Nichts ist unmöglich

Öffentliche Versammlungen und Proteste der Arbeitslosen stellen das institutionelle, politische und ökonomische Gefüge in Frage. Zu kämpfen haben die Arbeitslosen dabei auch mit bürokratischen Linken.

Noch vor dem Ende des Jahres 2001 fand die erste öffentliche Versammlung in Floresta statt, einem Stadtteil von Buenos Aires. Es war der Tag nach der Ermordung von drei jugendlichen Demonstranten. Sie verlängerten die Liste von bereits 30 Toten, die die polizeiliche Repression während der »revolutionären Tage« vom 19. und 20. Dezember in Argentinien gefordert hatte. Die Regierung von Fernando de la Rúa stürzte, und eine soziale Revolte entwickelte sich, die bis heute andauert.

In dieser ersten Versammlung nahm sich ein Jugendlicher das Megafon und erklärte: » Mich interessiert nicht übermäßig, was auf den Versammlungen diskutiert wird, aber man muss einfach hier sein!« Drückt das eher eine passive, abwartende Haltung aus? Keineswegs, meint das Colectivo Situaciones aus Argentinien: »Ganz im Gegenteil bedeutet es, auf sich zu nehmen, dass die Aktivität sich ohne Zentren, ohne Führer und ohne Versprechungen über die Zukunft entfaltet.«

Seit jener ersten Nacht, in der de la Rúa im Hubschrauber die Casa Rosada, den Sitz der Exekutive, verließ, entwickelte sich schnell eine neue, noch nicht ausgereifte Haltung in der argentinischen Bevölkerung. »Schöne Twens mit teuren Hemden der argentinischen Fußballmannschaft wollen ihn (de la Rúa) nicht. Kleinhändler wollen ihn nicht. Bärtige Soziologen wollen ihn nicht. Arbeitslose Psychologen wollen ihn nicht. Verzweifelte Erwerbslose wollen ihn nicht. Lasst uns marschieren und viele sein. Und wir sind uns ähnlich«, sagte einer der Demonstranten.

Seit einigen Wochen befindet sich Argentinien am Rande der sozialen Explosion, die institutionelle, politische und ökonomische Normalität ist in Frage gestellt. Für die Mehrheit der Bevölkerung macht die regierende Elite nur noch eine lächerliche Figur, sie soll entmachtet werden. »Argentinien ist schon längst kein Rechtsstaat mehr. Es ist eine ökonomische Diktatur, die sich in kurzer Zeit in eine politische Tyrannei wandeln kann. Und die Leute wissen das«, versichert der umstrittene Politologe Carlos Escude in einer Kolumne, die am 12. Februar in der Tageszeitung Buenos Aires Económico erschien.

In der gegenwärtigen Situation wagen es nicht einmal die Medien, die täglichen sozialen Mobilisierungen zu kritisieren. So schrieb die konservative Tageszeitung La Nación am 20. Februar in einem außergewöhnlichen Editorial, dass »man nicht sagen (kann), dass die Proteste nutzlos oder wirkungslos seien. Keineswegs: Bereits im Dezember erzwangen die Straßenproteste den Rücktritt eines Präsidenten der Republik (de la Rúa), der mit einem äußerst niedrigen Stimmenanteil gewählt worden war, in einer Wahl, die durch die größte Welle von Wahlenthaltung, unausgefüllten und ungültigen Wahlzetteln in der Geschichte geprägt war. Gleich darauf erzwangen sie auch den Sturz eines provisorischen Präsidenten (Rodolfo Rodríguez Saá), der wenige Stunden zuvor von der gleichen illegitimen Mafia gewählt worden war, die früher die Handlungen des vorherigen Präsidenten unterstützt hatte«.

Diese Krise zieht Aufmerksamkeit in der ganzen Welt auf sich, und sie bleibt nicht auf Argentinien beschränkt. In Chile stellt die trotzkistische Gruppe ClaseContraClase, die mit dem argentinischen Partido de Trabajadores por el Socialismo, PTS, eng verbunden ist, in einem Dokument mit dem Titel »Krise des Modells« fest, dass Argentinien »heute das schwächste Kettenglied des kapitalistischen Weltsystems« ist und dass es »notwendig (ist), die Schlussfolgerungen aus der Situation zu ziehen, die die argentinische Krise eröffnet, und die neuen Kämpfe vorzubereiten, die sich nähern«.

Die leitende Klasse der drittgrößten Wirtschaftsmacht Lateinamerikas befürchtet, die Proteste nicht unter Kontrolle bringen zu können. Arbeiter und Erwerbslose, die in den piquetes zusammenkommen, haben sie begonnen, ebenso wie die wegen der gesperrten Bankkonten weitgehend ruinierte Mittelklasse, die auf den cacerolazos, den Demonstrationen mit den Kochtöpfen, ihrer Wut Ausdruck verleiht. Und alle treffen sich zudem in den Stadtteilversammlungen.

Viele sehen gegenwärtig in diesen Initiativen der Bevölkerung »die einzige legitime Macht auf dem argentinischen Territorium«. Ähnlich argumentieren auch Antiautoritäre: »Die wirkliche Macht ist auf der Straße, nicht in der Casa Rosada oder im Kongress, ebenso wenig in den Militärkasernen. Die Versammlungen sind der Ort, wo man das öffentliche Leben und die Demokratie lernt und realisiert. Wenn wir miteinander sprechen, wenn wir uns die Mittel geben, um unsere eigenen Probleme demokratisch zu diskutieren, wenn wir unserer eigenen Stimme Gehör verschaffen, sind wir unschlagbar«.

Zweifellos birgt die Bewegung einige Widersprüche, die noch zu größeren Problemen führen können. Einer der Teilnehmer am Indymedia-Forum erklärt beispielsweise, dass innerhalb der Bewegung »einige Händler dauerhaft mit chronisch Marginalisierten konfrontiert (sind), Teile des Bürgertums - wie die mittelständischen Unternehmer - stehen im Widerspruch zu ihren Lohnabhängigen«.

Den Durchschnittsargentiniern ist die traditionelle »Art des Politikmachens«, die von vielen linken Organisationen gefördert wird, mittlerweile lästig. So scheint eines der größten inneren Probleme auf den Versammlungen und den piquetes ein gewisses Sektierertum zu sein, das unter einigen linken Gruppen Argentiniens üblich ist. Viele dieser Organisationen - wie Convergencia Socialista, Izquierda Unida, Polo Obrera, Prensa Obrera, Movimiento Socialista de los Trabajadores, Partido de Trabajadores por el Socialismo - können es nicht lassen, um den Posten der wirklichen »Avantgarde des Proletariats« zu konkurrieren.

Aus dieser Perspektive besteht »die Hauptaufgabe« darin, »die Forderungen fortschreitend zu politisieren und zu vereinheitlichen«, und zudem in der »Notwendigkeit, die 'antiimperialistische Einheitsfront' zu stärken und in dieser eine politische und organisatorische Leitung der Arbeiterklasse zu erreichen«.

Diese Art der Teilnahme linker Gruppierungen an den Versammlungen kritisierte das Colectivo Situaciones in einer am 12. Februar erschienenen Analyse: »Diese Gruppen mit außerordentlicher 'Erleuchtung' ('luz') können nicht mehr, als die Versammlung in dem Maße verarmen zu lassen, in dem sie sie nicht als Ort der Reflexion respektieren. Sie schaffen keinen Prozess mit dem Rest. Sie glauben, 'bereits von früher her zu wissen', was richtig ist und was nicht«. Das Colectivo fügt hinzu, dass »nichts trauriger (wäre), als kleine bürokratisierte Räume zu schaffen, die mit Minimächten im Format von 'Barrio-Tyrannen' besetzt sind«.

Auch sollte - so argumentieren antiautoritäre Kreise - jeder Versuch, die piqueteros und cacerolazos zu koordinieren, nicht von Machtcliquen ausgehen. Ansonsten würde die Gefahr größer, dass die Bewegung sich polarisiert und im Spiel der institutionellen Politik absorbiert wird.

Guillermo Almeyra schrieb in der mexikanischen Tageszeitung La Jornada am 24. Februar: »Wie auch immer das Ergebnis der gegenwärtigen Situation, die nicht lange andauern kann, aussehen wird, nichts wird ihr das Schöne ('lo bailado') nehmen: Dass die Leute es wagen zu diskutieren, Vorschläge zu machen, ihre Meinungen aufeinander prallen zu lassen, was Solidarität schafft und sie Geschmack an der kollektiven Aktion finden lässt«.

Ob die soziale Explosion in diesem lateinamerikanischen Land in einen vorrevolutionären oder reformistischen Prozess mündet, wird von der Entwicklung der Bewegung abhängen. Wird sich der rechte Populismus des peronistischen Partido Justicialista, ein von den Zentren der Macht geförderter Putschversuch, durchsetzen oder ein gesellschaftlicher Aufbau von unten? »Glücklicherweise wird in den gegenwärtigen Kämpfen nicht präzisiert, wie die Welt 'morgen' aussehen wird. Die Legitimität der Kämpfe ist mit ihrer Fähigkeit verknüpft, im Kampf selbst, von konkreten Initiativen und Projekten aus, neue Werte der Gerechtigkeit zu schaffen«, meint das Colectivo Situaciones.

Ein Beispiel gab am 2. März einer der Beteiligten am Indymedia-Forum: »Wir werden schnell aufhören, Steuern zu bezahlen, und mit diesem Geld werden wir eine Gemeindekasse einrichten, die von der Bevölkerung verwaltet wird, und wir werden zeigen, dass es nicht nötig ist, die Macht zu stürzen, sondern allein, unsere eigene Macht aufzubauen«.

Almeyra versichert in dem Artikel vom 24. Februar: »So wichtig und historisch die Versammlungen der Bevölkerung sind, sie sind weit entfernt davon, die Mehrheit der Bevölkerung zu repräsentieren und die organisatorischen, kulturellen und technischen Voraussetzungen zu haben, um die ins Wanken geratene staatliche Macht zu ersetzen. Was die piqueteros betrifft, so sind sie minoritär, kämpferischer, aber wenige.«

Auch der Gebrauch von Waffen wird nicht rundheraus ausgeschlossen. Denn, wie ein Leiter der Frente de Trabajadores Combativos (Front kämpferischer Arbeiter) anerkennt, ist »die Gefahr eines Bürgerkriegs latent«. »Wenn man die fierros (wörtlich: Werkzeuge, hier im Sinne von Bewaffnung) benutzen muss, werden wir sie haben. Die piqueteros haben schon nichts mehr zu verlieren«, erklärt er. Argentinischen Quellen zufolge befinden sich in diesem Land rund drei Millionen Waffen in privatem Besitz. Im Januar stieg die Anzahl getöteter Polizisten in Buenos Aires auf 20.

Die Ereignisse in Argentinien sind schwindelerregend; alles scheint dort heute möglich zu sein. Selbst der Analyst Abel Viglione von der Fundación de Investigaciones Económicas Latinoamericanas meint bekümmert: »Wohin wir gehen? Ich habe keine Ahnung.«