Basis des Terrors

Nach der Machtübernahme der Hamas im Gaza-Streifen herrscht im Westen Ratlosigkeit. Als Gewinner darf sich neben der Islamistenorganisation vor allem der Iran fühlen. von andré anchuelo

Als sich Mitte vergangener Woche im Gaza-Streifen der militärische Sieg der palästinensischen Islamistengruppe Hamas gegen die Milizen der Fatah von Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas abzeichnete, begann in Washington, in den europäischen und arabischen Hauptstädten sowie auch in Israel die Diskussion über die Bedeutung der Ereignisse und den zukünftigen Umgang mit den Palästinensergebieten. Herrschten dabei zunächst noch die Warnungen vor einem palästinensischen »Bürgerkrieg« vor, wurde schnell klar, dass der Krieg bereits stattgefunden hatte. Er führte zur Entmachtung der nationalistischen Fatah-Bewegung und der Zerstörung ihrer militärischen Institutionen im Gaza-Streifen – sie wurden überrannt von den Kämpfern der Hamas.

Schnell zogen viele Beobachter eine Analogie zur Zwei-Staaten-Lösung. War damit bisher gemeint, der Konflikt solle durch die Existenz zweier Staaten, eines israelischen und eines palästinensischen, gelöst werden, so geht es jetzt um die Entscheidung des Machtkampfs zwischen der Hamas und der Fatah durch die politische Zweiteilung der Palästinensergebiete: ein »Hamastan« im Gaza-Streifen, ein »Fatahland« in der Westbank. Umso ungewisser erscheint die Zukunft der infolge des Osloer Abkommens errichteten Palästinensischen Autonomiebehörde, aus der die Institutionen eines unabhängigen Staates Palästina in beiden Gebieten entstehen sollten.

Insbesondere Israel und die USA scheinen dabei auf eine Neuauflage des Oslo-Prozesses unter veränderten Vorzeichen zu setzen. Mahmoud Abbas und die von ihm kontrollierten Institutionen der Autonomiebehörde im Westjordanland sollen demnach finanziell, ökonomisch und auch militärisch gestärkt werden, um perspektivisch eine Friedenslösung zumindest zwischen diesem Teil der Palästinensergebiete und Israel zu erreichen.

So stellte Israel bereits die baldige Überweisung von umgerechnet 600 Millionen Euro in Aussicht. Es handelt sich dabei um Zoll- und Steuereinnahmen, die Israel für die Autonomiebehörde erhebt, deren Weiterleitung aber seit dem Wahlsieg der Hamas vor anderthalb Jahren unterblieb. Auch die US-Regierung scheint die bisherige Boykottpolitik gegenüber der Autonomieregierung bald beenden zu wollen – nachdem der Grund dafür, die Regierungsbeteiligung der Hamas, in der Westbank weggefallen ist.

Unklar bleibt jedoch der künftige Umgang mit dem Gaza-Streifen. Da nach der dortigen Macht­übernahme der Hamas keinerlei Basis für Verhandlungen zwischen Israel und der Führung in Gaza besteht – schließlich strebt die Hamas weiterhin die Vernichtung des Staates Israel an –, machen die israelische und die US-Regierung in dieser Frage einen ratlosen Eindruck. Offiziell ließ die israelische Regierung verlauten, man werde sich nicht in die Auseinandersetzungen zwischen den verfeindeten palästinensischen Gruppierungen einmischen. Zu intervenieren, würde in letzter Konsequenz eine Wiederbesetzung des Gaza-Streifens erfordern – ein Schritt, den bislang nur vereinzelte israelische Stimmen fordern.

Doch die bisherigen Strategien lassen sich nicht mehr anwenden. Weder hat Israel im Gaza-Streifen einen Verhandlungspartner, mit dem es territoriale Kompromisse aushandeln könnte, noch hält es dort überhaupt noch palästinensisches Land besetzt. Die Strategie des Rückzugs ist ebenfalls gescheitert. Nach dem Abzug der israelischen Truppen vor zwei Jahren hat die Hamas dort immer weiter aufgerüstet und in den vergangenen Monaten Israel fast täglich mit Kurzstreckenraketen beschossen.

Der neue Status quo in Gaza bietet für Israel nur noch schlimmere Aussichten: ein failed state unter der Kontrolle einer offen antiisraelischen Terrororganisation, alimentiert von Iran und Syrien. »Willkommen in der Hölle«, kommentierte die israelische Zeitung Maariv die neuen Gegebenheiten.

Israels Premierminister Ehud Olmert brachte angesichts dessen die Entsendung internationaler Truppen ins Gespräch, um den Schmuggel weiterer Waffen aus dem Iran zu unterbinden. Andere kritisierten den Vorschlag. Der ehemalige israelische UN-Botschafter Dore Gold etwa verwies auf die schlechten Erfahrungen, die Israel mit den UN-Truppen im Südlibanon gemacht habe, und erinnerte daran, dass auch die bereits seit November 2005 an der Grenze zwischen Gaza und Ägypten stationierten EU-Beobachter die Aufrüstung der Hamas durch den Iran nicht verhindert hätten.

Auch die EU reagierte reserviert auf Olmerts Vorschlag. Hatte sie jahrelang auf die Autonomiebehörde als von ihr protegiertes Gegengewicht gegen das mit den USA verbündete Israel gesetzt, muss diese Strategie nach dem Wahlsieg der Hamas im Januar 2006 und dem gewaltsamen Putsch der vergangenen Woche endgültig als gescheitert betrachtet werden. Dementsprechend wenig Interesse haben die europäischen Regierungen an militärischen Abenteuern. So sagte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier als Vertreter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, die Frage nach einer internationalen Militärpräsenz stelle sich erst, wenn die Gewalt ende und keine weiteren Opfer zu befürchten seien. Auch in einem solchen Fall kämen nur Truppen aus arabischen Ländern in Frage.

In Betracht kommende Staaten wie Ägypten, Jordanien oder Saudi-Arabien winkten allerdings ebenfalls ab. Nicht nur, weil die Hamas umgehend die Stationierung »ausländischer Truppen« ablehnte. Sondern auch, weil die Regierungen in Kairo, Amman und Riad ohnehin »die Schnauze voll von den Palästinensern« haben, wie es ein israelischer Beobachter formulierte. Schließlich hat Ägypten seit Monaten über hochrangige Unterhändler versucht, eine weitere Eskalation zwischen der Hamas und der Fatah zu verhindern. Noch während der Offensive der Hamas-Milizen Mitte der vergangenen Woche befand sich eine ägyptische Delegation in Gaza, die dann unverrichteter Dinge wieder abziehen musste. Ähnlich hatte sich Saudi-Arabien ins Zeug gelegt, das noch im März die nun aufgelöste Koalitionsregierung aus Hamas und Fatah vermittelt hatte. Beide Staaten fühlen sich entsprechend düpiert. Genau wie Jordanien kann Ägypten auch aus innenpolitischen Gründen kein Interesse an der Herrschaft militanter Islamisten im Gaza-Streifen haben.

Die einzigen Profiteure des Putsches der Hamas sind deren Unterstützer Syrien und Iran. Syrien, das seit Jahren den exilierten Hamas-Anführer Khaled Meshal beherbergt, steht wegen der eigenen mutmaßlichen Drahtzieherschaft bei den Morden an antisyrischen Politikern im Libanon unter internationalem Druck. Auch bei der diskutierten Wiederaufnahme israelisch-syrischer Verhandlungen war die Position Syriens bislang eher schwach. Jetzt kann das Regime zusätzlichen Druck auf Israel über die Hamas aus­üben.

Das gleiche gilt in noch stärkerem Maße für den Iran. Bereits vor einem Jahr hat das iranische Regime der Hamas in einem Abkommen 600 Millionen Euro an jährlichen Finanzhilfen zugesagt. Waffen und militärische Ausbildungshilfe für die Hamas kommen ebenfalls hauptsächlich aus dem Iran. Nunmehr kann die schiitische Mullah-Diktatur Israel von Norden, über die Hiz­bollah, und von Süden, über die Hamas, in die Zange nehmen.