Alpha, beta, gamma

Eine Studie sagt: In der Nähe von Atomkraftwerken erkranken Kinder häufiger an Leukämie. Der Bundesumweltminister wiegelt jedoch ab. Der politische Streit um die Laufzeiten der AKW ist dennoch neu entbrannt. von jochen stay

Marie Curie erhielt 1903 den Nobelpreis für Physik für ihre Forschungen über Radioaktivität. 1934 starb sie an Leukämie. Dass radioaktive Strahlung Krebserkrankungen auslösen kann, ist also keine Neuigkeit. Nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki am Ende des Zweiten Weltkriegs und den katastrophalen Unfällen in der sowjetischen Atomwaffenfabrik von Majak 1957 und in Tschernobyl 1986 waren die Folgen in den betroffenen Regionen nicht zu übersehen.

Ob Atomkraftwerke allerdings auch im Normalbetrieb durch ihre radioaktiven Emissionen Krebs auslösen, ist eine der umstrittensten Fragen im seit Jahrzehnten verbissen geführten Streit um die Energiegewinnung durch Kernspaltung. Entsprechend intensiv ist die öffentliche Debatte um die vom Mainzer Kinderkrebsregister im Auftrag des Bundesamts für Strahlenschutz (BfS) erstellte Untersuchung über den Zusammenhang von Leukämiehäufigkeit bei Kindern unter fünf Jahren und der Nähe ihres Wohnorts zum nächsten Atomreaktor.

Das Ergebnis der Studie sieht nach Angaben von Wolfram König, des Präsidenten des BfS, so aus: »Das Risiko, an einem Tumor oder Leukämie zu erkranken, steigt statistisch signifikant mit der Nähe des Wohnortes zu einem Reaktor an.« Auf alle Krebsarten bezogen wächst die Gefahr im Um­kreis von fünf Kilometern um den Reaktor um 60 Prozent, bei Leukämie sogar um 120 Prozent. Soweit ist das auch unstrittig, denn die Methode der Untersuchung wurde gemeinsam von wissen­schaftlichen Kritikern und Befürwortern der Atom­kraft ausgearbeitet. Die Zahlen decken sich auch mit ähnlichen internationalen Untersuchungen. Amerikanische Wissenschaftler hatten im Sommer eine Zusammenfassung der Daten von 136 Atomanlagen aus neun Ländern veröffentlicht, die die höhere Leukämierate zweifelsfrei bestätig­te.

Uneinigkeit herrscht allerdings bei der Frage, was genau die Ursache der Erkrankungen ist. Denn die Mainzer Studie hat sich nur mit ihrer Häufigkeit und der Entfernung zum AKW beschäftigt, aber keine Strahlenmessdaten ausgewertet. »Man ist sich total sicher, den Täter zu kennen, was aber fehlt, ist die Tatwaffe«, kommentierte die Onlineausgabe der Zeit.

Die Regierung wiegelt ab. Die Strahlenbelastung der Bevölkerung müsste durch den Betrieb der Atomkraftwerke in Deutschland deutlich höher sein, um den beobachteten Anstieg des Krebsrisi­kos erklären zu können, sagte Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD). Im BfS heißt es, das Ergebnis könne »nicht plausibel mit den tatsächlichen Ableitungen aus den Reaktoren erklärt wer­den«. Das gilt jedoch nur, wenn man die derzeitigen Grenzwerte nicht anzweifelt. Aber genau hier sehen Kritiker und Kritikerinnen der Atomkraft den Schwachpunkt der Argumentation der Regierung.

Die Strahlenschutzgrenzwerte, auf die sich Ga­briel beruft, sind nach Auffassung der Ärzteorganisation International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW) »wissenschaftlich längst nicht mehr haltbar«. So habe ein EU-Forschungsprojekt etwa viermal höhere Strahlenschäden in der Umgebung der Atomfabrik Majak im Ural festgestellt, als nach dem Risikomodell zu erwarten wären, das der deutschen Strahlenschutzverordnung zugrunde liegt. Das bedeute, »dass die deutschen Grenzwerte offensichtlich zu hoch angesetzt sind«, so die IPPNW. Also sei es falsch, wenn der Umweltminister eben diese Grenzwerte als Grundlage nehme, »um vor laufenden Kameras zu behaupten, ein Zusammenhang zwischen den Atomkraftwerken und den Krebserkrankungen sei zweifelhaft«.

Dazu kommt nach Angaben von Henrik Paulitz, dem Atomexperten der IPPNW, dass als Ursache für Leukämie hauptsächlich Teilchen mit Alpha- und Betastrahlung aus der Abluft der Reaktoren in Frage kommen, die sich beispielsweise in der Lunge der Kinder festsetzen. Bei der üblichen Umgebungsüberwachung der AKW wird aber nur die Gammastrahlung gemessen. Über die vorhandene Dosis der eigentlichen Krebserre­ger ist also kaum etwas bekannt.

Der politische Streit um die Laufzeiten der Atom­kraftwerke ist jedenfalls neu entbrannt. Union und FDP hatten gemeinsam mit den vier großen Stromkonzernen gehofft, begleitend zur Weltklimakonferenz in Bali ihre Kampagne für Laufzeitverlängerungen für die ältesten Reaktoren wieder aufnehmen zu können, und diese als Rettung vor dem Klimakollaps zu präsentieren. Das ist nun gründlich schief gegangen. Bei der Bundestagsdebatte über die Leukämiefälle formierte sich im Parlament zumindest argumentativ eine rot-rot-grüne Koalition für den Atomausstieg, wobei es über die genauen Forderungen auch in diesem Lager deutliche Differenzen gibt.

So halten die Grünen reflexartig an dem von ihrem damaligen Umweltminister Jürgen Trittin ausgehandelten »Atomkonsens« fest, wenn die Regelungen in dieser Vereinbarung auch gewährleisten, dass wahrscheinlich in dieser Legislaturperiode wieder kein Reaktor vom Netz gehen und damit den Interessen der Atomlobby entsprochen wird. Besonders seltsam mutet die Forderung des Parteivorsitzenden Reinhard Bütikofer an, der sich dafür aussprach, ältere Reaktoren früher abzuschalten, dafür aber etwas weniger alte entsprechend länger laufen zu lassen. Doch das Alter der AKW hat der Mainzer Studie zufolge überhaupt keinen Einfluss auf die Leukämierate. Bütikofer verharrt also in der Logik des »Atomkonsenses«, der den Handel mit so genannten Reststrommengen zulässt und so den Stromkonzernen jede Möglichkeit bietet, das Abschalten einzelner Anlagen hinauszuzögern.

Deutlichere Töne sind vom Spitzenkandidaten der SPD für die niedersächsische Landtagswahl, Wolfgang Jüttner, zu hören: »Der im Jahr 2000 vereinbarte, schrittweise Ausstieg aus der Atomenergie mit langen Restlaufzeiten basierte auf der Voraussetzung, dass vom laufenden Betrieb der Atommeiler keine Gefahr ausgeht. Betrachtet man das jetzt festgestellte Krebsrisiko, war diese Grundannahme offenbar falsch.« Jüttner forderte in der Hannoverschen Allgemeinen die Aufkündigung des Konsenses: »Kommt eine Studie zu dem Ergebnis, dass Atomkraftwerke aufgrund ihrer Strahlung gesundheitsschädlich sind, müssen alle Atommeiler in Deutschland sofort abgeschaltet werden.«

Dieser Meinung schloss sich indirekt auch der CDU-Energielobbyist Laurenz Meyer an. Er kritisierte in der Fernsehsendung »Anne Will« die widersprüchlichen Ansichten von Grünen und SPD in der Atompolitik: »Entweder die Kraftwerke sind sicher, dann kann man sie auch weiter laufen lassen, oder sie sind nicht sicher, dann müssen sie sofort abgeschaltet werden und nicht erst in zehn oder 20 Jahren.«