Der Spielzeugkrieg

Das Buch »Leaving Reality Behind« rekapituliert den spektakulären Prozess des amerikanischen Spielzeugversands eToys gegen die europäische Künstlergruppe etoy. Von Tilman Baumgärtel

Sieben selbst ernannte »Agenten« in orangen Uniformen und mit kahl geschorenen Köpfen auf der einen Seite. Auf der anderen ein ambitionierter Dotcom-Firmengründer, der im Internet viel Geld verdienen wollte und sich gerne inmitten von Kinderspielzeug fotografieren ließ. Das sind die Kontrahenten in einer der ungewöhnlichsten Auseinandersetzungen, die das Internet je gesehen hat.

Der Schlagabtausch ist in die Netzannalen als Toywar, Spielzeugkrieg, eingegangen. Der Anlass für diesen Krieg, der sich zu einem großen Teil im Internet und zwischen Gegnern abspielte, die sich nie zu Gesicht bekamen, war die Internetadresse www.etoy.com. Die amerikanische Internetfirma eToys, die über das Netz Spielzeug anbot, verklagte am 1. November 1999 die europäische Netzkunstgruppe etoy wegen der Verletzung ihres Namensrechts. Die Internetadresse www.etoy.com sei der des Unternehmens zu ähnlich, was zu Verwechslungen führen könnte.

Ein Gericht in Kalifornien nahm das Verfahren an, obwohl etoy die Domain bereits 1995 angemeldet hatte, während eToys erst 1997 gegründet wurde und die Website 1998 online ging. Im Januar 2000 einigten sich die beiden Parteien nach heftigen Auseinandersetzungen außergerichtlich. Etoy bekam die Internetadresse zurück, die monatelang gesperrt war. Zu diesem Zeitpunkt waren die Aktien von eToys, das eine Zeit lang als eins der interessantesten Dotcom-Unternehmen in den USA galt, schon tief unter ihren Ausgabekurs gefallen.

Dass ein fast mittelloses Künstlerkollektiv sich gegen einen finanzkräftigen US-Konzern nicht nur vor Gericht durchsetzt, sondern auch zu seinem wirtschaftlichen Niedergang beiträgt, ist ein in dieser Form einzigartiges Ereignis. Der Fall »eToys gegen etoy« wurde zur Geschichte vom tiefen Fall eines auf hohe Gewinne spekulierenden Unternehmens. Etoy fasste diese Auseinandersetzung als ein »Gesamtkunstwerk« auf. »Toywar was the most expensive performance in art history: $4.5 billion in damage!«, heißt es auf ihrer Website.

Etoys musste auf existenzbedrohende Weise erfahren, dass bestimmte Eigenschaften des Internets, die sie für ihre Geschäfte zu nutzen gedachten, sich leicht gegen ihre eigene Firma richten konnten. So leicht, wie man im Netz ein Unternehmen gründen konnte, so leicht war es auch, in kürzester Zeit eine Protestkampagne zu starten.

Schon im Jahr 1994 kündigte das amerikanische Künstlerkollektiv Critical Art Ensemble in einem Text den »elektronischen zivilen Widerstand« an. Es spekulierte darüber, wie man Protestmethoden wie Sitzblockaden und Demonstrationen auf das Internet übertragen könnte. Zu den ersten Opfern, an denen derartiges erprobt wurde, gehörten die Frankfurter Börse, die Lufthansa und die WTO, deren Internetsites aus Protest von Globalisierungsgegnern und anderen linken Gruppen durch Daueranfragen und systematische Überlastung des Servers lahmgelegt wurden.

Der Toywar ging einen Schritt weiter. Das Internet wurde benutzt, um die Reputation von eToys zu demontieren. Durch die Leichtigkeit, mit der auch kleine Gruppen oder Individuen rufschädigende Informationen im Internet veröffentlichen können und durch die Geschwindigkeit, mit der sie sich im Netz bewegen, können auch Organisationen, die nicht zu den »Big Playern« der Informationsindustrie gehören, Einfluss auf ein Unternehmen nehmen. Etoys musste das dort erfahren, wo es dem Unternehmen besonders weh tat: bei seiner Börsennotierung.

Es ist erstaunlich, dass dieses spektakuläre Internetereignis nachträglich vergleichsweise wenig Reflexion auslöste. Zwar wurde das Gerichtsverfahren »eToys vs. etoy« in den Medien ausführlich behandelt, zwar wurde der »Toywar« in der Diskussion über Netzkultur und -kunst ein häufig zitierter Referenzpunkt. Doch wenn man die Analyseversuche damit vergleicht, was in den letzten Jahren über die möglichen Auswirkungen des Internet publiziert wurde, wirken die Beiträge, die den Spielzeugkrieg nach dem Abschluss des Verfahrens theoretisch zu untersuchen versuchten, vergleichsweise mager.

Die Schweizer Fernsehjournalistin Regula Bochsler und der britische Dokumentarfilmmacher Adam Wishart haben nun ein gründlich recherchiertes Buch vorgelegt, das den Toywar dokumentiert und sich nebenbei wie eine Auflistung aller Fehler liest, die man vermeiden sollte, wenn man im Internet Geld verdienen will.

Obwohl die Ereignisse, die Bochsler und Wishart dokumentieren, erst drei Jahre zurückliegen, lesen sie sich wie Berichte aus einer lange vergangenen Epoche. Firmen mit unerprobten und zweifelhaften Geschäftsmodellen werden zu Überfliegern an der Börse, in ominöse Unternehmungen werden Millionen investiert. Gleichzeitig gründet eine Gruppe von Bohemians eine subversive Firma, die nichts anderes produziert als das eigene Image. Es ist das große Verdienst von »Leaving Reality Behind«, die Entwicklung des Toywars auf beiden Seiten detailliert zu beschreiben. Bochsler und Wishart führten Interviews mit den meisten der beteiligten Protagonisten, und auch bei einem Gerichtsverfahren, das ein etoy-Mitglied gegen sie anstrengte, hatten ihre Recherchen Bestand.

Während etoy sich in der Schweiz aus einer Clique von Kunststudenten, Musikern und Programmierern entwickelte, entstammte eToys der Ideenschmiede idealab!, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Internet-Geschäftserfolge mit derselben Geschwindigkeit zu produzieren wie Hollywood-Studios ihre Blockbuster. Erst als die Gründung von eToys schon weit fortgeschritten war, bemerkte man, dass unter der Adresse www.etoy.com bereits eine Website bestand, auf der Bilder von Terroranschlägen und gepiercten Brustwarzen zu sehen waren. Etoys versuchte, mit Geldgeboten und juristischen Mitteln, etoy zu bewegen, aus dem Internet zu verschwinden.

Dass etoy unter diesen Bedingungen schlagfertig und schnell reagierte, ist nicht zuletzt deswegen verblüffend, weil die Gruppe kurz vor Beginn der Auseinandersetzung mit eToys vor der Selbstauflösung zu stehen schien. Das Kollektiv hatte einige seiner ehemals sieben Mitglieder verloren und war länger nicht mehr mit neuen Arbeiten an die Öffentlichkeit getreten.

Im Nachhinein wirkt der Zeitpunkt der Auseinandersetzung wie ein besonders gelungenes Timing. Ende des Jahres 1999, als der Toywar begann, schienen den »Börsenphantasien«, die vom Internet beflügelt wurden, keine Grenzen gesetzt. Schon ein halbes Jahr später, nach dem ersten dramatischen Einbruch des Nasdaq und des Neuen Marktes, hätte die Auseinandersetzung zwischen etoy und eToys eine andere, eventuell sogar keine Wirkung gehabt, da die Kurse vieler Internetfirmen ebenso abstürzten wie zuvor der Kurs von eToys. Aus heutiger Perspektive wirkt der Toywar fast wie eine prophetische Vorwegnahme des Verfalls von Internet-Börsenwerten, der das Jahr 2000 kennzeichnete.

Als eToys im November 1999 etoy wegen Markenrechtsverletzung verklagte, erließ ein kalifornischer Richter eine einstweilige Verfügung gegen die Künstler, und ihre Internetadresse www.etoy.com wurde gesperrt. Etoy begann eine bis dahin beispiellose Mobilisierungskampagne, um darauf aufmerksam zu machen, dass sie im Begriff war, ihre Netzexistenz zu verlieren. Obwohl eToys den Künstlern schließlich eine halbe Million Dollar für ihre Internetadresse bot, weigerten sie sich, www.etoy.com zu verkaufen.

Kurz vor Weihnachten kam es nach der Auskunft der Unterstützer von etoy, die sich in aller Welt über das Internet zu organisieren begannen, zu einem »virtuellen Sitzstreik« gegen eToys. Bei dieser Aktion blockierten die Sympathisanten durch Daueranfragen immer wieder den Server des Unternehmens. Im Internet kursierte eine Liste mit den E-Mail-Adressen aller eToys-Angestellten. Und in den so genannten »Diskussionsboards« von Online-Banken wurden Informationen über das Verfahren, in das eToys verwickelt war, verbreitet.

Bald griffen die Medien die Geschichte auf. Und plötzlich sah eToys nicht mehr wie die nächste große Erfolgsgeschichte aus, sondern wie ein Unternehmen, dessen Geschäftsidee an einer leicht zu verwechselnden Internetadresse zu scheitern schien. Viele Aktionäre stießen die Aktie ab, der Börsenkurs begann zu sinken. Als eToys die Klage im Januar 2000 zurückzog und sogar noch die Anwaltskosten bezahlte, war der Börsenkurs bereits um über 50 Dollar pro Aktie gefallen. Der Niedergang der Firma war nicht aufzuhalten, das Unternehmen wurde an die Spielzeugfirma KoB Holdings verkauft.

Die Firma eToys gibt es zwar noch, aber ihre Aktien sind keine Investition mehr wert. Für das Künstlerkollektiv etoy hat die Aktion dagegen langfristig künstlerische und sogar wirtschaftliche »Dividenden« gebracht. Ihre »Aktien« (Computerausdrucke mit Motiven aus der selbst entwickelten martialischen Ikonographie des Kollektivs) werden zur Zeit für 4 500 Dollar angeboten und wurden schon von einer Reihe von Sammlern gekauft.

Für alle, die im Internet Geschäfte machen wollen, kann der Toywar als Beispiel dafür dienen, dass das Netz nach wie vor unberechenbar ist. Er war eine der bisher größten Aktionen in diesem Bereich, die letzte war es auf keinen Fall.

Adam Wishart und Regula Bochsler: Leaving Reality behind: The battle for the soul of the Internet, London 2002, 360 S., 16,99 Pfund