Im Jahr eins des Kampfs gegen den Terror

Sicherheitswahn

Präzise platziert in der heißen Phase des vom Thema »Innere Sicherheit« dominierten französischen Wahlkampfs hat der italienische Justizminister Roberto Castelli im Frühjahr der damaligen französischen Regierung Lionel Jospins vorgeworfen, Mitgliedern der Roten Brigaden (BR) Unterschlupf zu gewähren. Entsprechend stellen italienische Behörden die Festnahme Paolo Persichettis, der Ende August an Italien ausgeliefert wurde, als entscheidenden Schlag gegen den Terror dar. Schließlich sei Persichetti »keine Person der zweiten Reihe«, so Innenminister Giuseppe Pisanu in Rom, der den Ausgelieferten jetzt mit dem Anschlag der »neuen« BR auf den Wirtschaftswissenschaftler Marco Biagi im März dieses Jahres in Bologna in Verbindung bringt.

»Die Entscheidung der französischen Regierung, Paolo Persichetti auszuliefern, fügt sich dem heute herrschenden Sicherheitswahn«, kommentiert Toni Negri die Entwicklung. Warum gerade Persichetti? Er sei, so Negri, der einzige unter den mehr als hundert italienischen Exilierten in Paris, den man sofort ausliefern konnte, da das vor zehn Jahren gegen ihn verfügte Auslieferungsdekret nach wie vor rechtskräftig sei. »Schon seit einiger Zeit basteln die italienischen Behörden an der Idee der Reorganisation der BR, die von der Zusammenarbeit italienischer und im Ausland lebender Kader ausgehen soll. In dieser Konstruktion ist die Tatsache, dass mehrere Dutzend ehemaliger Brigadisten im Pariser Exil leben, zweifellos wesentlich.«

Konstrukte wie das von Negri angesprochene haben in der politischen Justiz Tradition. Berüchtigt in Italien sind die »Theoreme« der Staatsanwälte. Diese Vermutungen ohne Beweise dienten in den vergangenen 25 Jahren beispielsweise dazu, ein einheitliches Handeln der verschiedenen Gruppen der radikalen und bewaffneten Linken zu unterstellen, ob Potere operaio oder Autonomia, Lotta continua oder BR. Anklagen und Verurteilungen nahmen nicht selten solche »Theoreme« zur Grundlage, erweitert durch Aussagen und Erfindungen von Kronzeugen. Der Fantasyautor Valerio Evangelisti, ehemals Aktivist der Autonomia, erinnert an das Konstrukt im Fall Persichettis: »Persichetti wurde in Italien nicht wegen Mordes zu 22 Jahren Gefängnis verurteilt, sondern wegen der 'moralischen Beteiligung' an einem Mord. 'Moralische Beteiligung' heißt einfach, dass ihm die Mitgliedschaft in der Gruppe vorgeworfen wurde, die einen Nato-General erschossen hat. Und das aufgrund der Beschuldigung durch einen einzigen Kronzeugen.«

Unter dem Motto »Lutte contre le Terrorisme« stand ein Treffen des französischen Justizministers Dominique Perben mit seinem italienischen Amtskollegen Castelli am 11. September in Paris. Zu den dringlichen Aufgaben zählt für beide das Vorgehen gegen den radikalen Islamismus und die »Überprüfung Fall für Fall« (Perben) einer Liste mit Namen von ehemaligen Militanten aus der italienischen radikalen Linken, die zum Teil seit mehr als 20 Jahren im französischen Exil leben. An die Stelle einer allgemeinen politischen Amnestie für die radikale Linke und der Aufhebung der Notstandsgesetzgebung setzt der italienische Staat gegenwärtig eine Neuauflage der Sympathisantenjagd. So zeigt sich eine Tendenz zu Delegitimation radikaler Kritik und Politik, die, ein paar italienische Eigentümlichkeiten abgezogen, den »Kampf gegen den Terror« allgemein kennzeichnet.