Die Strapse der Kultur

Die US-Schriftstellerin Siri Hustvedt über Störungen, Zwänge, Rhetorik und das, was die Literatur damit zu schaffen hat.

Mit ihrem letzten Roman »Was ich liebte« (2003) hatte Siri Hustvedt großen internationalen Erfolg. Im Dezember erscheint ihre Essaysammlung »Being a Man« bei Rowohlt. Hustvedt lebt mit ihrem Mann Paul Auster, seinem Sohn aus erster Ehe und ihrer gemeinsamen Tochter in Brooklyn.

In Ihrem letzten Roman arbeiten Sie mit psychischen Störungen wie Hysterie, Anorexie und ASP (antisoziale Persönlichkeit). Wie kamen Sie dazu?

Ich denke, dass es sich um eine Entwicklung handelt, die mit der Idee einer kulturell hervorgeru­fenen Krankheit verbunden ist. Hysterie und Essprobleme sind psychische Störungen, für die es keine körperlichen Ursachen gibt. Diesen Gedanken, dass es in bestimmten Aspekten der US-Kultur – welche in entscheidender Weise die westliche Kultur insgesamt beeinflusst hat – eine Art aushöhlender Leere gibt, die Menschen, die schon unter einer grundsätzlichen Leere leiden, unmöglich hilfreich sein kann, nehme ich ernst.

Wie äußert sich diese Leere?

Zum Beispiel in der Prominentenkultur. Prominenz, die sich stark von Ruhm unterscheidet, ist ein modernes Phänomen. Prominenz bedeutet nur, dass man so oft in der Presse ist, dass man eine unvermeidbare Person ist. Es hat nichts damit zu tun, was man gemacht hat. Um auf dem Öffentlichkeitsmarkt gekauft und verkauft zu werden, müssen solche Personen in gewisser Weise leer sein oder jede Art von Gehalt vermeiden.

Ändert sich die Form, in der sich solche Störungen äußern, mit der gesellschaftlichen Umgebung?

Hysterie hatte im Fin-de-siècle epidemische Ausmaße, bekam große Aufmerksamkeit in der Presse und war Teil der Popkultur. Die Epidemie der Essstörungen geht nun schon eine Weile um. Hilde Bruch hat ein großartiges Buch über Essstörungen geschrieben. Für sie war die kooperative Tochter aus der höheren Mittelschicht der Archetyp eines magersüchtigen Mädchens. Nun geht dieses Phänomen auch auf Jungen über, was mit der zeitgenössischen Kultur zusammenhängt, die eventuell manche der Unterschiede zwischen den Geschlechtern ausblendet. Essstörungen werden plötzlich für viele Menschen zu einer Möglichkeit, ihr Gefühl einer starken Verwundbarkeit zu kontrollieren und sich in einer Kultur, in der sich viele vermutlich nicht sehr sicher fühlen, eine gewisse Autonomie zu verschaffen.

Außerdem spielen Grenzen und Suggestibilität eine wichtige Rolle. Wir sind empfänglich für umherflutende Zwänge und Ideen. Es ist Teil unserer Lebenswirklichkeit, dass wir die Kultur immer inhalieren wie eine Mode.

In »Being a Man« schreiben Sie über unterschiedlich geprägte erotische Vorstellungen.

Es gibt biologische sexuelle Bedürfnisse, wir fühlen und erfahren sie. Ratten kopulieren, Menschen kopulieren, das ist die biologische Gemeinsamkeit. Dabei sehen wir aber Menschen in einem speziellen Licht. Nehmen Sie zum Beispiel Strapse, die sind ja nicht von Natur aus sexy. Sie sind sexy, weil sie Teil des uns umgebenden kulturellen Apparates sind, sie kreieren sexuelle Gefühle. Wenn man eine Frau in Strapsen zu einem Stamm in Neu-Guinea schickte, würden die Menschen dort so etwas nicht als sexuelles Statement auffassen. Menschen akzeptieren Dinge einfach – es gibt eine Art fixierte Realität. Das ist beängstigend.

Sowohl in »Was ich liebte« als auch in »Being a Man« reflektieren Sie das Verhältnis von Sprache und Wahrheit. Was ist daran für Sie so interessant?

Es geht darum, dass Sprache ein Vertrag ist, ein Teil des sozialen Vertrags. Um einen Dialog zu führen, muss man die gleiche Sprache sprechen. Immer, wenn wir außerhalb unseres Sprachraumes reisen, fühlt man sich, als sei man jemand anderes geworden. Man kann nicht mehr sagen, was man möchte, und kommt sich vor wie ein Narr oder ein Kind. Das ist eine gute, aber auch schmerzvolle Erfahrung. Denn zum Dialog gehört ja, dass man glaubt, was die andere Person einem erzählt. Wie kann es eine Antwort ohne diesen Glauben geben?

Auch die Fiktion ist manchmal in der Lage, die Wahrheit zu erzählen. Es ist vielleicht eine nicht reale, aber eine emotionale Wahrheit.

Sie schreiben, dass Fiktion zu einem Teil der Erinnerung wird und deswegen – wie Träume – für das wirkliche Leben wichtig sei.

Ich fand es immer komisch, dass Leute diese schnellen und harten Unterscheidungen treffen, als ob für das Leben nur zählen würde, was real ist. Da Fiktion einen starken Effekt auf dich hat, wird sie Teil deiner Erfahrung. Literatur kann für Menschen eine Übersetzung emotionaler Erfahrung sein. Eine große Stärke von fiktionalen Texten ist, dass sie eher das Spezielle als die großen Allgemeinsätze behandeln.

Was genau meinen Sie damit?

Ein Beispiel: Die ständige Wiederholung bestimmter Themen durch die Regierung Bush – der »Krieg gegen den Terror«, die »Sicherheit« –, diese Art der Wiederholung kreiert eine Atmosphäre von permanentem Alarm auf niedrigem Level. Beinahe jeder hat Zugriff darauf. Eine rhetorische Atmosphäre formt also in hohem Maße, wie Kulturen sich selbst verhalten.

Als ich ein Kind war, hat die Rhetorik des Civil Rights Movement (»Hilf deinem Bruder!« und so etwas) viel dazu beigetragen, wie ich geworden bin. Ich hatte liberale Eltern, aber ich konnte auch einfach den Fernseher anschalten oder die Straße entlanglaufen und habe diese Rhetorik vernommen. Sie ist jetzt fast ganz verschwunden, das macht einen Unterschied.

Ich fand es schockierend, dass Leute nach dem Hurrikan in New Orleans plötzlich sagten: »Oh, es gibt arme Menschen in Amerika.« Ich dachte, was redet ihr, natürlich gibt es arme Menschen in Amerika.

Arbeiten Sie gerade an einem neuen Roman?

Ja. Die Hauptfigur ist ein Psychiater. Und Kunst, diesmal Fotografie, spielt auch wieder eine Rolle.

interview: eva brunner