dass man ohne Risiko nichts erlebt außer endlosen Reihen von Klicks, statt Schüssen, die treffen. Kann unwahr sein, was er zu ihr gesagt hat, als sie zusammen waren? Unwahr werden? Was für eine Scheißwelt wäre das? Der Detektor lächelt zurück. Lydia hört Schritte auf der Steintreppe.

Ihr Daumen drückt auf den Auslöser am Kabel.

Die Schöpfung erschrickt, hält die Luft an und tut dann, nach langem Schlaf, ihren Mund auf für die Stummen und die Sache aller, die verlassen sind.