Abdruck aus »Almatastr.«

10 Sekunden mehr und ich mach Blutbad

Stichwort Defätismus: Vom Dasein in einer insgesamt inperfekten und rundum unguten Zivilisation und von der Ideologie des reibungslosen Ablaufs

PRINCIPL I

Als Kind : ich hatte nie Zutrauen zu Zähnen. Nie versetzten Kühe und Wiesen mich in auch nur mil­de Erregung. Nie freute ich mich auf Geburts­tage. Auf niemandes. Ferien hab ich weder gebraucht, noch gemocht. Eigentlich waren sie mir ein rechter Greuel. Keinen Einwand hatte ich, vom Affen abzustammen. Auch mit Stanley Millers Versuchsanordnung war ich einverstanden, mich schreckte nicht, daß in einer Methansuppe unter Blitzgabe Aminosäuren entstehen. Nie aber konnte ich finden, daß Mona Lisa lächle. Und wenn ich schon drüber nachdenk : Tuschen war mir scheußlich von Anbeginn — marklos und voll berechtigten Kleinmuts, aber unzulässigen Vertrauens, daß Kunst werde aus der Fließ­eigenschaft eines newtonschen Fluids.
Cowboygeschichten waren mir fad, sämtlich, fachten aber mittelbar meine Flausen an : war ich lieber doch mit allem andren befaßt als mit ihnen.

Ein Fehler, die so früh abgetan zu haben ? sollte ich so früh schon so ohne Gespür gewesen sein ? Denn eigentlich doch ein wenigstens teiltreffliches Bild der Existenz : ein Maverick galoppi in Wildwest, wehrhaft in weiter Prärie unterwegs, freie Räume, denen noch niemand ansieht, ob sie noch gar kein Recht haben oder welches Gesetz denn gilt. Und was sich nicht alles gegen das edle Ich verschwört und nach küh­nen Gegenschlägen dürstet : der Sioux, die Witterung, die Klapperschlange, der Schakal, der Treibsand, ein Scarface, ein Viehbaron, die beginnende Zentralregierung, allgemeine Erinyen — si non erro, hihihi.
Bin ja doch beschlagen, huch. — Ich tat recht.

Nie brachte ich eine Waschmaschine in Gang. Nie Klappstühle in Gärten ohne wütende Tritte und daß ich mein Fleisch quetschte zum Zusammenklappen. Wäscheständer desgleichen. Neuere Milchtütenverschlüsse sind mir gleich gar nicht mehr zu öffnen. Aber ich will nicht kla­gen. Auch trinke ich keine Milch.
Ein Fortschritt sind die trotzdem nicht.
Bin sehr loyal gegenüber großen Ideen und absurden Details. Wenn ich allerdings einmal eine Ceranfläche säuberte, brachte ich es nach der Grobreinigung zwar zum Status ›schlierenfrei‹, aber nie dahin, den Kleinschmutz über die Einfassung gewischt zu bekommen — immer blieb sichtbar an den Rändern kleben, wie insgesamt inperfekt ich tätig gewesen war.

Es soll ja Menschen geben, die die Allzwecktücher und Putzlumpen, die sie säubernd mit dem Dreck verschmelzen, erfolgreich wieder blitzblank kriegen. Mir war das nie gegeben. Auch leuchtete mir gar nicht ein, den Wischlappen, der sich im unmittelbaren Fronteinsatz befand, als bloßen und regenerierbaren Transporteur von Schmutz zu betrachten : mir war er immer der, der im Dienst sich verzehrte, der, den ich be­nutzte, bis er mir eklig war und ich ihn, nunmehr ein Klump aus Glitsch und Schwarz, nicht mehr anfassen mochte.
Aber : dieselben Menschen, die in dieser Frage anders denken als ich, kaufen hemmungslos Staubsaugertüten. Da bin ich ganz anders. Eine Staubsaugertüte, wenn sie denn voll war, leerte ich stets von Hand und verwendete sie bis ultimo. Oder länger noch.

Fenster aber putzte ich nie. Eine Fensterscheibe war mir nie etwas anderes als eine einzige große unwischbare Schliere.
Wohl hab ich gute Augen : kann aber heute noch in den Sternen keine ›Sternbilder‹ erkennen. Der Nachthimmel ist mir ohne Sinn und Verstand. Vielmehr ist er ... nun, nicht häßlich, aber doch unsortiert und kunstlos und ich versteh nicht, wie der tickt, der sich aus dem Meer kaumiger Punkte unnachvollziehbare ›Bilder‹ zusammenbehauptet.
Mache mich anheischig, eine beliebige Anzahl Sterne in beliebiger Konstellation zum ›durchschnittlichen Bären‹ zu erklären. Ohne Gewähr, das die nächste Nacht identisch reproduzieren zu können.

Märchen ... ? weiß ich nicht. Bekam wohl nicht das Beste vorgesetzt. Abstoßend waren mir immer die fasrigen Federzeichnungen, bieder und lieblos, Turbane und Tiere, als hätten Adenauer und Hesse sie im gemeinsamen Rosenrausch skizziert. Tierdokumentationen im Fernsehen fand ich ätzend. Das allerdings hat sich geändert. Wie ein interessierter Ochs steh ich heu­te davor : sind nun etwa Kraken zu beneiden oder zu bedauern, daß sie ihr bißchen Leben mit Angsthaben und der Suche nach Versteck, Fressen und Fortpflanzung zubringen müssen ?
Aber Friedrich Ebert, da ist es wieder eindeutig. Der war mir schon früh ein böser, ekliger Name und ist es mir geblieben. Straßen, die nach ihm heißen, mied und meide ich unnachgiebig.
Nie war mir der 20. Juni ein erhebendes Datum gewesen. Hab ich schon als Knirps, eh ich wußte, daß es soweit mit der edlen Gesinnung der ›putschenden‹ Soldateska nicht her war, sie im Erfolgsfalle ja keinesfalls vorhatte, im Osten die Waffen zu strecken, sondern am liebsten mit den Angelsachsen erneut gegen Moskau angelaufen wär, nicht kapiert : da stehen andauernd Dutzende Waffenträger rum und ein paar von ihnen sind sogar noch viertel bei Verstand und bringens nicht zuweg, solide in den Stinkerachen zu schießen (mußte zuletzt das Hitler auch noch tun). Und diesen handwerklichen Dilettantismus soll ich feiern ?
Den 11. September aber halt ich hoch bis heute. Am 11. September 1944 betrat zum ersten Mal ein alliierter Soldat das Territorium des Deutschen Reichs.

Hitler hatte ja nicht nur unkontrolliert abgehende Winde : er stank auch enorm aus dem Maul ! Ich geh mal nicht davon aus, daß — obwohl es Stauffenbergs Versagen erklärte — Mundgeruch zu Hitlers Defensivwaffen zählte. Und doch litten den wohl nur Blondi und Fräulein Braun.
Bei Freud wars wenigstens ein Karzinom. Und Freud testete an seiner Chow-Chow Jofi nicht die Todeswirksamkeit des Morphins. Im Gegenteil : nicht, daß nachts ein Moskitonetz über sein Lager gespannt war, die Fliegen abzuhalten, son­dern daß Jofi den Geruch der Fäulnis nicht mehr ertrug, war für Freud das Zeichen zu gehen.

Die Bibel : ein Dünndruck voll beklemmender Ideen.
Von Kopf, Herz und Bauch her widert mich Abraham im Land Morijah an. So weit über die Fauna erhoben, daß er glaubte ! und sein Isaakschaf glatt geschächtet und ausgebeint hätte ! Und später dann, heißt es, hat genau der Vater, der Abraham die widersprüchlichen Weisungen gab, den eigenen Sohn wirklich geopfert — und zwar, daß ich verbotenen Spaß haben kann und nach Abbitte doch das ewige Leben. Na !
Bescheuerter Plan. Und völlig nutzlos.
Denn ich, für den’s geschah, bin nicht gefragt worden. Gutmütig nehm ich mal an : dem Allwissenden muß damals schon bekannt gewesen sein, daß ich ›laß bloß stecken‹ dazu gesagt hätte — und er wollte mich nicht beleidigen. Was er ja unfehlbar getan hätte, wenn er mich erst fragt und dann auf meine Empfehlung scheißt.
Christus müdete mich stets maßlos. Maßlos ! Immer ließ mich das Christentum gähnen und hielt ichs für von Grund auf unschlüssig. Und ästhetisch belanglos. Wie Kuh auf Wiese. Wie Kartoffel auf Teller. Der Pilz ›Langeweile‹ war da aus der Peripherie des Imperiums gewuchert gekommen und fruchtfliegengleich hatten geifernde Missionare die Welt mit Sporen belästigt und überall keimte rechte und unrechte Lehre und todbringender Pöbel, und dann auch ein gru­seliger Papst und mit dem — sehr praktisch — gabs dann nur noch rechte Lehre. Drohen, Segnen, Befehlen — wie uncharmant und lächerlich.
Ich bin begrenzt genug. Ich habe für weitere Grenzen keinen Bedarf. Und wer sie mir einziehen will, sollte besser greifbarer sein als ein Sternbild. Zwar bin ich einer Idee von Ewigkeit zugetan, aber wär sie nichts als eine sentimentale Schalheit : ich nähm Abstand. Wenn in syrischer Wüste ein Mosaik ›Jünger Thomas mit Engel‹ ausgegraben wird und das kunsthistorisch ein Ereignis ist, weil der Sand jener Gegend noch nie einen Thomas mit Engel freigegeben hat, wende ich mich seufzend ab. Über die hinfälligste fibula in Dalmatien freu ich mich mehr.
Im Kern komisch, brutal und monoton. Dieses drei. Das Monotone aber ist das größte unter ihnen. So ist mir das Christentum erträglich nur, wo es übers Maß komisch ist oder brutal.
Die christliche Seelendemokratie ist ja dadurch schon erledigt, daß jeder selbstlose Fanatiker ein Thomas werden kann — und eben aber Selbstlose gar nichts zu sagen haben. Entsprechend dumm auch Thomas. Legendär beim letzten Abend­mahl : Uähh, Jesus, wir wissen nicht, wohin du gehst, wie sollen wir dann den Weg kennen ? — Aber aber meine Herren, wer wird denn traurig sein, ich komm doch bald wieder. Es hat mir sehr gut gefallen bei Ihnen auf der Erde. Ich freue mich schon auf ein Wiedersehen, ich freue mich, ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben — einen Gruß an Herrn Dorau.
Guareschis Don Camillo lasse ich vielleicht gel­ten. Schon Pater Brown selbstverständlich nicht mehr. Tja Chesterton, da können dich noch so viele für toll halten ! du bist und bleibst ein katholischer Spinner. Nein, hab gar keine Lust, gerecht und differenziert zu sein vor so einem Konzept, so mißraten, so öd.
Ödem

Tibet und die baltischen Republiken find ich erbärmlich, Tibet aber erbärmlicher als die baltischen Republiken.
... ach ... Neubewertung : eigentlich gefallen mir die baltischen Republiken sogar, wenn sie nur etwas weniger unbedingt sein wollen würden. Balten gefallen mir auf jeden Fall. Tibeter aber nicht, und besonders der Lama. Tibet selbst aber ist mir so egal wie Nepal oder Bhutan.
Nie habe ich geglaubt, daß es den Kräften des Fortschritts gelungen sein sollte, die Amerikaner gezwungen zu haben, Deng Xiaoping nach Texas einzuladen.
Versicherungen ? Nein. Nie. Keine. Nicht mal gegen Hagel, Gesundheit oder Reisegepäck.
Durchgehend und unglücklich ist meine Leidenschaft und Unbegabung für Kernphysik, Klavier und Mathematik.
Nie verstand ich, daß es Dirigenten geben müs­se. Meine Meinung : in der Partitur steht, wie’s klingen soll, und die Musiker können es spielen oder nicht. Stets aber flößten mir die Respekt ein, denen ein Akkord vor die Füße geworfen wird und die dem sagen : ›Du bist cis-moll‹ — wenns cis-moll ist.
Auch die Vielfalt staatlicher Abgaben und all die packenden Geschichten um brutto und netto verstand ich schon als Kind nicht. Und auch das ist so geblieben. Ich glaube, sich in den Steu­erspielarten zurechtzufinden, überhaupt zurechtfinden zu wollen, muß man so gestrickt sein wie die, die Sternbilder erkennen. Aber schon eines von beiden sich auszudenken, scheint mir kriminell. Zwar las ich von jeher viel, aber Weinkarten, die nicht. Die versteh ich so wenig wie Steuern.
Zinsrechnung konnte ich. Zinsen nicht. Genau wie das Lottospiel : da verstand ich das Prinzip. Dann aber kam die Superzahl.
Man möge mir nachrufen : Kassationsgerichte konnten ihm nichts anhaben, er schrieb den preisgekrönten Aufsatz ›Apparatemedizin ist bes­ser als ihr Ruf‹, ›sta viator‹ verlangten von ihm die gebildeten Zeitgenossen, denn er war beliebt, er mochte Leber und Vanille, sowohl riechen als auch essen, er pflegte seine Engstirnigkeit, hatte keine Fragen, nicht mal auf Fragen, und seine ge­wagteste Absicht war, schlank ins Grab zu sinken.

Das mit den Zähnen, das hat nicht nur mit Kirsch­kuchen, in dem unter vielen entkernten Kirschen tumb auch die eine unentkernte verborgen ist, zu tun. Das auch. Das sogar sehr. Hat es mir doch auf ewig verdorben, herzhaft in Kirschkuchen beißen zu können. Mir ist aber auch, bei allem Verständnis für die Evolution, der Gedanke suspekt, auf wenigen Kubikzentimetern Kopf das Denken und Schlingen nebeneinander versammelt zu sehen, das Malmen der Molaren einen Finger nur fern vom leiszwit­schern­den Bewußtsein.
Und Zähne sind die Front, an der alles, was ge­gen friedfertiges Sein sich zusammenrottet, völlig zurecht überraschend und kräftig wie sonst nirgendwo zuschlägt. Zahnschmerz ist der zen­trale Einwand gegen die Annahme, daß ein gutartiger Gott sei. Dreiviertel der Pharaonen sind an kariösen Zähnen zugrunde gegangen. Das wär auch noch mal zu gucken, wie Reiche sich dehnten und zerfielen nach Maßgabe notorischen Zahnschmerzes. — Hitler zum Beispiel : hatte Zahnschmerzen am Morgen des 8. November 1923.
Halt ! einmal, nach irrem Geraste am Regelwerk und aberwitzigen Tastenkombinationen, lief eine Waschmaschine unter meiner Ägide doch. Und hörte in versprochener Frist sogar auf, das zu tun. Aber das Bullauge dann ließ sich von mir nicht öffnen.
Vor kurzem erst entdeckte ich — es hatte was mit den guten Büchern Ror Wolfs zu tun — wie ich mir Märchen illustriert gewünscht hätte : gebt den Kindern Collagen, ziselierten Kupferstichrealismus englischer Gentleman-Magazine um 1890, versetzt mit ein bißchen Max Ernst ! es sind doch wohl Leute, die das können ! ... — einen Moment vergessen, daß daran ja die Jahrhunderte kranken : die rechten Leute, die es gibt, sitzen weder an den rechten Orten, noch gelangen sie je dorthin.

LEGUMINOSE XVIII

Nivôse, Pierre à chaux. Der Vize der F.D.P. Bremerhaven wird gehenkt. Marktplatz, großes Gejohle und viel Andrang. Bestach einen Schaffner, beobachtete um einen Heiermann das bunte Treiben vom Dach einer Straßenbahn aus. Leider dort nicht der einzige. Trotzdem gute Sicht. Ohne Würde, der Mann in Gelb-Blau. Hat er einen Fehler gemacht, muß er auch dazu hängen. Zog sich ewig, über eine Stunde, weil der Stadt­verord­nete ein Ge­bet nach dem anderen sprach, in der Hoffnung auf Gnade. Alles schämte sich für ihn. Auch gestern, als das Gericht dem Delinquenten die zwei Schwurfinger abschlug, soll er gejammert haben. Aber da war ich ja nicht dabei, da konnt ich ja nicht. Das kann ich also nicht mit letzter Bestimmtheit sagen.
Ab und zu sah man hinter den Butzenfenstern im Rathaus schicklich eine Silhouette im Pfeifenqualm. Sicher der Regierende. So eine schöne Pfeife, wie er sie hat, will ich auch. Der ging jetzt sicher fein in seiner Amtsstube auf und ab und rauchte die und diktierte Edikte und dachte gar nicht daran, ir­gendwen zu begnadigen, schon gar niemanden mit dem Partei­buch des Koaliti­ons­partners.
Nichts geschah, und schließlich wurde das MdB von der Leiter gesto­ßen.
Schicksal all derer, die falsch frankieren.
Mein Nebenmann, ein Gleisarbeiter, der ab­kom­mandiert gewesen war, den Galgen sturmfest zu nieten, schmähte während des endlosen Rumgebetes das militärische Verdienst Rolands. Er bezog sich aufs gänzliche strategische Versagen unsres Paladins, der 778 auf der Paßhöhe bei Roncesvalles die fränki­sche Nach­hut, die er befehligte, von baskischen Marodeuren erschla­gen ließ. Mit solcher Ge­neralität muß natürlich selbst ein Karl ein Gro­ßer Kriege verlie­ren. Ich zuckte die Achseln. Das ist viele Jahrhunderte her und ich war nicht da­beigewesen. Aber ich überle­ge noch jetzt eine Anzeige. Stichwort Defätis­mus. Einen Versuch wärs wert.
Und die F.D.P. muß sich bis zur nächsten Wahl auch was überle­gen. Vielleicht mal die drei Punkte wegmachen ? Das wär Politik fürs Volk !

Darf man sich das im Ernst vergegenwärtigen ? wie eine Partei in ihrer Satzung verankert, daß ihr Kürzel durch ›werbliche Stopper‹ bereichert werde ?

LEGUMINOSE XXXII

Nicht angenehm, ich zu sein. Also ich würds nicht wollen.

Überseemuseum. Der dicke Winterregen hinter der Drehtür entschließt sich nicht, Schnee zu werden. Auch aber nicht, dein Gesicht hereinzuprasseln. Kann sein, mein ganzes Leben hab ich verwartet. Da wär dann die halbe Stunde, die du nun zu spät bist, nicht weiter aufregend. War sie auch nicht. Zumindest nicht aufregender als die kleingedruckten Danksagungen an Liebhaber und Leihgeber, die im Foyer unter folklorbunten Graphiken notiert sind. ›Ausstellung afrikanische bildende Kunst‹. Was gehts mich an.
Graue Taubenscheiße hockt wie Steinkrätze stimmungsvoll auf Ziegeln und vor Wurstbuden. Ich wär, glaub ich, sehr zufrieden, so als Bahnhofsvorplatz, ertrüg ich nur irgendwie diese Leute, unter denen ein Albino bunt wäre, und brächt ich nur den Gleichmut auf, mich an deren ausdauernd gleich gedachten Gedanken zu delektieren. Und fänd einen Weg, mit den Pisslachen routinierter Trinker in meinen öffentlichsten Winkeln fertigzuwerden. Wie Haare die Beine, die in Bäuche sich stünden. Neofrivole Spielerei.
Berufstätige scherzen miteinander und sprechen klug. Was scherzen die und sprechen klug ? Ich kann das nicht leiden. Ich mag sie nicht : schmächtige, hutbartgetrenchte Männlein, dreitageschlapp, leger fallen denen die Hemden und im Ganzen kleidet sich in ihnen das Primat des Geistes in ein Filmzitat und siegt klar nach Punkten über das Tuch als Fell, die beiläufigste ihrer Gesten läßt den erfolgreichen Besuch einer Akademie erahnen, o, sie wollen ausdrücken ›Männer mit schwellenden Hirnen haben gelegentlich Zeit für ein überlegenes Lächeln‹ — Figuren ohne chronische Bronchitis, Figuren, die nur auf der Welt sind, daß ich Fetzen ihres Gefasels aufschnappe. Und selbst dies mi­ni­mal­ed­le Ziel verfehlen sie flüsternd. Hingegen :
die Lungerfrauen stehen zum Rouge, das ihnen die gekippte Erdachse auf die Backen geweht hat. Vorgeblich neugierig sind sie und von geputzter Kimme in täglich wechselndem Slip — sehr in Opposition zu den Postern, die ein Kurator quälende Monate nach Ende einer Sonderschau noch hängen läßt.
Ich bin um nichts besser. Dennoch interessiert mich keiner dieser Komparsen in Kaninchen oder Trenchcoat, und nicht die Bohne, was kolonialisierte Völker auf cabraltem Kontinent an Liedgut und Schnitzwerk im Befreiungskampf schufen — ich will das nicht. Daß ich aber würde warten wollen, wär nun auch übertrieben.
Sollt ich dich strafen ? Immerhin kommst du aus einer anderen Stadt. Kein Grund sich zu verspäten. Ärgerlich für dich, kämst du noch und ich wär weg. Müßt ich allerdings im Regen gucken, ob du noch eintriffst und dich tatsächlich fleißig ärgerst. Auch ungut. Straf ich dich eben nicht.
Stieß dir was zu ? Migräne ? krank  ... — ich weiß, ich weiß : Migräne ist eine Krankheit und du bist genervt, wenn sie mir nicht deine echte Beschwernis bedeutet, sondern nur, daß du mich mangelhaft unterhältst ... aber das ist doch nur, weil mans nicht sehen kann, und weil ichs selbst nicht hab, und ich mein’s doch auch nicht so —, oder wurdest du plötzlich von jemandem dringend gebraucht ? Vielleicht auch nur das Wet­ter. Vielleicht wußtest du nicht, daß der Kreisverkehr Am Stern gesperrt ist.
Es ist lang noch nicht Ladenschluß und doch schon dunkel. Der Himmel kriegt die Windeln nicht gewechselt — das ist das ganze gottlose Geheimnis, die froschhafte Imponderabilie : das Wetter, die Laune Gottes, ist ein ausgesetztes Wickelkind.
Wird ein schlechter Tag für die Schausteller der Weihnachtskirmes. Albern stehlen sich Zwei­beiner unter den Ekphoren der Bahnhofsfassade entlang, die Kragen hochgeschlagen, Aktentaschen kopfüber trippelnde Schritte, hilft nichts, hilft alles nichts. Genauso hysterisch die, die drauflos rennen in den harschen Wind.
Nun fegen doch ein paar Eisspäne auf kalten Flügeln über den ZOB-Platz. Vorm Taxistand am Lloydtunnel walzt ein pseudobarocker Orgel­automat aus pausbäckigen Putten schwermütig Weisen in ein Bild aus Trüb und allen Schatten Grau ... Wasser rollt haarsträhnenlang auf meine Nase, die juckt, ich werde ärgerlich, rauche und studiere, obzwar nicht schön, alternde Plakate.
Klar kommst du. Unsere Liebe wird sein, daß wir wie alle sind, ich da bin und du kommen wirst. Du wirst nicht von dir reden, wir werden uns nicht umarmen, nicht küssen, nicht die Hand geben. Du wirst kommen und wir werden einander gegenüber stehen und du wirst fragen ›Wohin gehen wir nun ?‹.
Irgendwann hatte es ein Mißverständnis gegeben. Das war dann geblieben.
Und dann schnellt dein goldener Käfer aus einer Kurve und parkt ein vor der Hypobank. Ich üb noch schnell eine gelangweilte Miene, aber du bist schneller. Wie ruhig du gehst, du die Trep­pe zwischen den steinernen Sphingen nimmst. Da stehst du. Die Tür dreht noch, dein Parka ist fleckengelöchert ! — aber das waren nur Eiskristalle, die nicht mehr sind. Du schüttelst dein Haar und streichst im Nacken die schwarze Lederjacke zurecht. Bestimmt lächle ich, ich Stümper, ich will nicht lächeln, wenigstens, daß ich unbewegt bleibe. ›Na du, wohin gehen wir nun ?‹.
— Auch danach kommt noch eine Nacht, in der es mir zunächst gelingt, einzuschlafen. Dann, alptraumgebadet aufgewacht, auf eine Uhr mit fremden Ziffern gestarrt. Einmal mehr scheint mir das Leben eine einzige Warntafel in huzvareschischer Schrift.
Zudem ist es bitterkalt. Da fand ich ja Ceau­ses­cu gut. Ceausescu hatte der ›Agerpres‹, seiner eigenen und Lieblingsnachrichtenagentur, schlicht­weg verboten, daß sie Temperaturmeldungen von unter 15 Minusgraden verbreitet. Wenn sie rumänische Luft betrafen natürlich nur. Woanders die Luft konnte so kalt sein, wie sie wollte. Man muß die Dinge nur energisch angehen. Es genügen ja auch zwei zu allem entschlossene Männer, einen Linienbus zu kapern.

mat bao III

Du, Komma, neulich, Du eine Sylphide in Gestalt eines Salamanderweibchens im Großen Aldi Utbremen, Heinrich-Köselitz-Straße, wo’s noch den klasse Camembert aus wärmebehandelter H-Milch gibt, der wie gezuckerter Samenerguß schmeckt, gemolken aus süßmodriger Leiche. Du eine aberrante Wirbellose im Discounter. Viele Segmente ringelten vor Kassen kurz nach Sechs und vier dickbäuchige Flaschen Mineralwasser eines Vogesenquells rollten in einem flachen Karton, auf den aber Hollands Tomaten gemalt waren. Du trugst diesen Karton. Dein Haar war gezündelt im Burgunderrot der Fieber­räusche Rimbauds. Wir haben uns exakt nicht angelächelt.
Drei Kassen, drei Wurmfortsätze.
Im ersten hielt sich wacklig zwischen Süßwaren, Tabakgittern und Laufband eine Sklerose in den besten Jahren. Der sprang ein Glas rubinroter Schattenmorellen vom Band und sie fragte um Verzeihen alle, die’s betraf, und tat Bulletins aus der Welt ihrer Krankheit noch dazu. Weil sie aber nicht ausdrücklich die Ideologie des rei­bungs­losen Ablaufs verachtete, geschah ihr, wie sie wollte — erinnerst Du Dich ? — : alles war nachsichtig mit ihr, trotz daß Scherben und kan­dierter Betaninsaft die Abfertigung verschleppten. Frau Döhnken, kommsdu ma ? Un bring Feudel mid Schibbe mid, nä !
Obs damit zu tun hatte, daß mich die mittlere Kasse strikte abwies ? Hier nich mer, Sie da im Gelbn, hier nich mer, geen Sie bidde eins weider.
Du kennst mich noch nicht so gut, aber : der im ›Gelbn‹ war ich, und ich tat so, als hörte ich nicht, denn wenn ich auch neulich gelb trug, bin ich darum schon der, der einsieht, daß die Zäsur wieder mal mit ihm gesetzt wird ? der, dessen Leben ist, stets als der Eine Erste im Strom der Menschkörperchen von einer errötenden Fußgängerampel gestoppt zu werden ? der auf den Bänken der Seminare umrauscht wird von durchgereichten Protokollen und nie eines erhascht ? Selbst wenn ichs wär : ich begehrte auf !
Im Aldi aber flüchtete ich erst noch in eine List : ich pflückte aus meiner Brusttasche eine kataklyme Studie über die Ingeborg-Bachmann-Festspiele und tat, als versänk ich in der, beäugte aber insgeheim und scharf die drei, die noch vor mir waren : ein Brandfleck in Blaumann, der roh mit einer Tätowierung auf Unterarm flachste, und ein Katzengoldträger. Bis zuletzt gab ich vor, zu konzentriert zu lesen, als daß ich die wiederholt gelangweilt ausgepuffte Aufforderung, doch anderswo um Bezahlendürfen anzustehn, wahrnähme. Gut, Du magst das ›um Mitleid betteln‹ nennen — mich aber wollte man, als mein Pud Nudeln kassiert zu werden bat, zwingen zuzugeben, daß das Band nicht mehr lief ! Ich beobachtete weiter dagegen an, der Katzengoldkerl, sicher ein honoriger Mann, grabbelte am Ausgang nach Kartons, hielt Wermutsurrogate zwischen die Oberschenkel gepreßt, aus seiner schlapp unterm Bauch ge­schnür­ten Jogginghose drohten Schachteln ›Lord Extra‹ zu stürzen, ein kitzlig Spiel — von dem mich abzulenken erst der Kassiererin gelang, die den Kassenschlüssel drehte und aufstand. Ich schaute mich um : hinter mir war schon gar kei­ner. Politische Macht kommt aus den Gewehrläufen, hattest Du’s auch mal gelernt ? Ich aber schwankte, wie ich mich wohlgeraten empören sollte, ein verhaltenes ›Das ist doch nicht Ihr Ernst‹ oder ein —
— just da ... starrte ich viel lieber auf Dich als Letzte in der Schlange rechts, wechselte flugs in Dein gefärbtes Haar, Dir in Deinen freizügigen Nacken und zählte auf dem die handvoll Hitzepickelchen. Du stecktest in einem ärmellosen schwarzen Shirt. Deine Achselhaare glänzten schwitzig, fascesweise lugten sie hervor, kleine saftige Ruten aus Speckfältchen. Riechen, das tu ich gern. Das ist älter als Hören und Sehen und daß der Mensch was zum Nachdenken hat. Berge riechen nach nichts, die See aber schon (wenn auch nach mikrobiotischer Fäulnis) : das ist der Vorteil der See. Und darum sollst Du auch nie in Bayern wohnen. Ich schnupperte also nach Dir. Für einen Moment, als durch Tür und Drehkreuz eine Kolonne Handwerker flirtete und ein Stoß Wind war, gelangs. Und es war nicht überwältigend — so bitteschön hat die Frau meiner Träume nicht zu duften. Aber Dich mochte ich darum nur noch mehr. Selbst das Schildchen schwärmte von Dir. Welches Schildchen ? na das, das rückwärtig aus Deinem Shirt stach, da, wo der Hals rausguckt, der Rand von diesem Loch da ... Du weißt, das Schildchen, auf dem steht, aus was das alles ist, an dem es hängt, und wie heiß es gewaschen werden will und gebügelt — das Schildchen, an das ich nie denk, und wenn doch, nicht weiß, ob es einen eigenen Namen hat, geschweige, wie der wär. Egal. Irgend­was mit ›fairtrade‹ las ich — egal auch das : da hattest Du bestimmt nicht hingeguckt, oder das Hemd wurde Dir geschenkt und Du trugst es aus blanker Not.
Auf Deine Stimme war ich sehr gespannt. Ich dachte, ich dürfte sie hören, als es für Dich ans Zahlen ging. Und hatte Dich noch unterschätzt : Du bliebst stumm. Bravo. Du wirst auch stumm und klaglos sterben. Du Schöne !
Wie die elende Trine, die es gewagt hatte, Dir Geld abzuknöpfen, mir dann betulich die Pfennigbeträge, die Aldi mir schuldig war, vorrechne­te, schrie ich in Satansungeduld Für Ihre Kaffeekasse, aber : Das dürfn wir nich. Und so warst Du längst draußen, daheim, Sylphide, als ich ... — entschuldige ... ich hatte angenommen, es würde ... vielleicht noch reichen. Ich war Dir nicht sofort nachgerannt. Abbitte auch bei all unsren ungezeugten Kindern. Meinst Du, ich darf, da ich so versagt habe, Dich wiedersehen wollen ? Ich weiß nicht, ob ich das darf. Was ich weiß, ist, daß ich die Kassenmatrone wiedersehen werde.
Ich bin sehr traurig.

BRISE VII

Beim Einkauf : geklemmt in eine Zwingschraube aus Menschenfleisch und Einkaufswagen, kein Vor, kein Zurück, aus Nebengängen quillt Gewürz und Olla podrida, noch mehr Menschen auch, Schlangensprenger, anstehunfreudiges Chaos in Short und Gel. Tüten Erdnußflips sind zum Sturz gebracht und geplatzt, Buggyräder fahren Schneisen durch die Würmer, das für meine Abfertigung zuständige Laufband bockt, überehrgeizige Greise bocken und versuchen freihändig 79 Pfennige aus einer Börse zu zählen, die nicht mal Telephonkarte oder Seniorenticket enthält, denn — dem größten Kaufamateur unmittelbar einsichtig — : es ist die falsche Börse, der falsche Ort auch und nicht die Post. Alles bockt. Wie mag eine Überweisung nach Venezuela funktionieren ? Wer darf zu welchen Konditionen das Geld dort abheben ? Ist doch Ausland, ganz weit weg, weiß man ja, wie das da ist, weiß ja niemand. Wie, das weiß niemand, wie das geht ? Die Empörung ist echt : Sie haben doch einen Kittel an ! Très bien. Aber die Kassiererin versteht den Anwurf des Greises nicht.
Durch den Trubel, an der endlosen Folge Kunden vorbei schiebt ruhselbst eine fette Angestellte, unterbricht die traditionelle Abfertigung und läßt sich von ihrer Kollegin Katzenfutter mit Mi­rabellengeschmack und Sahnejoghurt/Huhn abziehen. Das darf doch nich wahr sein — ein von ihr Verdrängter junger Schnauzer. Och, das is schon wahr. De nouveau : très bien. Kurt kümmerts nicht. Kurts Montur spannt über den hemdlosen Oberkörper, neben der linken Brustwarze prangt daumengroß ein Muttermal, darunter gebrandet Kurt. Dann knufft Kurts Handwerkfaust hinterrücks den haarlos kleinen Herrn Herbert, der vor Kurt steht. Kurt und Herbert tauschen Begrüßung und entfachen zusätzlich sokratisches Feuer.
Mänsch, Kurt !
Jå, Mänsch. Häbärt !
Wie geht dir das ?
Jåå. Jå jå
Renåde sieht auch nich so gut aus, die mit ihrm Bein. Das zieht sich
Jåå. Jå jå
Ne, sachte auch Liese. Die hat die gesehn. Gut sieht das nich aus
Nee. Nee nee
Es jault auf am Band neben mir — eine Kas­sen­mätresse schleppt sich einen Schritt weit an den Produkthaufen, den sie glücklich grad abgefertigt hatte und rechnet nach mit Kopf und Stift. Soweit ich begreife, ist Streit um drei Groschen. Schtorno ! ruft der Haufenmacher nach einem Hinten — eigentlich war dieser Mann angetreten, sich einen durch den Werbeschrei ›Angebot !‹ zugesagten Vorteil zu sichern. Nun muß er ums nackte Recht und Überleben kämpfen.
Auch in andren Leuten schäumt Ungeduld an und kocht hoch zu kaumverhohlner Wut.
Dann aber — und warum auch nicht — wird das Schlimmste wirklich : jemand hinter mir fängt an zu pfeifen. Dreh ich mich um ? ich dreh mich nicht um, ich weiß ohnedies : ein feiges Sportmannhirn ist es, das die Töne lutscht und ausspuckt, ein Kaummensch, der die Gülle selbst­gestrickter fröhlicher Melodei über mich sprüht : immun gegen meine iettatura, zu eitel, einen Gassenhauer zu bemühen, und schwachköpfig genug, nicht zu erwägen (oder aggressiv genug, das sehr wohl zu tun), daß ich seinen muntren Dünnpfiff vielleicht nicht hören mag. Daß er nerven könnte. Nicht nur könnte, sondern nervt. Unendlich nervt. Daß er Ohrschellen anlegt, gegen die kein Anrasseln ist, daß vor seiner strö­men­den Befindlichkeit das Kassenrattern höchs­tes Humanum wird ... — Ich bau mir im Kopf ein Kloster und bete ... hilft nicht, ich Aushilfsmönch will Angriffsmönch werden ... ich wiederflehe das Flehn, das einst, als ich Montparnasse am Grab Baudelaires stand, neben mir ein gertenschlanker, schwarzkraushaariger Existentialist stöhnte, Baudelaire, donnez-moi la force pour mon projet ... ›Quelle projet ?‹, Dummkopf ! : ›Ja‹ zu sagen dazu, daß ich feststeck, ausgesetzt dem Kretingeflöt, zersogen von allem, was unheilig ist ... nein, dafür gibts keine Kraft, dafür nicht ... also bejah ich nichts, aber halt es aus ... zehn Sekunden ... zehn mehr und ich mach Blutbad ... jetzt ... — bevor ichs aber tu, schrei ich O nein !, laß alles stehn und liegen und wetze ohne links und rechts zu kennen oder Freund oder Feind dem Ausgang zu, wenns nur vorbei ist, wenns nur aus ist, annullieren, annihilieren, füsilieren, bloß weg, weg ...

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Germar Grimsen: Almatastr. Verbrecher-Verlag, Berlin 2009. 304 Seiten, 24 Euro. Das Buch ist soeben erschienen.