»Ich will auch Rosen«

Sexualität und Partnerschaften von Behinderten waren lange Zeit ein Tabu. Das ändert sich nur langsam. von karsten krampitz

Die Krankenschwester kümmerte sich rührend um Garp. Die Hirnschädigung war irreparabel, doch schien der Patient keine Schmerzen zu haben. Ein kleiner, reinlicher Mann, der so unschuldig war in seinen Forderungen wie ein Zweijähriger. »Garp!« rief er, wenn er Hunger hatte, und »Garp?«, wenn er sich wunderte. Eines Abends, so erzählt es John Irving in seinem Roman, machte die Frau eine denkwürdige Entdeckung: Garp hatte eine Erektion. Und einen Moment später roch es unter der Decke »wie in einem Treibhaus im Sommer«.

Auch Menschen mit geistiger Behinderung haben Lust. Nur wurde ihnen sexuelles Vergnügen lange Zeit nicht zugebilligt. Als wären sie geschlechtslose Wesen, wurden sie im Alltag zuerst als Pflegefälle wahrgenommen, reduziert auf ihre mentalen Unzulänglichkeiten. Doch zumindest im Pflegebereich hat ein Umdenken eingesetzt.

Noch in den achtziger Jahren war eine angemessene Sexualaufklärung geistig behinderter Jungendlicher eher die Ausnahme. Man wolle »keine schlafenden Hunde wecken«, hieß es. Die Jungs sollten nicht in der Öffentlichkeit onanieren, und die Mädchen durften auf keinen Fall schwanger werden. Und so wurden, so gut es ging, in den Heimen erotische Reize von ihnen ferngehalten. Aufs Fernsehprogramm wurde achtgegeben, aber auch auf die Kleidung der Betreuerinnen, die nicht zu eng am Körper sitzen sollte. Und trotzdem, ungeachtet der getrenntgeschlechtlichen Unterbringung, passierte es, dass »schlafende Hunde« erwachten. Eine Abtreibung erschien oft als einziger Ausweg.

Üblich waren auch Präventivsterilisationen bei geistig behinderten Mädchen und Jungen – ohne deren Zustimmung. Erst seit dem Betreuungsgesetz von 1992 ist hierzulande die Sterilisation Minderjähriger grundsätzlich verboten. Auch bei erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung gelten seitdem strenge Regeln. Ein Gericht muss der Operation zustimmen, und selbstverständlich auch der oder die Betreute.

»Mit dieser Zustimmung ist es aber so eine Sache«, sagt Matthias Vernaldi von der Behinderteninitiative Sexybilities. Allzu oft würden Eltern noch versuchen ihre erwachsenen Töchter und Söhne zu »überzeugen«, dem Eingriff zuzustimmen.

Sexualberatung für geistig Behinderte und deren Betreuer, Angehörige und Freunde bietet das Familienplanungszentrum »Balance« in Berlin-Lichtenberg. Leiterin Renate Pogede lehnt die Sterilisation von Schutzbefohlenen nicht nur aus ethischen Gründen ab. »Solche Eingriffe sind in jeder Hinsicht unnötig.« Sie empfiehlt ihren Klientinnen neben Kondomen, wenn es von ihnen gewünscht wird, moderne Verhütungsmittel wie Hormonspirale oder Hormonimplantat. »Etliche Paare aber, die zu uns kommen, leben asexuell. Beide sind völlig zufrieden, wenn sie miteinander Zärtlichkeiten austauschen, sich umarmen können. Ihnen reicht es, sich geborgen zu fühlen.«

Die Sozialpädagogin spricht nicht nur von Verhütung, ihr geht es um Prävention: Jede zweite Frau mit geistiger Behinderung, die die Beratungsstelle aufsucht, wurde in irgendeiner Weise Opfer sexualisierter Gewalt. Die Täter – meist kommen sie aus dem sozialen Nahbereich, sind Brüder und Väter, aber auch Zivildienstleistende und Sozialarbeiter – rechnen nicht mit strafrechtlichen Konsequenzen. Schließlich kennen die Frauen und Mädchen oft nicht einmal die Worte für ihre Körperteile, so dass sie nur schwer in der Lage sind, ihre Gewalterfahrungen und den Schmerz in Worte zu fassen. Viele der Opfer sehen ihre Erfahrungen als völlig normal an. Sie sind es gewohnt, den Forderungen anderer entsprechen zu müssen.

Bei Balance lernen Frauen und Mädchen, »nein« zu sagen. Nur sie dürfen bestimmen, wer sie wo, wann und wie berührt. »Es gibt gute und es gibt schlechte Geheimnisse«, erklärt ihnen Renate Pogede, »und bei den schlechten muss man Hilfe holen.«

Balance bietet Unterstützung in vielen Fragen. Besonders bewährt hat sich die Zusammenarbeit mit einer Gynäkologin. Frauen mit geistiger Behinderung werden in der Beratungsstelle behutsam auf ihren ersten Besuch bei einer Frauenärztin vorbereitet. »Aber niemand wird genötigt. Es gibt ja auch etliche nichtbehinderte Frauen, die dort nicht hingehen wollen.«

Im Falle einer Schwangerschaft stellt sich die Frage nach einem Abbruch heute nicht mehr zwangsläufig. So betreut die Initiative »Lebenshilfe« in Berlin seit nunmehr 13 Jahren Eltern und allein erziehende Mütter mit geistiger Behinderung. Für jede der Familien – momentan sind es 40 – wurde ein ambulantes Konzept erstellt, das ein Höchstmaß an Selbstständigkeit gewährleisten soll. Im Vordergrund stehen dabei die Bedürfnisse der Kinder, die Förderung einer altersgerechten Entwicklung. Die Betreuten empfinden diese Fürsorge jedoch manchmal als Bevormundung.

In der Geschäftsstelle der Lebenshilfe befindet sich auch die erste Berliner Partneragentur für Menschen mit geistiger Behinderung. Nach Angaben von Martina Sasse, der Mitbegründerin von »Traumpaar«, haben sich seit Februar 80 Interessierte gemeldet, ein Drittel davon Frauen.

Die Aufnahmegebühr beträgt zehn Euro und ist eher symbolischer Natur. Wert legt Sasse auf die Etikette. »Jeder Kunde wird prinzipiell gesiezt«, was hin und wieder Probleme aufwirft. »Manche Leute, die schon zu lange in Pflegeheimen leben, empfinden es als Strafe, ihren Nachnamen zu hören.« Am Telefon vereinbart sie zuerst einen Termin, bei dem auch die Eltern oder der Betreuer zugegen sein können. Bei diesem Treffen wird in Ruhe der Fragebogen ausgefüllt: Wie soll der oder die Zukünftige aussehen, welche Hobbies, Raucher oder Nichtraucher? Wie bei Nichtbehinderten auch hätten die Männer meist konkrete Vorstellungen vom Aussehen der Traumfrau. Die zukünftige Partnerin müsse mindestens so nett sein wie die Betreuerin und Beine haben wie Claudia Schiffer. »Hin und wieder sind die Vorstellungen einfach übersteigert«, so die Sexualpädagogin, »übrigens auch bei den Frauen.«

Schließlich wird mit der Digitalkamera noch ein Foto gemacht. Und dann heißt es, Geduld haben. Mit etwas Glück organisiert Martina Sasse oder ihr Kollege dann irgendwann die Verabredung. Das erste Rendezvous findet in den Räumen der Lebenshilfe statt. »Dann trinken wir gemeinsam einen Kaffee. Ich stelle die beiden einander vor. Und alles Weitere wird sich finden, oder auch nicht.«

Für viele Menschen mit geistiger Behinderung stellt sich die Frage nach einer erfüllten Partnerschaft aber gar nicht. Etwa bei Männern mit schwerer Schädel-Hirnverletzung oder bei manchen Autisten. Das heißt jedoch nicht, dass sie keine sexuellen Bedürfnisse haben. Eine nicht gelebte Sexualität ist nicht nur ein Verlust an Lebensqualität. Auch geistig Behinderte können verbittert sein, frustriert – und aggressiv gegen sich selbst und ihre Umwelt. In Einrichtungen wie der Berliner Stephanus-Stiftung ist es daher längst zur Selbstverständlichkeit geworden, Frauen wie Nina de Vries zu engagieren.

Sie selbst bezeichnet ihre Arbeit als Sexualbegleitung, worunter sie erotische Massagen und Berührungen versteht. Ihr Angebot richtet sich an Männer und Frauen, nur wird es hauptsächlich von erstgenannten in Anspruch genommen. Wenn ihre Klienten es möchten, verhilft sie ihnen mit der Hand zum Orgasmus. »Einige mit besonders schwerer geistiger Behinderung brauchen auch erst einmal eine Unterrichtung, wie man masturbiert«, sagt de Vries. Dabei weiß sie sehr wohl, dass sie sich in einer Grauzone bewegt, zwischen dem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und der Ausbeutung eines Abhängigkeitsverhältnisses. Jeder ihrer Klienten hat deutlich signalisiert, dass er ihre Assistenz wünscht. Zudem führt Nina de Vries ausführliche Vorgespräche mit den Eltern oder den Betreuern.

»Ich habe diesen Job«, sagt sie, »weil die normalste Sache der Welt – einen anderen Menschen zu berühren, ihn zu riechen, zu fühlen – zu etwas Exklusivem geworden ist.« Mittlerweile arbeitet die gebürtige Niederländerin fast nur noch mit geistig Behinderten. Deren Sexualität sei oft »wahrhaftiger und noch nicht überreizt, etwa durch die Werbung oder irgendwelche Pornofilme«.

Viele Körperbehinderte artikulieren zum Beispiel in Internetforen ihre Wünsche. Auf www.wiend.at annonciert etwa ein Ronald B. aus dem Raum Leipzig: »Bin (37/175/90) allein stehend, ehrlich, nett, behindert und nicht mehr arbeitsfähig. Welche behinderte Frau ab 18 Jahre möchte, dass ich sie besuche? Lass Dich von mir verwöhnen …« Ein Mann namens »Rollipopper« sucht Bordelle in Bayern, die rollstuhlgerecht sind, »die Damen sollten Erfahrungen beim Sex mit Behinderten haben«. In Berlin können Anfragen wie diese an Sexybilities gerichtet werden.

»Je nach Vorstellung«, sagt Matthias Vernaldi, »können wir Frauen und Männer nennen, die keine Berührungsängste haben.« Sexybilities bietet in Berlin-Kreuzberg Beratung auf so genannter Peer-Counceling-Ebene, d.h. Leute berichten von ihren eigenen Erfahrungen. Vernaldi ist selbst schwerbehindert, wegen einer Muskelschwunderkrankung ist er auf einen Rollstuhl angewiesen. Regelmäßig hält er Vorträge an Schulen und Universitäten, in denen es nicht nur um Sexualität geht. »Die Lebensverhältnisse behinderter Menschen haben sich allgemein in den letzten Jahren verschlechtert.« Die Arbeitslosigkeit ist bei dieser Bevölkerungsgruppe immer schon besonders hoch gewesen. Mittlerweile haben Empfänger von Sozialleistungen, euphemistisch als »Grundsicherung im Alter und bei Behinderung« bezeichnet, erheblich weniger Geld zur Verfügung als noch vor Jahren – eine Folge der Gesundheitsreform.

»Hinzu kommt der Umstand, dass sich die gesellschaftliche Inakzeptanz behinderter Menschen verstärkt hat.« Wie selbstverständlich werden heute Glück und Gesundheit gleichgesetzt. In Zeiten von Pränataldiagnostik gilt eine Behinderung als ein vermeidbares Risiko.

»Noch nie wurde die Identität des Menschen so sehr über seinen Körper definiert«, sagt Vernaldi. »Früher war der Mensch mehr: auch Geist und Seele. Wenn heute der Körper scheiße ist, dann ist auch der Mensch scheiße.« Unter diesem Schönheitskult würden besonders schwule Behinderte leiden. Die Missachtung ihrer Persönlichkeit erfahren sie gleich doppelt, von der bürgerlichen Gesellschaft und von der Schwulenszene selbst, die nicht auf Menschen wartet, deren Körper als eine einzige Problemzone gilt.

Jan P. ist 24 und von Geburt an gehbehindert, allerdings nicht so schwer, dass er Unterarmstützen bräuchte. »Von Kindheit an gibt man dir zu verstehen, dass du unzulänglich bist, und diese Unzulänglichkeiten bestimmen dann auch dein Denken. Nur, wenn ich mich selbst nicht annehme, wie sollen mich dann andere lieben?« Jan P. ist das, was man als integriert bezeichnet: Er studiert Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin und engagiert sich nebenbei in einem linksalternativen Jugendverband. An Gelegenheiten, Frauen kennen zu lernen, fehlt es nicht. Allerdings fühlt er sich von ihnen nie als Mann wahrgenommen. »Ich bin eher sowas wie ein Neutrum. Dauernd heißt es: ›Mit dir kann man prima quatschen!‹«

Dabei ist er nicht im eigentlichen Sinn behindert, sein Gangbild ist ein anderes, aber er kommt voran. Trotzdem hatte er bislang weder eine Beziehung noch eine Affäre. »Man muss eben warten können«, sagt er. Dass er eine Partnerin hätte, die gleichfalls behindert ist, mag er sich nicht vorstellen. »Ich kenne doch kaum andere Behinderte.«

Auch für die querschnittgelähmte Bettina S., 35, kommt eine solche »Zwangsgemeinschaft« nicht in Frage. »In wen soll ich mich denn verlieben? In einen Blinden? Einen Halbseitengelähmten?« Dann gäbe es nur noch ein Thema: die eigene Behinderung oder die des anderen. Nicht zu vergessen die quälenden Fragen: »Bin ich nicht nur Ersatz? Werde ich um meiner selbst willen geliebt?« Vor allem: »Würde der andere mich auch wollen, wenn er selbst nicht behindert wäre?«

So hat nicht ohne Grund die bundesweit einzige Partneragentur für Körperbehinderte ihren Betrieb vorläufig eingestellt. Lilian Pohl, die bei den »Rollenden Herzen« in Hamburg für die Kundenbetreuung zuständig war, beklagt den hohen Arbeitsaufwand, der oftmals ohne Ergebnis blieb. Anders als Menschen mit geistiger Behinderung würden viele Körperbehinderte ihre eigene Situation nicht akzeptieren. Auch seien ihre Erwartungen einfach zu hoch. Der Partner müsse vorzeigbar sein, charmant, fürsorglich, am besten noch ein Auto besitzen. Ideal wäre eine examinierte Krankenschwester oder ein Pfleger.

Bettina S. hat einige Beziehungen mit Nichtbehinderten hinter sich, jede davon ein Desaster. Immer war der Rollstuhl ein Problem. Spontan Freunde besuchen oder in die Kneipe gehen, war eben nicht möglich. »Einen Mann aber, der mich nicht trotz, sondern wegen meines Rollstuhls will, den will ich nicht.« Früher oder später hätten sich die Männer alle als Chauvis entpuppt. Meist schon bei der ersten Verabredung habe sie das Gefühl gehabt, man erwarte Dankbarkeit von ihr. Als ob nicht auch eine behinderte Frau umworben, hofiert werden möchte. »Ich will auch Rosen bekommen«, sagt sie, »und hören, dass ich schön bin.«

Ähnliches weiß die Spastikerin Elisabeth Löffler zu berichten. In einem Artikel für das Behindertenmagazin Wir schreibt die angehende Lebens- und Sozialberaterin: »Spätestens in der Pubertät lässt es sich nicht mehr leugnen: Unser Körper ist anders. Wir sind anders. Die Burschen wollen nur reden, die Mädchen sehen in uns keine wirkliche Gefahr im Kampf um die Gunst eines Sexualpartners, und die Erwachsenen bemühen sich, dir zu versichern, dass es auf die ›inneren Werte‹ ankommt. ›Scheiße‹, denkst du, ›ich will ficken!‹«

Rat & Service: Balance, Berlin, 030 -57 79 58 -36/-20

Traumpaar, Partnervermittlung für Menschen mit Behinderung, Berlin, 030 - 82 99 98-0

Sexybilities, 030 - 68 08 05 76, sexybilities@hotmail.com