Der Krieg ist aus, die Messer werden gezückt

Nordirland: Verwirrung um einen angeblichen Maulwurf des britischen Geheimdiensts | Jürgen Schneider

»Stakeknife« ist der Deckname eines enttarnten Agenten, den der britische Militärgeheimdienst in die Spitze der IRA eingeschleust hatte. So glaubte man drei Tage im Mai. Dann tauchte der Mann auf, den man als Topspion beschuldigte, und dementierte alles.

Does Stakeknife exist? Ask the tooth fairy. Jude Collins, Irish News, 15. Mai 2003

Am Nachmittag des 11. September 2001 fuhr der Sonderbeauftragte von US-Präsident Bush, Richard Haass, zu Gesprächen mit Sinn Féin-Präsident Gerry Adams von Dublin nach Belfast. Einziges Thema: Die Festnahme von drei angeblichen IRA-Mitgliedern in Bogotá am 12. August 2001. Die drei, so wurde behauptet, hätten sich in den von der kolumbianischen Guerilla FARC kontrollierten Gebieten aufgehalten, um dort militärisches Knowhow zu vermitteln. Haass hatte zuvor schon signalisiert, dass die Toleranz gegenüber der IRA, wie sie unter Bushs Amtsvorgänger Clinton geübt worden sei, der Vergangenheit angehöre. Haass ließ gegenüber der Sinn Féin-Führung keinen Zweifel daran, was im Weißen Haus erwartet wurde: die Dekommissionierung des Waffenarsenals der Provisorischen IRA (Provos), das sie zu einem Großteil dem libyschen Revolutionsführer Gaddafi verdankte.

Die Provos verstanden die US-Lektion. Am 23. Oktober 2001 betonierten sie in der Grafschaft Cavan ein umfangreiches Waffendepot ein. Fünf Tage später bestätigte der Armeerat der IRA diesen Akt: »Wir haben Waffen unbrauchbar gemacht, um den Friedensprozess zu retten und andere von unseren ernsthaften Absichten zu überzeugen.« Nie zuvor in der langen Widerstandsgeschichte Irlands hatten Aufständische freiwillig ihre Waffen abgegeben oder auf Verlangen vernichtet. Die Botschaft dieses Vorgehens, das sich noch ein zweites Mal wiederholte, war klar, trotz aller gegenteiligen Beteuerungen gegenüber der Basis: Der Krieg ist zu Ende, die Waffen werden nicht mehr benötigt.

Point of no return. Die IRA hat auch keine andere Wahl, wie Bernadette McAliskey dem Autor schon 1999 in einem Interview erklärte: »Die irische und die britische Regierung haben eine sehr clevere Strategie verfolgt. Jede Entscheidung, die Sinn Féin traf, machte es beim nächsten Schritt schwieriger, eine Alternative zu wählen. Es war wie bei einem Trichter, es wurde immer enger, bis es nur noch eine einzige Möglichkeit gab. An diesem Punkt befinden wir uns jetzt. Sinn Féin muss da durch oder wird alles verlieren. Der Prozess geht weiter, er ist nicht umkehrbar, auch wenn sich Sinn Féin daraus verabschiedet. Eine Rückkehr zu einer militärischen Strategie wäre an diesem Punkt glatter Selbstmord.«

Am 13. April 2003 legte die IRA der britischen Regierung ein Dokument vor, in dem sie definitiv zusicherte, die Waffen niederzulegen. Die IRA sei entschlossen, den Konflikt vollständig zu beenden, und werde ihre Aktivitäten und Strategien darauf ausrichten. Zuvor hatte Gerry Adams versichert, eine dritte Waffenabgabe stehe kurz bevor. Diese sei aber von dem Versprechen abhängig, dass das nordirische Regionalparlament nicht wieder aufgelöst werde. Dem britischen Premier Blair, der Anfang April Bush nach Belfast gebeten hatte – »an einen der sichersten Orte außerhalb der USA für ein solches Treffen« (Independent) –, um den Druck auf die IRA zu erhöhen, ging die Erklärung der IRA nicht weit genug, ebenso dem irischen Premier Ahern sowie dem Führer der nordirischen Unionisten, David Trimble. Die IRA habe nicht erklärt, sämtliche paramilitärischen Aktivitäten einstellen zu wollen, einschließlich ihrer Bestrafungsaktionen, der erneuten Waffenbeschaffung und der dunklen Machenschaften des »racketeering«. Blair setzte die für den 29. Mai 2003 angesetzten Wahlen zum nordirischen Regionalparlament aus.

Mit dem Friedensprozess, dessen Ursprünge sich bis in das Jahr 1982 zurückverfolgen lassen, wird zwar nicht das hehre Ziel einer vereinigten, sozialistischen Republik erreicht werden, das sich die IRA einst auf die Fahnen geschrieben hatte, er trägt allerdings dazu bei, die tradierte Vorherrschaft des unionistischen Lagers in Nordirland zu untergraben, weswegen die protestantischen Hardliner an ihrer lange geübten Wagenburgpolitik festhalten. Trimble fordert, dass eine weitere Waffenabgabe der IRA gefilmt wird und zudem, dass sich die IRA auflöst. Tut sie es nicht, möchte er neue Sanktionsmöglichkeiten für das Regionalparlament schaffen. Laut dem so genannten Karfreitagsabkommen von 1998 ist die Mehrheit der unionistischen wie auch der nationalistischen bzw. republikanischen Stimmen erforderlich, um Sanktionen gegen eine Partei zu verhängen. Trimble hat die Arbeit des Regionalparlaments immer wieder sabotiert, die Umsetzung des Abkommens (etwa in Sachen Polizeireform) blockiert und es permanent gebrochen, weil er die loyalistischen Paramilitärs nicht zur Waffenabgabe drängt. Er möchte Sanktionen nun schon verhängen können, wenn sich 40 Prozent aller Abgeordneten dafür aussprechen. Eine solche Regelung käme einem unionistischen Veto gleich.

Ein Maulwurf. Die Schwierigkeiten für die irisch-republikanische Bewegung sollten aber noch größer werden. In der Nacht zum 11. Mai 2003 wurde auf der US-amerikanischen Website Cryptome der Name eines angeblich in Diensten britischer Geheimdienste stehenden IRA-Mannes veröffentlicht und behauptet, er sei jener »Stakeknife«, ein »uber-agent« (Time Magazine), über dessen Existenz schon seit Jahren gerätselt wurde. Die Website-Betreiber behaupteten, sie hätten einen Hinweis bekommen, dass eine schottische Sonntagszeitung, Sunday Herald, den vermeintlichen Topspion enttarnen wolle. Die schottische Zeitung sowie die in Irland bzw. Nordirland erscheinenden Sonntagszeitungen nannten den Namen: Alfredo Scappaticci. Andrew Jaspan vom Herald erklärte, er habe sich zu der Namensnennung entschlossen, nachdem das britische Verteidigungsministerium bestätigt habe, dass Scappaticci von Belfast nach England in Sicherheit gebracht worden sei. Paddy Murray von der Sunday Tribune war sich »120 Prozent sicher«, dass Scappaticci Stakeknife sei. Auch er war informiert worden, die Dienste hätten Scappaticci aus Belfast weggebracht. In Sunday People hieß es, »der wichtigste Agent der Briten in der IRA« befinde sich in einem »sicheren Versteck in England«. In der gleichen Ausgabe berichtete der Reporter Greg Harkin, er habe noch am Samstag in Westbelfast mit einem Mann gesprochen, der Freddie Scappaticci hieß und geleugnet habe, Stakeknife zu sein. In einem BBC-Radiointerview sagte Harkin, Sicherheitskräfte hätten ihm zweimal versichert, Stakeknife alias Scappaticci sei in sicherem Gewahrsam in England. »Ich wurde belogen«, fuhr Harkin fort, denn es hatte sich herausgestellt, dass Scappaticci Belfast offenbar nicht verlassen hatte. Am 18. Mai behauptete Harkin dann, Scappaticci habe im nordirischen Portaferry mit den ihn führenden Geheimdienstlern gesprochen.

Scappaticci, so hieß es in den Sonntagsblättern, habe eine führende Rolle in der internen Sicherheitseinheit der IRA gespielt und sei Mitglied des General Headquarters (GHQ) der IRA gewesen. 25 Jahre lang habe er Informationen an die Force Research Unit (FRU), eine Einheit des britischen Militärgeheimdienstes, geliefert. Die FRU, deren Berichte auf dem Schreibtisch von Tony Blair und seinen Amtsvorgängern landeten, habe ihn befugt, sich an bis zu 40 Morden zu beteiligen. Loyalisten, Polizisten, britische Soldaten und Zivilisten hätten sterben müssen, damit Stakeknife nicht enttarnt wurde. Er habe zudem als Spitzel verdächtigte IRA-Mitglieder entführt, verhört, gefoltert und umgebracht.

Scappaticci soll den Geheimdienstlern auch Informationen über die Absichten der drei IRA-Leute geliefert haben, die 1988 in Gibraltar von Soldaten der britischen Eliteeinheit SAS gestellt und laut Augenzeugen regelrecht hingerichtet wurden. Der Armeerat der IRA hatte damals eine interne Untersuchung angeordnet und »loose talk« der drei IRA-Kombattanten, die sich gegen die Vorwürfe nicht mehr wehren konnten, sowie undichte Stellen in Westbelfast und der südirischen Grafschaft Louth für das Scheitern der geplanten Aktion verantwortlich gemacht. Ed Moloney schreibt allerdings in seinem Buch A Secret History of the IRA, das GHQ sowie der Armeerat der IRA hätten in den Wochen vor der geplanten Operation in Gibraltar deutliche »Warnsignale« empfangen, dass die Briten in die IRA-Pläne in Europa eingeweiht waren. Diese Signale seien aber ignoriert worden, und bei der anschließenden Untersuchung habe man »die Möglichkeit eines Lecks oder Verräters auf einer höheren Ebene nicht in Erwägung gezogen«.

Dass Verräter am Werk waren, hatte sich schon im Jahre 1987 gezeigt. Eine Aufklärung steht bis heute aus. Im Oktober 1987 wurde der mit Waffen beladene Kutter »Eksund« vor Frankreichs Küste gekapert. Es sollte die größte Waffenlieferung aus Libyen sein, und die IRA-Führung hatte ihre Einheiten auf die so genannte Tet-Offensive eingestimmt. Durch das Aufbringen des Kutters waren die Pläne einer Kriegführung mit schwerem Gerät zunichte gemacht worden. Bereits am 8. Mai 1987 waren in Tyrone acht IRA-Leute im Kugelhagel britischer Spezialeinheiten umgekommen. Der Ablauf der Operation ließ nur einen Schluss zu: Irgendwer irgendwo in der IRA hatte die East Tyrone Brigade verraten.

Doch zurück zu den Pressemeldungen über Stakeknife. Der habe, so hieß es weiter, 1987 auf der Abschussliste der Ulster Defence Association (UDA) gestanden. Um ihn zu schützen, habe die FRU der UDA den unbeteiligten Rentner Francisco Notarantonio als IRA-Kommandanten präsentiert. Er wurde von der UDA ermordet. Ermordet wurde auch Tom Oliver, ein Bauer aus der Grafschaft Louth, der Informant der südirischen Polizei gewesen sein soll. Auch dieser Mord wurde Stakeknife bzw. Scappaticci zugeschrieben. Warum lässt der britische Armeegeheimdienst einen Zuträger der irischen Polizei beseitigen?

Und schließlich soll Scappaticci 1990 dem damaligen Direktor des Öffentlichkeitsreferates von Sinn Féin, Danny Morrison, eine Falle gestellt haben. Danny Morrison wurde verhaftet, als er sich dem Haus näherte, in dem sich Sandy Lnych aufhielt, den die IRA festgesetzt und der eingestanden hatte, ein Spitzel zu sein. Er hatte sich bereit erklärt, auf einer Pressekonferenz über die Zusammenarbeit mit den britischen Diensten zu berichten.

Codewort Stakeknife. Drei Tage nach den »Enthüllungen« der sich auf »Quellen in Sicherheitskreisen« berufenden Journalisten trat der Bauarbeiter Scappaticci im Büro seines Rechtsanwaltes in der Westbelfaster Falls Road, die eine IRA-Hochburg ist, bei einer Pressekonferenz auf. Zur gleichen Zeit wurde das Büro von Sinn Féin von einer vierköpfigen britischen Undercover-Einheit überwacht, die sich in der Carnegie Library, ebenfalls in der Falls Road, versteckt hatte. Sie wurde entdeckt und die Herren flohen.

Scappaticci sagte gegenüber einem BBC-Reporter und einer freien Journalistin, warum man ihn als Alfredo bezeichne, könne er sich nicht erklären. In seiner Geburtsurkunde stehe der Name Freddie. Entgegen den Presseberichten habe er Belfast nicht verlassen. Warum man ihn beschuldige, Stakeknife zu sein, wisse er nicht. Auf seine IRA-Mitgliedschaft angesprochen, gestand er zögerlich ein, dass er bis vor dreizehn Jahren in der irisch-republikanischen Bewegung aktiv gewesen sei. In einem kurz darauf erschienenen Interview der Wochenzeitung Andersonstown News erläuterte Scappaticci, er habe der Bewegung »nach der Lynch-Sache« den Rücken gekehrt und sei nach Dublin gegangen. Auf die Äußerungen von IRA-Dissidenten angesprochen, er habe den Friedensprozess der IRA gesteuert, erwiderte Scappaticci: »Zu unterstellen, dass ich die zentrale Figur im Friedensprozess gewesen sei, die sich machiavellistisch gebärdete, dass ich das Vertrauen von Gerry Adams genossen hätte, der Mr. Big im Dienste des britischen Geheimdienstes war, der den Friedensprozess mal in die eine Richtung und dann wieder in die andere lenkte, um der britischen Agenda zu dienen, ist so lächerlich, dass es einfach unglaublich ist.« Die republikanische Bewegung wisse, dass er nicht in den Friedensprozess involviert gewesen sei. So habe er vom Waffenstillstand der IRA erst erfahren, als ein Freund, ein Republikaner, ihm bei einer zufälligen Begegnung auf der Straße davon erzählt habe.

Während Stakeknifes Agentenführer in der FRU weiterhin daran festhalten, Scappaticci sei Stakeknife, hieß es aus den Reihen der Sinn Féin-Führung, die sich nach den »Enthüllungen« tagelang bedeckt gehalten hatte und auf die sich an der Basis breit machende Unruhe reagieren musste, die republikanische Bewegung habe keinen Grund, an der Glaubwürdigkeit Scappaticcis zu zweifeln. Wenn dem so ist, warum hat dann kein Sinn Féin-Politiker an Scappaticcis Presseauftritt teilgenommen? Die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen, so Sinn Féin, stammten »von namen- und gesichtslosen Securokraten der britischen Geheimdienste«.

Haben diese die Behauptungen in der Hoffnung in die Welt gesetzt, dass Scappaticci von der IRA erschossen wird, um sich so einen Beweis zu schaffen, dass die Provos es mit dem Friedensprozess nicht erst meinen? Laut Sunday Life sei Scappaticci zweimal von der IRA verhört worden, weil er im Verdacht gestanden habe, Stakeknife zu sein. Der Verdacht habe sich aber nicht erhärten lassen. Stimmen die gegen Scappaticci erhobenen Vorwürfe, warum wurde er dann nicht von der nordirischen Polizei festgenommen? Wenn Scappaticci nicht Stakeknife (oder, wie Geheimdienstler berichtigten, Steak Knife) ist, wer ist dann der Spion, der aus der Kälte kam? Gibt es ihn, oder handelt es sich um ein Verwirrungsmanöver der britischen Dienste? Wurde Scappaticci beschuldigt, um eine andere Person zu decken? Ist Stakeknife gar keine Person, sondern ein geheimdienstliches Codewort für mehrere Agenten, oder, wie es aus republikanischen Kreisen hieß, eine Operation mit Abhörmaßnahmen und Spionen? Sollte die republikanische Bewegung durch die Behauptung der Existenz von Stakeknife zu »einer selbstdestruktiven Hexenjagd« (Time Magazine) getrieben werden? Hat die britische Regierung der IRA signalisert, dass die Messer gezückt werden, wenn sie sich ihren Forderungen nicht beugt? Ist die Operation »strategischer Natur« (Sunday Business Post) und wollten Teile der politischen Klasse in London mit der Stakeknife-Affäre davon ablenken, dass sie den Friedensprozess für unbestimmte Zeit auf Eis gelegt haben? Der irische Außenminister Cowen sagte, die für die Stakeknife-Veröffentlichungen Verantwortlichen hätten sehr unverantwortlich gehandelt. Blair, so Gerry Adams, müsse jenen Einhalt gebieten, die den Friedensprozess hintertrieben. Nach Gesprächen mit dem irischen Premier Ahern forderte Adams am 24. Mai: »Die Wahrheit muss ans Tageslicht. Dieser Teil unserer Geschichte muss vollständig offen gelegt werden.«

Dies zu tun, hatte am 17. April bereits Sir John Stevens versprochen, als er eine auf wenige Seiten gekürzte Version seines mehrere hundert Seiten umfassenden Berichts über die Zusammenarbeit von Sicherheitskräften in Nordirland und loyalistischen Todesschwadronen vorlegte und ankündigte, er wolle auch Stakeknife vernehmen. Dies ist bis jetzt nicht geschehen. Geht Stevens etwa davon aus, dass Scappaticci nicht Stakeknife ist? Geht es nach dem Willen des FRU-Agenten, der Stakeknife geführt haben will, soll der auch nicht vernommen werden. Der Namenlose forderte die britische Regierung auf, weitere Untersuchungen der Zusammenarbeit von Sicherheitskräften und nordirischen Paramilitärs durch Stevens und sein Team zu unterbinden.