Wisconsin Hurts

Wovon Roland Koch träumt: Das rigide Sozialsystem in Wisconsin fördert Massenarmut und Obdachlosigkeit.

Thomas Thompson übernahm am 24. Januar dieses Jahres den Posten des Gesundheits- und Sozialministers der USA. Der ehemalige Gouverneur des Bundesstaates Wisconsin wurde vom Senat einstimmig und ohne Enthaltung in seinem Amt bestätigt. Protest regte sich nur außerhalb der Kongresshallen. Die National Women's Organization kritisierte Thompsons reaktionäre Positionen zum Thema Frauenrechte. Er ist ein erklärter Gegner der Abtreibung und verantwortlich für die Gesetzesinitiativen der Bundesregierung im Bereich Gesundheits- und Sozialwesen.

Seine eigentliche »Qualifikation« für den Posten des Gesundheitsministers jedoch war kaum Gegenstand der Kritik. Thompson wurde 1986 zum Gouverneur von Wisconsin gewählt. Sein wichtigster Programmpunkt war damals die Kostensenkung in der Sozialhilfe. Sein Erfolgsrezept wurde das Modell W-2 oder Wisconsin Works.

Der Kern des Programms ist die faktische Abschaffung der Unterstützung von Familien mit finanziell abhängigen Kindern (AFDC). An die Stelle dieser Unterstützung trat ein drakonisches System, das ohne Unterschied alle EmpfängerInnen von Sozialhilfe zur Arbeit zwingt. Wer keine bezahlte Arbeit findet, wird unter Androhung der Streichung der Sozialhilfe zu gemeinnütziger Arbeit gezwungen.

Arme alleinerziehende Frauen und ihre Kinder haben am meisten unter W-2 zu leiden. Tausende von AFDC-Empfängerinnen, von denen die meisten einfach nicht die Möglichkeit haben, 40 oder mehr Stunden pro Woche zu arbeiten, meldeten sich für W-2 gar nicht erst an. Die unter dem neuen System »Erfolgreichen« verdienen im Durchschnitt sieben Dollar pro Stunde. Häufig kassieren Zeitarbeitsfirmen einen Teil ihres Lohns. Für die anderen gibt es kein soziales Netz mehr, abgesehen von kirchlichen Armenküchen, Lebensmittelmarken und der minimalen medizinischen Grundversorgung des staatlichen Medicaid-Programms.

Und das hilft auch nicht immer. Die Regierung in Wisconsin weigert sich bis heute, ein Bundesgesetz zu übernehmen, das die Medicaid-Versorgung auf Menschen ausdehnt, die aus der Sozialhilfe »ausgestiegen« sind. Andere Unterstützungsmaßnahmen, wie zum Beispiel ein ehrgeiziges Programm zur Versorgung von Kindern in Armut, wirken nicht. Nur 14 Prozent der für das Programm in Frage kommenden Familien nehmen daran teil.

Eine Ursache dafür ist, dass unter Thompson die Sozialhilfe in Wisconsin teilweise privatisiert wurde. Die Aufgabe der Prüfung der Sozialhilfeansprüche wurde zu einem gewissen Maß an Privatfirmen übergeben, die dafür einen Teil der eingesparten Sozialhilfegelder erhalten. Dabei informiert der Staat Wisconsin seine Bürger nur unzureichend über ihre Rechte. Eine Untersuchung des Landwirtschaftsministeriums ergab vor einigen Jahren, dass illegale Praktiken von W-2-Firmen vielen Leuten den Bezug von Lebensmittelmarken erschweren, deren Gebrauch in Wisconsin seit 1986 um 32 Prozent zurückgegangen ist.

Die Konsequenzen des W-2-Programmes sprechen für sich: Die Sozialhilfeausgaben des Staates Wisconsin sind seit 1986 um 67 Prozent gesunken. Die Sterblichkeit schwarzer Kinder stieg im ersten Jahr von W-2 um 37 Prozent. In den vergangenen zehn Jahren ist in Wisconsin die Zahl der Kinder, die in Heimen oder Pflegefamilien aufwachsen, um 32 Prozent gestiegen, in der Hauptstadt Milwaukee sogar um 51 Prozent. 1997 erhielt nur ein Viertel der Familien unter der Armutsgrenze finanzielle Unterstützung; 1986 waren es noch 60 Prozent. Etwa 62 Prozent der SozialhilfeempfängerInnen konnten Arbeit finden. Ihr Jahreseinkommen sank um durschnittlich 2 000 Dollar. 38 Prozent haben kein Einkommen.

Gouverneur Thompson zeigte kein großes Interesse daran, herauszufinden, wovon diese Menschen leben, denn er ist kein Anhänger der Soziologie. Eine von seiner Regierung in Auftrag gegebene Studie belegte, dass seine Maßnahme, die finanzielle Unterstützung von Familien davon abhängig zu machen, dass die Kinder zum Schulunterricht erscheinen, die Zahl der Schulschwänzer sogar erhöhte. Dabei mag es eine Rolle gespielt haben, dass Thompson Geld für öffentliche Schulen teilweise zur Unterstützung kirchlicher und privater Schulen umleitete. Er ließ die Schulschwänzer-Studie einstampfen, die Kürzungen blieben bestehen.

Trotz dieses sozialen Alptraums hat Thomas Thompson seine Bewunderer gefunden. William Clinton, damals noch Präsident der USA, lobte 1996 das Modell als »beeindruckend«. Präsident George W. Bush bestellte Thompson zum Gesundheits- und Sozialminister. Und nun gesellt sich zu ihnen auch der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) nach seinem Besuch in Wisconsin.

Dabei vergleicht Koch, wenn er das System für übertragbar hält, Äpfel mit Birnen. Nach seinem US-Besuch vor zwei Jahren hat er auch genau das noch gesagt. In den USA gibt es eine große strukturelle Armut, die, zumindest in den Städten, ihren Ausdruck gefunden hat: Slums und Armenviertel, eine strikte geografische Trennung von Arm und Reich. In Deutschland existiert diese Trennung bisher nur im Ansatz. Roland Koch aber scheint fasziniert von der Vison einer piefigen hessischen Kleinstadt wie Fulda, mit innerstädtischen Wohngebieten, die wie ein Armenhaus wirken, umgeben von Vororten, in denen die mehr oder weniger besser gestellten Schichten leben. Nachts ist die Fußgängerzone verlassen und auf den Treppen des altehrwürdigen Doms stapeln sich die Obdachlosen.

In den meisten Staaten der USA wird Sozialhilfe maximal fünf Jahre lang gezahlt, in Wisconsin sind es zwei Jahre. Wer danach immer noch kein Einkommen hat, muss sich mit Lebensmittelgutscheinen und Kindergeld - sofern Kinder vorhanden sind - durchschlagen. Millionen von US-Bürgern leben so. Die Begleiterscheinungen sind deutlich höhere Kriminalitätsraten und die Verarmung immer größerer Teile der Bevölkerung. Der Aufschwung der US-Wirtschaft in den letzten Jahren schuf ein Auffangbecken für die Entrechteten - die Schicht der working poor, prekär Beschäftigter ohne Gesundheits- und Rentenversicherung, die im Alter auf ihre Familien angewiesen sind.

Wenn der Boom allerdings vorbei ist, kann diese Kaschierung der Armut nicht mehr funktionieren. Die Leute werden wieder arbeitslos, wie in anderen Ländern auch, nur ohne Sozialsystem. Roland Koch wusste vor zwei Jahren, dass eine Demontage des Sozialsystems nach US-amerikanischem Vorbild in Deutschland mittelfristig nicht möglich ist und soziale Verwerfungen nach sich zöge, denen selbst mit einer Militarisierung der Innenpolitik, wie Koch sie betreibt, nicht beizukommen wäre.

Dennoch ist die Forderung nach einem Billiglohnsektor mit deutschen Spezifika wie dem Kombilohn keine hohle Geste für die rechten Stammtische. Das Programm existiert bereits, und der Druck auf die sozial Schwachen verstärkt sich. Roland Koch kann aus Fulda kein zweites Milwaukee machen. Aber er kann auf Kosten der Marginalisierten Wahlkampf betreiben und diesen dabei das Leben zur Hölle machen.