Reportagen aus der Arbeitswelt

Die Suche nach dem amerikanischen Traum

»Rollback bei Wal-Mart«. Der Werbeslogan der Supermarktkette stellt sich beim Lesen von »Verkaufen in Minnesota« ein, einer Sozialreportage der US-amerikanischen Publizistin Barbara Ehrenreich. Sie hat Ende der neunziger Jahre drei Monate undercover als ungelernte Arbeiterin in Dienstleistungsjobs recherchiert, als Serviererin in einem Fast-Food-Laden in Florida, als Reinigungskraft für ein Janitor-Unternehmen und, weil das Einkommen nicht reichte, die Miete zu zahlen, gleichzeitig als Altenpflegerin in Maine, schließlich als eine, die bei Wal-Mart Dosen einräumt und die Jeans nach Größen stapelt. Ehrenreich berichtet über diese Stationen in drei ausführlichen Reportagen in ihrem Buch Nickel and Dimed, das unter dem Titel Arbeit poor auch in deutscher Übersetzung vorliegt.

Der Rollback bei Wal-Mart wäre in diesem Fall nicht die aggressive Preispolitik eines Billigkonzerns. Beschreibt Rollback doch das von Ehrenreich akribisch und mit einigem Sarkasmus geschilderte Personalmanagement des mit über 800 000 Mitarbeitern größten Einzelhandelsunternehmens der USA. Gewerkschaftlich erkämpfte Standards werden zurückgedrängt, sogar elementare Rechte ignoriert: von der Demütigung beim obligatorischen Drogentest bis zur Verweigerung von Pausenzeiten, um zur Toilette zu gehen. Gespräche unter Kollegen während der Arbeitszeit sind verpönt. »Sei produktiv«, wird als Motto des Firmengründers Sam Walton den euphemistisch »Partner« genannten Arbeiterinnen eingetrichtert. Die achtstündige Einführung samt Schulungsvideo erfährt Ehrenreich als Gehirnwäscheprozedur einer Sekte, als deren Prophet sich Walton post mortem darstellt.

Der amerikanische Traum der Neunziger. Barbara Ehrenreichs Ausgangspunkt ist vordergründig nicht die Suche nach skandalösen Verhältnissen. Ihr Projekt war es vielmehr, mit ihrem dreimonatigen Ausflug in »das andere Amerika«, wie sie auf die berühmten Sozialreportagen von Studs Terkel anspielend schreibt, herauszufinden, wie Leute mit niedrigen Löhnen, mit dem, was sie verdienen, auskommen. Vor Augen hatte sie die Situation, die die von Bill Clinton 1996 in die Wege geleitete Veränderung der Sozialgesetzgebung herbeigeführt hat: Durch die faktische Abschaffung von Sozialhilfe und anderen Unterstützungsmaßnahmen wurden rund vier Millionen Frauen, viele von ihnen allein erziehende Mütter, als ungelernte Arbeitskräfte auf den Arbeitsmarkt gedrängt. Jobs fanden sie vor allem im boomenden Dienstleistungssektor - die Wachstumsrate etwa im Bereich der Putzfirmen betrug in den USA im Jahr 2000 fast 25 Prozent.

Was später »Jobwunder« genannt wurde, das fast völlige Verschwinden der Arbeitslosigkeit in den USA, war eine Verschiebung der Prekarität in die Beschäftigungsverhältnisse selbst. 1998, als Ehrenreich ihre Recherche begann, arbeitete etwa ein Drittel aller Beschäftigten in den USA für einen Stundenlohn von weniger als acht Dollar. Um die Obdachlosigkeit abzuwenden, benötigte man aber nach Berechnungen der National Coalition for the Homeless knapp neun Dollar Stundenlohn. In Folge dieser Entwicklung stieg die Zahl der so genannten working poor, also der Erwerbstätigen unterhalb der Armutsgrenze, wie auch die Zahl derer, die sich mit zwei oder mehr Jobs durchschlagen.

Barbara Ehrenreich versucht, diese Zusammenhänge in der Reportage exemplarisch aufscheinen zu lassen, verdrängt sie aber häufig in die Fußnoten. Rezensenten bewundern denn auch, wie Ehrenreich in ihrer Reportage in der ersten Person die »Kehrseite des Jobwunders« (Andreas Busche in Telepolis) sucht. Unangetastet bleibt das sozialdemokratische Prinzip - »Ein gerechter Lohn für ein gerechtes Tagwerk« -, das viele Kritiker mit der Autorin teilen; und entsprechend wird sie gelobt, wenn sie sich ganz auf die ihr begegnenden Ungerechtigkeiten konzentriert. Was dabei an »Anklage gegen Ausbeutung« (Susanne Mayer in der Zeit) herauskommt, bescheidet sich damit, Unzumutbares moralisch anzuprangern; »die Realitäten der neuen Wirtschaft« (Andrian Kreye in der Süddeutschen Zeitung) bleiben Schemen.

Es sind Ausschnitte der sozialen Realität, die Ehrenreich beschreibt. Doch indem die Autorin sie verabsolutiert, verzerrt sie das Ganze, lässt Konflikte und politische Handlungsmöglichkeiten verschwinden. Deutlich zeigt das die Reportage »Schrubben in Maine«. Der international operierende Janitor-Konzern, bei dem die Reporterin einen Job annimmt, hat sich auf die Reinigung von Privatwohnungen spezialisiert. Den Kolonnen, in denen sie arbeitet, gehören fast ausschließlich Frauen mit angelsächsischen Vorfahren an. In einer Fußnote teilt sie mit, dass 45 Prozent der Reinigungskräfte der Branche europäische Amerikanerinnen seien. Die Verhältnisse in Reinigungsunternehmen für Büro- und Industriegebäude bleiben ausgeblendet. Nach Angaben der Gewerkschaft SEIU (Service Employees International Union) beschäftigen Janitor-Konzerne in diesem Sektor überwiegend lateinamerikanische Migrantinnen, viele von ihnen ohne geregelten Aufenthaltsstatus. Die SEIU ist heute die größte Einzelgewerkschaft im Dachverband AFL-CIO. Ihr ist es gelungen, mit der seit 1986 laufenden Kampagne »Justice for Janitors« Konflikte um Arbeits- und Aufenthaltsrechte dauerhaft und teilweise auch erfolgreich zu führen; dabei wurde die alte, am Industrieproletariat orientierte Gewerkschaft transformiert und ein Organisationstyp begründet, der an Formen sozialer Selbstorganisierung anschließt, die über den unmittelbaren Bereich der Arbeit hinausgehen, etwa Community-Komitees oder antirassistische Initiativen.

Nur unscharf ist in Arbeit poor zu erahnen, dass Ehrenreichs Reise sie in Bereiche geführt hat, die für die weitere Untersuchung dessen, was man mit Michael Hardt »ökonomische Postmodernisierung« nennen könnte, von Bedeutung sind. Die Arbeitsteilung und Neuzusammensetzung der immateriellen Arbeit wären hier in den Blick zu nehmen, ebenso rassistische oder sexistische Herrschaftsverhältnisse.

Barbara Ehrenreichs Recherche zielt nicht auf Intervention. Der individualisierte Gestus der Überlegenheit in den geschilderten Szenen durchkreuzt ihre Wirkung als exemplarisch angelegte Sequenzen. Wenn sie angesichts der Schikanen einer Auftraggeberin der Putzkolonne dramatisch rebelliert - »Das ist nicht ihr Marmor, der hier blutet, Madame, es sind die Arbeiter in aller Welt« -, so geschieht dies als innerer Monolog.

Barbara Ehrenreich, Nickel and Dimed. On (Not) Getting By in America, New York: Metropolitan/Holt, 2001, 23 Dollar; dt. Arbeit poor. Unterwegs in der Dienstleistungsgesellschaft, München: Verlag Antje Kunstmann, 2001, 18,92 Euro.