United Colors of Genoa Tute bianche - eine italienische Geschichte

United Colors of Genoa

Auch in der kritischen Linken wird die Metapher von den »chilenischen Verhältnissen« gern benutzt, um den militärischen Angriff auf die Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung in Genua zu skandalisieren. Doch verspielt man damit nur allzu leicht die Chance, nach Möglichkeiten zu fragen, wie der öffentliche Raum in konkreten Situationen für Konflikte zu öffnen sei, ohne in die Falle der herrschenden Logik militärischen Kalküls oder »der Gewalt« zu tappen. Der folgende Beitrag zeichnet den Versuch der Tute bianche nach, dieser Logik zu entgehen.

Die Geschichte beginnt im Sommer 1994, als Marco Formentini, ein Hardliner aus der Lega Nord, Bürgermeister von Mailand war. Das Centro sociale Leoncavallo, das größte autonome Zentrum Italiens, störte sein Bild einer Stadt, in der die Bürger vor allem in Ruhe shoppen sollen. (Störend fand er übrigens eine ganze Reihe weiterer »unerwünschter Subjekte«, MigrantInnen etwa oder Arme, die er aus dem Bereich der Innenstadt verbannen wollte.) Formentini ließ das Leoncavallo im August '94 räumen, als die meisten Besetzerinnen und Besucher vor der Hitze der Stadt geflohen waren. Nach der Räumung verspottete er die Squatter und die außerinstitutionelle Linke als »Gespenster, die es in Wirklichkeit nicht gibt«. Doch die Wirklichkeit holte Formentini am achten September jenes Jahres ein, als Aktivisten des Leoncavallo erneut einen leer stehenden Gebäudekomplex besetzten. Und zwei Tage später waren es 20 000 »Gespenster«, die in der lombardischen Hauptstadt die »öffentliche Ordnung« störten. Nicht wenige der Demonstrantinnen und Demonstranten drehten die Diffamierung um und hatten sich entsprechend als Gespenster verkleidet, und viele von ihnen trugen weiße Kombis: Tute bianche.

Die Unsichtbaren

Das Kleidungsstück, die Tuta bianca (ein weißer Schutzanzug aus Polypropylen), das bei den Demonstrationen im Herbst '94 auftauchte, ist in gewisser Weise kontingent. Weniger zufällig aber ist, dass verschiedene soziale Bewegungen gerade zu diesem Zeitpunkt sich als »gesellschaftliche Opposition«, wie es in zahlreichen Demonstrationsaufrufen hieß, gemeinsam auf der Straße wiederfanden. Unterschiedliche kollektive Erfahrungen kamen hier zusammen: etwa die der Cobas, linker Basisgewerkschaften, die sich gegen die Zustimmungspolitik der großen Gewerkschaftsverbände formiert hatten; der Leute aus den Centri sociali, antirassistischer und internationalistischer Gruppen, von Feministinnen und studentischen Aktivisten. Die gesellschaftlichen Konflikte, in denen sie agierten, waren jahrelang weitgehend voneinander isoliert.

Gemeinsamer Bezugspunkt war der Versuch einer Verständigung über die gesellschaftliche Wirklichkeit, die deren Veränderung seit den siebziger Jahren in Rechnung stellt. Die früheren Koordinaten Fabrik, Partei, Gewerkschaft, Universität etc. waren verschwunden, hatten sich gewandelt oder taugten einfach nicht mehr. Heute ist die Gesellschaft ein »biopolitischer Zusammenhang«, wie Toni Negri schreibt, in dem das Leben jeder und jedes einzelnen von vielfältigen Arbeitsverhältnissen durchzogen ist, dabei einem kapitalistischen Verwertungsprozess unterworfen, der sich um Wissen und Kommunikation formiert. Was das im Einzelnen heißt, ist heftig umstritten. Doch zugleich kann dies ein Anlass sein, den sozialen und politischen Raum neu zu entdecken, eine Öffentlichkeit herzustellen, die die Effekte des sozialen Ausschlusses, der Marginalisierung und Entsolidarisierung kompensiert.

Im September 1998 traf man sich auf einer Konferenz, vorbereitet von Centri sociali aus Rom, Mailand und aus dem italienischen Nordosten, um die verschiedenen Erfahrungen zu diskutieren. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer verabschiedeten eine »Charta von Mailand« als ein Projekt, das »der Überwindung des jetzigen Zustands dient und einen Ausweg aus der Selbstbezüglichkeit und Ghettoisierung aufzeigt«, wie die Turiner Gruppe zip damals schrieb. Im Kern ging es darum, aus der Logik von Konflikt, Repression, Kampf gegen die Repression, die den Bewegungen vom Staat aufgezwungen wurde, auszubrechen, um im Konflikt mit staatlichen (oder privaten) Apparaten deren Zuständigkeit und Legitimation auszuhöhlen und mit eigenen Projekten zu besetzen. Die zentralen Produktivkräfte des Postfordismus - Wissen und Kommunikation - sollen gegen die Verwertungslogik angeeignet und in politische Aktion übersetzt werden. Einzelne Forderungen wie die nach einem universellen und an keine Bedingungen geknüpften Einkommen, nach einer allgemeinen Amnestie oder nach Auflösung des Grenzregimes gliedern sich dem an.

Die Gruppen, die die »Charta« unterstützen, bedienen sich fortan der Tuta bianca als Erkennungszeichen. In den Kommuniques der Tute bianche ist viel über die Symbolik der Farbe Weiß zu lesen; am plausibelsten erscheint noch die Erklärung, in Weiß machen sich die Unsichtbaren, die Ausgeschlossenen der Gesellschaft sichtbar. Wie traumatisierend die Unsichtbarkeit in Italien für eine ganze Generation war, kann, wer mag, in Nanni Balestrinis Roman Die Unsichtbaren nachlesen.

Legitimität des Konflikts. Die Aktionsform der Tute bianche entwickelte sich in Auseinandersetzungen. Mit Helmen, Schildern und Körperschutz ausgerüstet, über den die weiße Kombi gezogen wird, verfolgen die Aktivistinnen und Aktivisten auf der Straße ein Konzept der begrenzten Eskalation. So durchbrachen sie etwa an mehreren Orten bei Kundgebungen gegen Abschiebelager die Polizeikordons, sodass in ihrem Gefolge andere jene »Orte des Ausnahmezustands« (Giorgio Agamben) besetzen konnten und in einigen Fällen deren Schließung erzwangen.

Die Tuta bianca dient dabei als Instrument und zugleich als Einladung, sich den Aktionen anzuschließen. »Die Tute bianche sind keine Bewegung; auf die Tuta bianca kam man im Kontext einer Bewegung und stellte sie zur Verfügung. Sie ist auch keine Uniform, nichts daran ist militärischen Ursprungs«, schreibt das Kollektiv Wuming aus Bologna. Anknüpfungspunkte sind viel eher die selbstironischen Aktionsformen der Autonomia creativa der siebziger Jahre, die damals den organisierten Flügel der Autonomia wegen der Militarisierung der sozialen Konflikte auf der Straße kritisiert hatte.

Von Teilen der radikalen Linken wird den Tute bianche bisweilen mangelnde Militanz und Radikalität vorgehalten: Alles sei abgesprochen, sie spielten nur »Theater«, seien verbalradikal. Tatsächlich steht in der vorherrschenden, die Kommuniques der Zapatisten imitierenden Rhetorik der Tute bianche das theatralische Moment häufig im Vordergrund. Doch dient es, ebenso wie die Aktionen in der Öffentlichkeit, vor allem dazu, »der Idee des Konflikts neue Legitimität zu verleihen«, wie Luca Casarini, einer der Sprecher, erklärt.

Schwarz und Weiß

Die Strategie der Tute bianche war es, auch in Genua einer symmetrischen Konfrontation mit dem staatlichen Gewaltapparat auszuweichen. Die viel zitierte »Kriegserklärung an die Mächtigen der Welt«, am 26. Mai von Casarini auf den Stufen des Palazzo Ducale in Genua verlesen, war zum einen die Reaktion auf die Ankündigung Berlusconis, in Genua keinerlei »Störung der öffentlichen Ordnung« zuzulassen - und dazu literarischer Dadazapatismus. Zugleich erklärte sie den Bewohnern der ligurischen Hauptstadt, wer ihnen ein Leben im Belagerungszustand zumuten würde. Casarini und mit ihm die Tute bianche wurden in den darauffolgenden Wochen zu Staatsfeinden stilisiert, in den rechten Medien vergaß man fortan nie zu erwähnen, dass Casarini, der »Star«, aus Padua kommt, der Stadt des »cattivo maestro« aus den Siebzigern, Toni Negri. Die linksliberalen Medien, allen voran die Wochenzeitschrift Espresso und die tägliche Repubblica, lauerten auf einen »Versprecher«, ein Bekenntnis zur Subversion. Sie hatten ihren Beweis, als Casarini in einem Interview mit dem Espresso sagte: »Um die Verhältnisse zu ändern, müssen wir massenhaft die Gesetze brechen.«

Die Strategie der Tute bianche scheiterte in Genua. Der Demonstrationszug, der sich vom Carlini-Stadion aufgemacht hatte, wurde in der Via Tolemaide als erster militärisch angegriffen. Die Debatten über den so genannten »Black Bloc« (die eigenartige Schreibweise verdanken wir den italienischen Zeitungen) verdecken, dass die Strategien der begrenzten Eskalation es über längere Zeit verhinderten, die antikapitalistische Bewegung mit der »Gewaltfrage« zu spalten. Die Tute bianche nannten ihre Aktionsformen »disobbedienza civile« und öffneten damit den öffentlichen Raum für den Konflikt. Das ist diesseits der Alpen vielleicht schwer zu verstehen, dient hierzulande der Ausdruck »ziviler Ungehorsam« doch seit den achtziger Jahren dazu, Konflikte zu normieren, NGO-förmig zu professionalisieren, Gut und Böse zu sortieren.

Für Hinweise danke ich Pino De March.