Die Weintrauben des Himmels

Der Koran gilt als Wort Gottes und deshalb als unantastbar. Aber haben die Menschen es auch richtig verstanden? alfred hackensberger über die Popularität und die »syro-aramäische Lesart« des heiligen Buches

Selbst für meine Studenten, die mit einem 40 000-Dollar-Auto zur Uni kommen«, sagt Amal Saad-Ghorayeb, Assistenzprofessorin für Politikwissenschaft an der libanesisch-amerikanischen Universität in Beirut, »ist es ›cool‹, während des Ramadans zu fasten.« Sie schenkt mir nachdenklich eine Tasse Kaffee ein, bevor sie weiterspricht. Der Islam sei eine Mode geworden, wie etwa der Marxismus in den sechziger und siebziger Jahren. »Sehen Sie, die Wahlen zur Studentenvertretung hier an der Universität werden in der Hauptsache von den islamischen Gruppen organisiert, nicht mehr von den Linken wie früher.« Der Islam gebe den jungen Menschen eine neue Identität, ein neues Selbstbewusstsein, durchaus kritisch, aber ohne die Notwendigkeit, ihre Tradition komplett in Frage zu stellen.

»Nach dem Ende der Sowjetunion, nach dem Niedergang linker Ideen, nach einer Art Vakuum«, meint die Professorin, »gibt es die Möglichkeit einer Neuorientierung für viele junge Menschen, die Antworten auf ihre Fragen nach dem Sinn und Zweck des Lebens suchen.« Anstatt wie bisher an die revolutionären Interpretationen des Kommunistischen Manifests oder des Kapitals zu glauben, werde nun der Koran, das heilige Buch des Islam, zum Schlüssel dieser Welt, der Wegweiser gegen alle Ungerechtigkeiten. »Und der Koran hat den Vorteil, dass er bekanntlich ein konkurrenzloses Buch ist«, fügt Amal Saad-Ghorayeb an.

Mit »konkurrenzlos« spielt sie auf die sogenannte »göttliche Urheberschaft« des Korans an. Im Gegensatz etwa zur Bibel, die von Menschen geschrieben wurde, gilt der Koran für alle Moslems als das direkt von Gott stammende Wort, das der Engel Gabriel dem Propheten Mohammed im Laufe von rund 20 Jahren (612–632 n. Chr.) in Mekka und Medina überbrachte. Der Koran ist also nicht ein x-beliebiges Buch unter vielen anderen Büchern, der Islam nicht eine Religion unter vielen anderen Religionen oder Ideologien. »Dieses Buch ist nicht anzuzweifeln«, sagt der Koran über sich selbst. Jede Kritik ist ausgeschlossen, denn gegen das »göttliche Wort« lässt sich schwerlich etwas sagen, außer man würde die Existenz Gottes selbst anzweifeln. Obendrein seien die »göttlichen Offenbarungen« in »deutlicher arabischer Sprache« erfolgt, was zur »göttlichen Legitimität« noch ein Gefühl des »auserwählten (arabischen) Volkes« mit sich bringt.

»In Zeiten, in denen der Westen die Politik der arabischen Länder komplett zu bestimmen versucht«, erklärt Saad-Ghorayeb, »ist eine sich auf das eigene kulturelle Erbe besinnende Identitätssuche sehr verständlich. Das macht wahrscheinlich heute die breite Attraktivität des Islams für viele nicht nur junge Menschen aus.«

Nach den weltweiten Terroranschlägen werden besonders aus dem Westen Stimmen laut, die eine Reform des Islams fordern. Mehr Demokratie, mehr Rechte für Frauen, mehr Recht auf Selbstverwirklichung, mehr Meinungsfreiheit usw. Aber die Zeiten sind schlecht für Reformbewegungen in der islamischen Welt, die sich vom Westen unter Druck gesetzt, ja bedroht fühlt. Dissidenten sind nicht gerne gesehen. Liberale Interpreten des Islam müssen um ihr Leben fürchten. Faruq Foda, ein ägyptischer Gelehrter, wurde auf offener Straße erschossen, Nasr Hamed Abu Zaid musste Ägypten verlassen, nachdem man ihn von seiner Frau zwangsweise geschieden hatte, und Professor Suliman Basheer wurde von seinen Studenten an der Universität von Nablus aus dem zweiten Stock geworfen, weil er gesagt hatte, der Islam entwickele sich nur langsam, stimme noch nicht ganz mit den Aussagen des Propheten Mohammed überein.

Als Rechtfertigung all dieser Taten, auch beim Angriff auf den Literaturnobelpreisträger Nagib Machfus oder der Fatwa gegen Salman Rushdie, dient der Vorwurf der Verunglimpfung des Korans, der Infragestellung des unantastbaren Wortes Gottes. Die Wissenschaftler und Schriftsteller sind keine Kritiker, sie sind Apostaten, und ein Abfall vom rechten Glauben kann im Islam mit dem Tode bestraft werden. Wie wir selbst von der eigenen christlichen Geschichte und von totalitären Regimes in Europa wissen, ist der rechte Glaube eine Frage der Interpretation, eine sehr willkürliche und wechselhafte Angelegenheit. Im Falle des Korans ist es nicht anders. Die Interpretation des rechten Glaubens ist von Land zu Land verschieden und von den jeweiligen Machthabern abhängig, die sich über das heilige Buch und seine göttliche Referenz zu legitimieren versuchen. Das war bei Saddam Hussein so, der seine säkulare Diktatur wiederholt religiös abzusichern versuchte, wie auch bei den Taliban in Afghanistan, die vermeintlich buchstabengetreu das Leben nach dem Koran gestalteten. Beispiele aus der Gegenwart sind Saudi-Arabien oder der Iran, Staaten, die auf sehr konträren Glaubensansichten basieren. Nicht zu vergessen die militanten Gruppen, die aus dem Untergrund eine eindimensionale, tödliche Botschaft des Korans verbreiten. Wer also über das heilige Buch des Islam, das verbürgte Wort Allahs, öffentlich nachdenkt oder forscht, befindet sich unwillkürlich in einer verzwickten Lage. Er betreibt nicht etwa nur Wissenschaft, sondern stets auch ein Stück Ideologiekritik, was besonders heutzutage ein unkalkulierbares Risiko mit sich bringt.

Dessen ist sich auch Moncef Ben Abdeljelil, Professor für Literatur und Humanwissenschaften an der Sousse-Universität von Tunis, bewusst, der an einer textkritischen Ausgabe des Korans arbeitet. Mit einem Team untersucht er die Koran-Pergamente, die vor 30 Jahren bei der Renovierung der Moschee in Sana/Jemen gefunden wurden, sowie die ältesten existierenden Koranmanuskripte. Dabei wurden Unterschiede zur offiziellen Version des Korans, wie sie heute existiert, festgestellt. Im August 2003 sprach der tunesische Professor bei einem Seminar der Konrad-Adenauer-Stiftung über »Moderne und Islam im Nahen Osten« in Beirut noch relativ freimütig über seine Forschungsergebnisse. Was wohl an der Atmosphäre Beiruts gelegen haben dürfte, der einzigen arabischen Stadt, in der man über Religion (fast) alles sagen kann. »In den Koran-Pergamenten von Sana fanden wir eine ganz andere Methode der Übertragung, eine unterschiedliche Art der Auslegung des Korans.« Das Interessante an den neuen, alternativen Auslegungen sei es, dass man den gesamten rechtlichen Aspekt, der vom Koran abgeleitet wird, überdenken müsse. »Ich glaube«, so Abdeljelil weiter, »dass eine kritische Ausgabe unsere Meinung über die Situation der Frau, über religiöse Toleranz und das, was man Menschenrechte nennt, erweitert«.

Wenige Monate nach dem Seminar in Beirut, befragt nach näheren Details seiner Forschungen, lehnte Moncef Ben Abdeljelil nach einer ersten Zusage jedoch jeden weiteren Kommentar, jede nähere Erläuterung ab. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sei es verfrüht, etwas über das laufende Projekt zu sagen, das frühestens in zehn Jahren abgeschlossen sein soll. Er bestätigte nur seine formalen Ergebnisse. In den Koran-Pergamenten von Sana seien nur wenige, dafür aber entscheidende Unterschiede im Vergleich zum heute geltenden, offiziellen Korantext zu finden. In den ältesten Manuskripten dagegen sei zwar die Reihenfolge der Koransuren beinahe identisch mit der offiziellen Version, aber es gebe Unterschiede in der Bezeichnung der Suren, ein großes Missverhältnis in der Anzahl der Verse in jeder Sure, sowie bei der Zuweisung des Ortes (Mekka oder Medina) der Offenbarungen an den Propheten Mohammed. Was insgesamt also nichts anderes heißt, als dass Menschen im Laufe der Geschichte den heiligen Text verändert bzw. manipuliert haben.

Abschließend betonte der tunesische Koranforscher, dass dies auch nur vorläufige Resultate seien, die einer weiteren Analyse noch bedürften.

Wahrscheinlich ist Moncef Ben Abdeljelil angesichts der neuen Terroranschläge radikaler Islamisten etwas vorsichtiger geworden und hat sich an das erinnert, was er in Beirut sagte: »Im Islam gibt es heute fundamentalistische Projekte, die ausnahmslos jede Art von Nachdenken im Islam bekämpfen.«

Für diese Sorte von islamischen Denkschulen bedeutet bereits eine textkritische Untersuchung des Korans Blasphemie. Dieses Buch der Bücher kann ihrer Meinung nach keine menschliche Entstehungs- bzw. eine Entwicklungsgeschichte kennen, es ist in der heutigen Version vor knapp 1400 Jahren direkt vom Himmel gefallen.

Wesentlich weiter als das Forscherteam aus Tunis geht Christoph Luxenberg, ein Spezialist für semitische Sprachen in Deutschland. Sein im Jahr 2000 erschienenes Buch »Die syro-aramäische Lesart des Koran« sorgte weltweit, nicht nur in akademischen Kreisen, für Aufsehen. Den Sprachwissenschaftler, der sich sicherheitshalber das Pseudonym »Luxenberg« zugelegt hat, interessierten die so genannten »dunklen Stellen« des Korans. Das sind die Textpassagen, deren Sinn kaum oder gar nicht zu entschlüsseln ist und von denen islamische Gelehrte behaupten, dass Gott allein sie verstehen könne. Luxenberg versuchte eine Lektüre mit Syro-Aramäisch, einer Sprache, die über ein Jahrtausend die Kultur- und Schriftsprache im vorderasiatischen Raum gewesen war, bevor sie im 7. Jahrhundert langsam vom Arabischen verdrängt wurde. Plötzlich ergaben diese dunklen, unverständlichen Passagen einen Sinn.

Als der Prophet Mohammed 632 n. Chr. starb, gab es einen wie heute schriftlich fixierten Koran noch nicht. Der dritte Kalif Uthman (644–656 n. Chr.) ließ als erster eine verbindliche Ausgabe mit der Hilfe von Personen, die den Text auswendig gelernt hatten, und teilweise wohl auch nach bereits existierenden Manuskripten erstellen. Zu dieser Zeit lag eine arabische Grammatik noch in weiter Ferne, sie wurde erst 150 Jahre später kodifiziert. So genannte diakritische Punkte, die die gleich geschriebenen Konsonanten im heutigen Arabisch voneinander unterscheiden, existierten damals noch nicht. Sie wurden in den Koran erst später mit der arabischen Schrift eingeführt, zu einer Zeit, als niemand mehr Syro-Aramäisch kannte, jene Sprache, die zu Lebzeiten Mohammeds gesprochen und geschrieben wurde.

Für Luxenberg ist deshalb klar, dass beim Versuch, den Koran arabisch zu lesen und niederzuschreiben, Fehler gemacht wurden, Lesefehler und Übersetzungsfehler. Die Sprache des Korans sei eben eine Mischsprache aus Syro-Aramäisch und Arabisch, deren Verhältnis man, so Luxenberg, mit Deutsch und Niederländisch vergleichen könnte. »Nimmt man beispielsweise das Wort ›bellen‹. Auf Niederländisch bedeutet es ›klingeln‹. Wenn in Deutschland an der Klingel steht, »dreimal bellen«, wirkt es eher komisch.« So ähnlich verhalte es sich auch mit den Übersetzungsfehlern im Koran, die so zahlreich und frappant seien, dass Luxenberg »unzählige Male die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen« habe. »Die Fehllesungen und Fehldeutungen sind so verblüffend, dass man sich nicht vorstellen kann, dass die Menschen, für die die koranische Botschaft ursprünglich gedacht war, diese Sprache nicht verstanden hätten.«

Ein plakatives Beispiel für die Übersetzungsfehler sind die »Huris«, die berühmten Jungfrauen, die im Paradies den Selbstmordattentätern versprochen werden. In Wirklichkeit sind es nur »weiße Weintrauben als symbolische Ausstattung des christlichen Paradieses in Anlehnung an das Abendmahl des Evangeliums«. Aufschlussreiches gibt es, entsprechend Christoph Luxenberg, auch zum »Kopftuch« zu finden, das der Koran den Frauen angeblich vorschreibt. »In einer Passage in Sure 24, Vers 31 heißt es, arabisch gelesen: Sie sollen ihre ›Chumur‹ auf ihre Taschen schlagen! Diese unverständliche Passage wurde dann so interpretiert, dass sie sich ihre Kopftücher über ihre Brüste ziehen sollen. syro-aramäisch ist es aber so zu verstehen, dass sie sich ihre Gürtel um die Lenden (Taille) schnallen sollen.«

Das sind eigentlich noch Kleinigkeiten aus der »neuen Lesart des Koran« von Christoph Luxenberg. Für ihn »ist der Koran ein syro-aramäisches liturgisches Buch mit Auszügen aus der Schrift zur Verwendung im christlichen Gottesdienst«. Bei seiner Übersetzungsarbeit findet er im Buch des Islam u.a. eine direkte »Aufforderung zur Teilnahme an der Abendmahlliturgie« und Hinweise auf das Weihnachtsfest.

»Der Koran«, so erklärt er, »war von Anfang an nicht als Grundlage einer neuen Religion gedacht. Er setzt vielmehr den Glauben an die Schrift voraus und hat insoweit eine Vermittlerrolle.«

Ist der Koran also nur eine arabische Version der Bibel? Eine gewagte These, nicht nur heute, in Zeiten islamischer Militanz. Für gläubige Moslems, die den Koran als das einzig wahre, heilige Buch ansehen, wäre das ein Schock. »Natürlich denke ich«, so Luxenberg, »an die Millionen von Menschen, denen man beigebracht hat, dass der Koran das unveränderliche Wort Gottes beinhaltet. Das Problem wird sicherlich sein, nicht etwa den Glauben dieser Menschen zu erschüttern, sondern sie zur Einsicht zu bringen, dass es Menschen sind, die das Wort Gottes so missverstanden haben.«

In Pakistan wurde die Ausgabe der Zeitschrift Newsweek mit einem Artikel über die »syro-aramäische Lesart des Koran« verboten. Ansonsten weiß der Autor zu berichten, dass es bei Begegnungen mit Muslimen keinerlei Anfeindungen gegeben habe. »Im Gegenteil«, meint Luxenberg, »sie alle zeugten von ihrem Respekt für das Bemühen eines Nichtmoslems um das sachliche Verständnis ihrer heiligen Schrift.«

Nein, Angst habe er keine, eher sei es ein stetiges Staunen über die Unfähigkeit des Menschen, den Koran richtig zu verstehen. Eine Fatwa, wie etwa gegen Salman Rushdie, habe er als Nicht-Moslem nicht zu befürchten. Sein Pseudonym habe er sich nur auf Anraten muslimischer Freunde zugelegt, die meinten, dass aufgebrachte Fundamentalisten einer »Fatwa« nicht bedürften, um eventuell auf eigene Faust tätig zu werden. Der Akademiker wirkt gelassen und sieht alles eher positiv. »Wenn religiöse Staaten wie Saudi-Arabien oder der Iran gewillt wären, den Koran so zu verstehen, wie er objektiv verstanden sein will, würden sich für die islamischen Völker dadurch hoffnungsvolle Perspektiven eröffnen.«

Etwas sehr unrealistisch, würde Amal Saad-Ghorayeb, die Politologin, sagen. Als Hizbollah-Spezialistin und Autorin eines Buches über diese Gruppe weiß sie nur zu gut, dass es für einen Moslem nach über 1 000 Jahren Islam wohl keinen Weg gibt, den Koran, sein heiliges Buch, als christliches Werk zu erkennen. Eine Phantasiegeschichte, nicht einmal aus ferner Zukunft.