Auszüge aus den »Aufzeichnungen eines Ausgewanderten«

Tschüß, Deutschland!

Tagebuch einer Auswanderung.

Bitte: Wie heißt das Land, in dem ich jetzt lebe? Gebildete Europäer scheuen sich oft, einfach »Amerika« zu sagen. Schließlich sei nicht der gesamte amerikanische Kontinent gemeint, sagen sie, sondern nur ein paar Vereinigte Staaten, die sich auf ihm befinden. Jene von intellektuellen Skrupeln geplagten Europäer wissen wohl nicht, welchen Namen die Republik Mexiko offiziell vor sich herträgt: »Estados Unidos Mexicanos« – zu Deutsch also »Vereinigte mexikanische Staaten«.
Die meisten Amerikaner weichen dem Problem der Namensgebung aus, indem sie auf eine Abkürzung zurückgreifen: Ju-Äss. »US declares war on Canada«, könnte etwa eine gewagte Schlagzeile in einer Tageszeitung heißen: USA erklären Kanada den Krieg. (Die Meldung danach wäre wahrscheinlich: »US President Fires SecDef«, amerikanischer Präsident entlässt Verteidigungsminister.) Ich aber finde Abkürzungen grundsätzlich unschön. Ich will nicht in den »US« wohnen, auch nicht in den »USA«, so wie ich früher nicht in der »BRD« zu Hause war, sondern in Deutschland.
Die zur Hälfte drollige und im Ganzen herabsetzende Bezeichnung »Ami-Land« verbietet sich von selbst. Also bleibe ich in diesem Buch durchgehend bei einer altmodischen Bezeichnung für dieses altmodische Land – ich sage Amerika. Nebenbei: Die Sprache, die hier gesprochen wird, heißt Englisch. Das »Amerikanische« ist außerhalb der deutschen Landesgrenzen völlig unbekannt.

Den Seinen gibt’s der Herr im Schlafe

Eine Reise von hundert Metern, so behauptet eine alte chinesische Weisheit, beginnt mit einem Schritt. Meine Reise begann mit einem Mittagsschlaf. Es war der 1. Mai 2006 (internationaler Mampf- und Kampftag der Arbeiterklasse). Ich lag auf meinem Sofa in Berlin-Prenzlauer Berg, döste vor mich hin und dachte über das Leben an und für sich sowie die philosophische Frage nach, ob ich jetzt aufstehen und ein Stück Pflaumenkuchen naschen sollte, als plötzlich das Telefon klingelte.
»Is this Mr. Stein?«
»I think so.«
»Mr. Hans Stein?« Die Stimme am anderen Ende klang dünn, und fern. Ihr Englisch hatte einen leichten, aber doch unverkennbaren hispanischen Einschlag.
»Yes«, sagte ich.
»Mr. Hans Stein, this is US Customs.« Der Zoll? Der amerikanische Zoll? Was will der denn von mir? Habe ich etwa, als ich das letzte Mal in New York war, zu viele Kilo Bücher bei »Barnes & Noble« käuflich erworben und muss jetzt irgendetwas nachzahlen? Ich will sofort meinen Anwalt sprechen.
»Mr. Stein, you have won a green card.«
Eine Greencard? In meinem schlaftrunkenen Hirn dämmerte eine vage Erinnerung: Hatte ich nicht vor ein paar Jahren im Internet die Greencard-Lotterie gegoogelt und mich frech dort eingetragen? Und hatte ich nicht irgendwann, als eine Mail ankam, ob ich das Lotteriespiel fortführen wolle, aus Jux und Dollerei auf »weitermachen« geklickt? Na schön. Jetzt hatte ich offenbar die Bescherung.
»Mr. Stein? Are you still here? This is US Customs.«
Ja, ich bin noch da. Nein, ich bin ganz weg.
»Congratulations, Mr. Stein.«
»Thank you«, murmelte ich. »This is really nice.« Nice, nett, ist womöglich nicht das mot juste, das die Lage in ihrer ganzen Tragweite umfasst und erschließt. Das schoss mir schon durch den Kopf, während ich das große Wort gelassen aussprach. Wo sie die Papiere hinschicken soll, wollte die Stimme von US Customs wissen. Ob diese Adresse da, Ebers … , Eberschwa … , EberschwaSchtrasche … , also, ob die richtig sei. Ja, die Adresse stimmt, aber was für Papiere denn? Es gebe da noch ein paar Formalitäten zu erledigen, meinte der Mann vom amerikanischen Zoll mit dem leichten hispanischen Akzent. Er beglückwünsche mich im Übrigen ausdrücklich noch einmal. »Thank you, Sir«, sagte ich.
Aufgelegt.

Begegnung mit der Menschheit

Ich war erst nach dem 11. September 2001, nach dem Massaker von Manhattan, das erste Mal nach Amerika geflogen. Also nachdem Dumpfklugschwätzer in Europa, denen ich nichts zu sagen habe, auf sämtlichen Kanälen gefunkt hatten, dass Amerika an diesem Anschlag doch irgendwie selber schuld sei. Bei dieser Reise hatte ich mich sofort in das Land verliebt: in das Martin-Luther-King-Memorial in Atlanta, wo ich die einzige Quarknase unter lauter Schwarzen war, in die hübsche brünette Kellnerin in Washington, die mir in aller Unschuld den Arm um die Schulter legte und freundlich fragte: »Möchtest du vielleicht noch was bestellen?«, in das kunterbunte Gemisch von Leuten aus aller Herren Länder, die mir am Times Square in Manhattan entgegenkamen, wo ich, wie vom Donner gerührt, stehen blieb und zwei Stunden lang nur schaute, schaute, schaute. Ich dachte: Das ist sie! Das ist die Menschheit, von der man so viel hört. Bisher war sie mir nur eine Abstraktion, ein utopischer Begriff, aber nun bin ich ihr in Wirklichkeit begegnet. Und sie ist viel besser als ihr Ruf!
Später ließ ich mich von der Menge zum Bryant Park spülen und bewunderte die Schlittschuhläuferinnen mit ihren wehenden Wollschals, wie sie auf dem künstlichen Eis zwischen den Wolkenkratzern ihre Achten drehten – und da wurde mir klar: In diesem Land will ich leben. In den Vereinigten Staaten von Amerika.
Verrückt. Wie sollte das gehen? War ich nicht ein klein bisschen zu alt für pubertäre Träumereien? Eines müden Abends vor meinem Computer hatte ich dann trotzdem im Internet herumgesucht und mich für die Greencard-Lotterie angemeldet – hierbei ließ ich mich von einem weisen alten bayerischen Sinnspruch leiten: »Du hast keine Chance, aber nutze sie.« Im Zustande kompletter Geistesabwesenheit hatte ich sogar »Ja« gesagt, als ich eine Nachricht mit der höflichen Anfrage in meinem elektronischen Briefkasten fand, ob ich auch im neuen Jahr um eine Greencard spielen wolle.
Jetzt hatte mir der Himmel ein Geschenk gemacht. Jedenfalls schien es so. Wie konnte das sein? Ausgerechnet mir? Ich glaubte damals und glaube immer noch nicht an Wunder.

Katz & Cohen

Eine Woche nach dem Anruf von US Customs zog ich einen prall gefüllten braunen Umschlag aus meinem Briefkasten. Nachdem ich ihn aufgeschlitzt hatte, fand ich in seinem Inneren ein großes Blatt mit einer Nummer und ­einem schwarz-weiß gestrichelten Barcode (meine »Case Number«). Ferner verschiedene Fragebögen, die dermaßen kompliziert aus­sahen, dass mich schon beim Überfliegen der leichte Schwindel der Hilflosigkeit erfasste. Drittens fiel mir das Papierbündel einer Rechtsanwaltsfirma entgegen, Katz & Cohen in New York, die mir ihre Dienste anbot, um mich sicher durch den Ozean der Bürokratie zu lotsen, an jedem Strudel und vielköpfigen Ungeheuer vorbei, das mir unterwegs begegnen könnte. Kostenpunkt: 2600 Dollar, zahlbar mit Kreditkarte.
Kann das sein, fragte ich eine amerikanische Freundin. Ist es möglich, dass das State Department – das Außenministerium in Washington – einer Anwaltsfirma erlaubt, zusammen mit hochoffiziellen Fragebögen ihre höchst privatwirtschaftlichen Dienste anzubieten? Ausgeschlossen, sagte die Freundin. So etwas würden die amerikanischen Gesetze nie und nimmer erlauben. Habe ich überhaupt eine Greencard gewonnen? Wahrscheinlich ist das alles Schwindel: 2 600 Dollar! Haha! Ein paar Tage später bekam ich im Büro einen Anruf von Katz & Cohen. Wieder beglückwünschte mich ein Herr am anderen Ende der Leitung – diesmal ohne hispanischen Einschlag –, dass ich eine Greencard gewonnen habe; und er fügte hinzu, es sei wirklich sehr ratsam, die Dienste seiner Firma in Anspruch zu nehmen.
Ich googelte dann ein bisschen. Es schien in New York wirklich eine Firma namens Katz & Cohen zu geben, die sich auf Fragen der Einwanderung spezialisiert hatte.
Als ich mir die Fragebögen noch einmal anschaute, wurde mir schon wieder schwindelig. Nein, mir war keine Greencard in den Schoß gefallen. Stattdessen hatte ich ein Labyrinth gewonnen, durch das ich mir den Weg nach draußen, in die Freiheit kämpfen musste. »Nennen Sie alle Länder, in denen Sie seit Ihrem 16. Lebensjahr länger als ein halbes Jahr gelebt haben«, stand in den Fragebögen. Und: »Ein polizeiliches Führungszeugnis wird von jedem Land verlangt, in dem Sie sich länger als ein halbes Jahr aufgehalten haben.« Und: »Listen Sie jede Schule und Universität auf, die Sie in Ihrem Leben besucht haben.«
Von innen betrachtet, mag Amerika das Land der Freiheit sein. Nähert man sich ihm von außen, bekommt man es indessen mit der amerikanischen Bürokratie zu tun. Und die ist offenkundig von Beamten des Osmanischen Reichs ersonnen worden, die einen Schulungskurs in der DDR gemacht haben.
2 600 Dollar! Kein Pappenstiel. Ich rief meinen Bruder an. Der hatte Amerika lange vor mir entdeckt: Als ich noch anglophil bis über beide Ohren war, fuhr der schon mit dem Greyhound kreuz und quer über den amerikanischen Kontinent, und als ich noch mein Glück im Nahen Osten suchte, heiratete er ein nettes Mädchen aus Minnesota – meine Schwägerin, mit der er dann lange in Brüssel lebte. Am Ende kam es, wie es wohl kommen musste: Die beiden wanderten mit Kind und Kegel, also mit der besten Nichte und dem besten Neffen der Welt, nach Minnesota aus. Dort wohnte mein Bruder jetzt schon seit drei Jahren, und er hatte die begehrte Plastikkarte längst. »Ach, der Papierkram ist nicht so wild«, meinte er. »Ich hab’ das alles ganz allein geschafft.« Na schön, aber bei mir – dachte ich – ist das alles ein entscheidendes Stück komplizierter. Ich bin als Kind adoptiert worden, ich lebe als österreichischer Staatsbürger in Deutsch­land, und zu den Ländern, wo ich mich länger als sechs Monate aufgehalten habe, gehört unter anderem Israel.
100 000 Leute gewinnen die Greencard-Lotterie, las ich in der Informationsbroschüre von Katz & Cohen. Aber am Ende werden nur ungefähr 50 000 Greencards ausgestellt. Die Hälfte der Gewinner fliegt im Laufe des verwickelten bürokratischen Prozesses raus. Warum? Viele Gewinner können keine höhere Schulbildung nachweisen – oder ihnen fehlen die Mittel, jene insgesamt etwa 1 000 Dollar zu berappen, die für Visagebühren und ärztliche Untersuchungen anfallen. Oder sie machen Fehler beim Ausfüllen dieser schlimmen Fragebögen. Außerdem, las ich, muss man ein Gespräch mit dem amerikanischen Konsul durchstehen, ehe man die Greencard in die Hand gedrückt bekommt. Dieses Gespräch könne »intimidating« sein, einschüchternd.
Mich befällt Herzrasen und Knieschlottern, wenn ich eine Behörde nur von außen sehe, von einem Konsulat ganz zu schweigen. Ich kapitulierte. 2 600 Dollar sollte mir der Spaß wert sein. Bitte helfen Sie mir, meine Damen und Herren von Katz & Cohen!

E-Mails an Sharon

Danach stand ich unter Zeitdruck. Ein Sturmwind fetzte die Blätter vom Kalender: Bis spätestens Ende 2006 musste ich einen bürokratischen Papierberg zusammengetragen haben. Der Grund: Wenn meine Greencard nicht im (fiskalischen) Jahr 2007 gültig wurde, dann – tja, dann würde sie auf Nimmerwiedersehen verfallen. In welcher Umzugskiste hatte ich noch mal meine Geburtsurkunde verstaut? Dunkel erinnerte ich mich, dass ich sie damals gebraucht hatte, als mein alter Pass abgelaufen war. Und mein Maturazeugnis? (Als Österreicher habe ich naturgemäß kein Abitur, sondern Matura.) Na gut, meine Magisterurkunde von der Universität Hamburg würde es zur Not auch tun. Und jetzt kam das Problem. Ein echtes, wahres Problem mit Zottelfell und Zähnen, das vor mir stand und hungrig knurrte.
Alle Welt, inklusive meiner Wenigkeit, glaubt, dass ich mit Vornamen »Hannes« heiße – so steht es auch auf diesem Buchdeckel. Und es stimmt ja auch … aber nur halb. Offiziell heiße ich nämlich – bitte nicht weitersagen – »Hans Alexander«, ohne Bindestrich. So steht es in der Geburtsurkunde, so steht es im Pass. Die Magisterurkunde aber ist auf »Hannes« ausgestellt. Just auf solche Details schlagen in Amerika sämtliche bürokratischen Kettenhunde laut kläffend an.
Immer wenn ich verzweifelt war, schrieb ich damals eine Nudnik-E-Mail an Sharon von Katz & Cohen. (Ein »Nudnik« ist auf Jiddisch ein Langweiler, eine Nervensäge.) Sharon hielt mir dann von der anderen Seite des Atlantiks her elektronisch die Hand. Dafür hatte ich immerhin 2 600 Dollar Anwaltsgebühren abgedrückt. »Liebe Sharon«, tippte ich in den Computer, »auf meiner Geburtsurkunde steht ›Hans Alexander‹, auf meiner Magisterurkunde jedoch ›Hannes‹. Hilfe! Was soll ich tun?« Am Nachmittag landete die Antwort in meinem elektronischen Briefkasten in Berlin. »Dear Hannes, don’t worry. Du schreibst in Dein Formular einfach beide Vornamen. Yours, Sharon.« Einen Blumenstrauß, dachte ich. Ich muss dieser Frau – alt, jung, hässlich, hübsch, egal – einen Blumenstrauß schicken!

So sind sie, die Deutschen –
und die Österreicher

Wenden wir uns nun dem Thema »polizeiliche Führungszeugnisse« zu. Vorsorglich sei angemerkt, dass nationale Vorurteile mir – wie jedem aufgeklärten Menschen – ein Gräuel sind. Vor allem dann, wenn sie punktgenau stimmen.
Das polizeiliche Führungszeugnis der Bundesrepublik Deutschland beantragte ich bei der Meldebehörde im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Gebühr bezahlt – Formular losgeschickt – zwei Wochen später hielt ich ein schmuckloses Ding in den Händen: Es gibt über mich also keine polizeilichen Eintragungen. Wie schön, dachte ich, dass die zuständigen Behörden von meinen drei bewaffneten Raubüberfällen nichts gemerkt haben, und bin ich nicht neulich mit dem Fahrrad bei Rot über die Ampel gefahren? Aber ganz im Ernst: So sind sie halt, die Deutschen. Pünktlich, zuverlässig, effizient, aber (seien wir ehrlich) auch ein klein wenig humorlos.
Das polizeiliche Führungszeugnis der Republik Österreich kostete deutlich mehr als sein deutsches Pendant. Quasi zum Ausgleich waren alle Angestellten des österreichischen Konsulats in Berlin ungeheuer charmant und sprachen den Dialekt meiner Kindheit. Doch das gewünschte Dokument fand sich auch nach drei Wochen noch nicht in meinem Briefkasten ein. Dafür war plötzlich mein Pass verschwunden. Krise! Ich rief beim Konsulat an. Ich brauchte einen Notpass. Ich schickte eine Nudnik-E-Mail an Sharon: »Liebe Sharon«, schrieb ich, »mein Pass ist weg. Ich habe aber schon meine Passnummer in sämtliche schlimme Formulare geschrieben. Jetzt müssen wir sie wegwerfen und noch mal von vorn anfangen. Am Boden zerstört – Dein Hannes.« Sharon antwortete nicht.
Im österreichischen Konsulat waren alle weiterhin unverändert charmant. Ich nahm ein Taxi und fuhr hin, mir meinen Notpass abzuholen. Ich fand mich in einer Schlange mit lauter Iranern wieder, die aus Allah weiß welchen Gründen dringend in Wien leben wollten. Eine halbe Stunde später, als ich endlich an der Reihe war, erklärte mir die charmante Dame hinter dem Schalter: Ich bräuchte unbedingt mehr Passfotos. Ich hatte keine Passfotos. Das polizeiliche Führungszeugnis war in dem Trubel mittlerweile völlig vergessen.

So sind sie, die Israelis

Am Abend schlug ich resigniert das Buch auf, in dem ich damals gerade las; als Lesezeichen zwischen den Seiten 242 und 243 steckte – mein Pass. Wie war der nur dort reingekommen? Ich hatte ihn jedenfalls nicht dort hingesteckt und anschließend vergessen, so viel war ja wohl klar. So doof konnte ich gar nicht sein. »Liebe Sharon«, tippte ich nächtens in den Computer, »alles wird gut, ich habe den Pass wieder. Jauchzend, frohlockend – Dein Nudnik aus Berlin.«
Am nächsten Morgen fiel mir mein Führungszeugnis wieder ein, und ich rief im Konsulat an. Der Wiener am anderen Ende – sehr charmant – ließ sich von mir mein Geburtsdatum und den Geburtsort vorsagen (15. Februar, München). Nach zehn Minuten rief er mich zurück: Es sei ihm ungeheuer peinlich … eine Verwechslung … eine Namensgleichheit … er wisse gar nicht, wie das passieren konnte … also: Das Führungszeugnis liege schon seit Wochen bei ihm im Büro herum. Morgen aber hätte ich es ganz bestimmt in meinem Briefkasten. Ob das so recht sei?
Als ich es dann in der Hand hielt, erwies es sich als würdiges Dokument mit lauter Schleifchen und amtlichem Siegel, das geradewegs aus der k.-und-k.-Epoche durch melancholische Jahrzehnte zu uns herübergeweht zu sein schien. So sind sie, die Österreicher: schlampig und nett und bis in die Haarspitzen von einer großen Zeit erfüllt, die hinter ihnen liegt.
Kommen wir zu den Israelis.
Ganz einfach, sagten mir die Frauen im israelischen Konsulat. »Äin baja«, kein Problem. Wir schicken dir Fragebögen, du überweist sieben Euro, bringst uns die ausgefüllten Bögen und eine Kopie der Überweisung vorbei. Danach dauert die Prozedur leider, leider noch acht Wochen. Ich füllte aus. Ich überwies. Ich stand in einer kriminellen Frühe auf und brachte vorbei. Danach passierte naturgemäß gar nichts. Kein Führungszeugnis, nirgends.
Ich führte ein Beratungsgespräch mit meinem Freund Eldad. Eldad bekam durch kluge Recherche heraus: Führungszeugnisse schickt die israelische Polizei grundsätzlich nur an israelische Konsulate. Das israelische Konsulat aber meldete: Es habe von der israelischen Polizei keine Post bekommen. Übrigens würde es mir mein Führungszeugnis auch nie und nimmer in die Hand drücken. Es sei nur bereit, dieses hochwichtige Dokument an ein anderes Konsulat, das amerikanische etwa, weiterzuleiten.
Ich tippte eine verzweifelte Nudnik-E-Mail an Sharon und erklärte ihr mein Problem. »Katz & Cohen hat eine Niederlassung in Herzlija«, schrieb Sharon mir zurück. »Vielleicht solltest Du Dich mal mit denen in Verbindung setzen.« Fünf Minuten später telefonierte ich mit dem Chef dort: Der kippte vor Begeisterung beinahe aus den Latschen, als ihn da jemand aus Berlin anrief und astreines Hebräisch sprach. Er versprach, sich vor Ort um die Angelegenheit zu kümmern. Und weil mein Freund Eldad zufällig den israelischen Konsul kannte … und weil der pfiffige Anwalt von Katz & Cohen sich in Israel der Sache annahm … und weil ich mich noch ein zweites Mal in die Schlange im israelischen Konsulat einreihte und sieben Euro bezahlte … darum ging am Ende alles glatt. Jedenfalls hoffte ich das. Sawlanut, chewre! Ha-kol jihije be’seder! Wir verstehen uns.
So sind sie, die Israelis.

Das Verhör

Alles läuft über Frankfurt am Main. Jeder, der in Deutschland eine Greencard gewonnen hat, muss sich auf den Weg nach Frankfurt machen. Keine Ahnung, warum das so ist, schließlich gibt es auch in Berlin ein schönes amerikanisches Konsulat. Jedenfalls hatte ich mir am Morgen des 14. Februar in meinem Frankfurter Hotelzimmer den Wecker auf vier Uhr früh gestellt. Meine Mutter, eine erfahrene Visumsantragstellerin, hatte mich am Telefon gewarnt: Wer zu spät kommt, den bestraft der amerikanische Konsul. Aber als mich das Taxi um fünf Uhr vor dem Konsulat absetzte – es war natürlich noch stockfinster –, stand niemand dort. Keine Menschenseele, nur ein Herr Wachtmeister, der vor dem Gebäude mit einem Schäferhund seinen Dienst versah. »Die machen erst um acht auf«, sagte der Wachtmeister. Vorher zu warten ergebe keinen Sinn. Und: »Sie dürfen keinerlei elektronische Geräte mitbringen, gar nichts. Okay?«
Also zurück zum Frankfurter Hauptbahnhof, erst mal frühstücken. Um sieben Uhr war ich schon wieder draußen vor dem amerikanischen Konsulat. Es nieselte, und in der Zwischenzeit hatte sich eine kleine Menschentraube angesammelt. Um halb acht pflanzte sich ein amerikanischer Beamter vor uns auf und erklärte die Regeln: Es dürfen immer nur vier Leute durch die Sicherheitsschleuse. Wir müssen uns schon draußen eine Nummer ziehen. Wir werden drinnen nach der Nummer aufgerufen. Keine elektronischen Geräte – aber das hatten wir schon.
Ich fasste die Kunstledermappe fester, in der all meine Dokumente verstaut waren. Drinnen im Konsulat ging es dann zu wie in jedem Flughafen in Amerika: Schuhe aus. Gürtel weg. Tascheninhalt und Daunenjacke in eine Plastikwanne legen. In Socken durch das Plastikpieps­portal gehen und hoffen, dass nichts piept. Schuhe wieder an, Gürtel durch die Schlaufen stecken, Münzen in die Tasche: eine langweilige, eine erniedrigende Prozedur. Hinterher latschte ich ein paar Meter durchs Freie und endlich in eine riesige Halle, an deren Wänden sich viele Schalter befanden.
Zuerst wurde ich ungefähr 700 Dollar für Gebühren los. Kreditkarte raus, Quittung in Empfang nehmen. Hinsetzen und warten. Ich zitterte vor Müdigkeit und Nervosität und grübelte sinnlos: Habe ich irgendetwas Wichtiges vergessen? Wenn ja, kann ich gleich den nächsten Zug nach Hause nehmen. Ein Dokument, das ich hier nicht zeigen, vorweisen, materiell präsentieren kann, zählt, als habe es nie existiert. Meine Nummer wurde aufgerufen. Meine Nummer! Ich stürzte zum Schalter, blätterte mit fliegenden Händen meine Siebensachen auf den Metallteller, den man unter der schusssicheren Scheibe durchschieben konnte: »Es fehlt noch ein Führungszeugnis von den Israelis«, erklärte ich mit brüchiger Stimme, »aber das kommt dieser Tage nach.« Ja, ja, kein Problem, erklärte der Mann hinter dem Panzerglas, ein Franke, der gemütlich seine Rs durch die Gegend rollte: »In der Ruhe liegt die Kraft.« Das Einzige, was jetzt noch gefragt sei: eine Briefmarke. Das amerikanische Konsulat werde nämlich meinen Pass einbehalten und ein Visum hineinkleben und ihn mir anschließend per Einschreiben zuschicken. Dort hinten sei der Briefmarkenautomat.
Das war der Augenblick, in dem meine Auswanderung nach Amerika dann um ein Haar gescheitert wäre. Der Briefmarkenautomat schluckte nur Münzen. Ich aber hatte nicht genug Münzen dabei. Wie ein Bettler ging ich mit aufgehaltener Hand herum: Hat mal jemand einen Euro für einen akute Not leidenden Federfuchser, Skribenten, Tintenkleckser? Selbstverständlich sagte ich das nicht laut. Am Ende machte ich ein ziemlich schlechtes Geschäft – ich tauschte eine Fünf-Euro-Note gegen drei Euro vierzig ein. So aber bekam ich meine Briefmarke.
Zu guter Letzt, es war mittlerweile noch nicht einmal elf Uhr morgens, wurde ich zu einem zweiten Schalter gerufen. Ein freundlicher junger Mann wollte auf Englisch von mir wissen, was ich denn drüben in der Neuen Welt zu tun gedenke. »Oh, I’ll always be a journalist, I guess«, sagte ich in einem Anfall von Phantasielosigkeit. Leider hätte ich ja sonst nichts Nützliches gelernt. Wie es denn komme, dass mein Bruder schon in Amerika lebe, wollte der junge Mann wissen. Und ob es mir etwas ausmachen würde, jetzt die rechte Hand zu heben und zu schwören, dass alle Angaben, die ich gemacht habe, der Wahrheit entsprechen? »Thank you, Sir.«
Das war alles, das war es schon? Das war also das gefürchtete Verhör beim amerikanischen Konsul? Ich wusste nicht, ob ich vor Erleichterung lachen oder wütend losweinen sollte.

Reiselektüre

Danach genoss ich die letzten schönen Sommertage in Berlin und las die »Briefe des Ochtruper Auswanderers Theodor Heinrich Brandes aus dem amerikanischen Bürgerkrieg 1862/63«, die in der Edition Temmen erschienen sind. Brandes stammte aus dem knallkatholischen Kaff Ochtrup in Westfalen, ein Tagelöhner. 1853 schiffte er sich in die Neue Welt ein, nach Oldenburg in Indiana. Als der Bürgerkrieg entbrannte, meldete er sich für die Nordstaatenarmee, wohl des Soldes wegen, wenn ich das richtig begriffen habe. Für die Kriegsziele der Unionisten kämpfte er jedenfalls nicht. Die Sklaverei war ihm wurscht, und die Union der Bundesstaaten lag ihm nicht sehr am Herzen. Er war ein Demokrat, kein Republikaner, und die Demokratische Partei hätte in ihrer Mehrheit lieber einen Verhandlungsfrieden zwischen den Bürgerkriegsparteien gehabt – Präsident Lincoln dagegen, der Republikaner war, wollte bis zum bitteren Ende, bis zur bedingungslosen Kapitulation der anderen Seite weiterkämpfen.
Am 28. März galt schon die Direktive, dass schwarze Sklaven in Gebieten, die von den Nordstaatlern erobert worden waren, frei waren. Heinrich Brandes schrieb an seine Lieben zu Hause: » … die Neger die da waren Haben wir Alle mit genommen. Weil ­Abram Linken ein Niger Freunt ist: Gott erbarme sich über daß arme Land Ammerica.«
Sympathisch wurde er mir beim Lesen nicht, dieser Brandes – aber was für ein Zeitdokument sind seine Briefe in Arme-Leute-Orthografie! Übrigens hat er den Bürgerkrieg nicht überlebt. Brandes starb in einem Lazarett bei Vicksburg: gerade mal vier ­Wochen bevor er aus der Armee entlassen werden sollte. Ich las in diesem Buch auch, was der Cincinatti Enquirer am 14. Januar 1863 über den amerikanischen Bürgerkrieg schrieb: »Wir richten eine Wüstenei an und nennen es Frieden. Wir zerstören das soziale System des Südens bis in jeden Haushalt hinein und nennen es Wiedererneuerung.« Lincolns Politik sei »nichts als Heimsuchung durch ein Blutbad und unmenschliche Gewalttätigkeit«. Ach, wäre es doch wahr gewesen! In Wirklichkeit gewährte der Norden dem Süden nach dem Sieg »home rule«, Selbstverwaltung, und so dauerte es noch mal hundert Jahre, bis die Schwarzen endlich ihre Bürgerrechte bekamen.
Das Buch mit den Briefen des Ochtruper Auswanderers war ein Geschenk von Caroline. Wir saßen zusammen am wunderschönen Viktoria-Luise-Platz, im Hintergrund plätscherte der Springbrunnen.
Caroline schrieb mir in mein rotes Notizbuch den »Pledge of Allegiance«, den sie als Zehnjährige aufsagte, die Flosse ans Herz gedrückt, die Augen aufs Sternenbanner gerichtet:

I pledge allegiance / To the Flag / Of the United States of America / And to the republic/ For which it stands / One nation / Under God, indivisible, / With Liberty and Justice / For all.

Sie schrieb mir die religiöse Variante auf. Wir fanden das beide nicht verkehrt.

Angstneurosen und Theologie

Die letzte Nacht in Old Europe schlief ich tief und ruhig. Irgendwann träumte ich undeutlich von meinem Bruder: In meinem Traum war er wieder ein kleiner Junge, und ich musste ihn trösten, weil ich nach Amerika auswanderte und ihn zurückließ. Am Morgen war ich froh, dass zwei Freundinnen mich zum Flughafen begleiteten, ich wäre sonst von einer Angstneurose in die nächste gestürzt.
Waren meine beiden Koffer auch wirklich nicht schwerer als 23 Kilo? Mehr war nicht erlaubt, ich aber hatte sie nur drei Mal mit der Badezimmerwaage nachgewogen. Und würden die Leute von der Fluggesellschaft auch nicht merken, dass mein Handgepäck viel schwerer war, als die Vorschriften erlaubten? Und was, wenn nun ausgerechnet mein Gepäckübergewicht dazu führte, dass der Sprit nicht reichte, so dass wir schon in Sichtweite des amerikanischen Kontinents, aber immer noch über dem Atlantik, das heißt kurz vor Neufundland, koppheister ins Wasser stürzten? In der platten Wirklichkeit geschah Folgendes: Der Securitymensch fragte mich nach dem Grund meiner Reise. Ich antwortete vollkommen wahrheitsgemäß: »Auswanderung.« (Außerdem fand ich diese Antwort schick.) Der Securitymann schnappte sich meinen Pass und meine Greencard und verschwand.
Und wenn er nun nicht wiederkommt? Und wenn er aus purer Bosheit meine Greencard konfisziert? Ich schaute meine zwei Freundinnen an; meine Freundinnen schauten betreten zurück. Wir schwiegen alle drei. Dann schlenderte der Securityheini wieder in unser Blickfeld: »Gute Reise, Herr Stein«, äußerte er und übergab mir meine Dokumente.
Der Flug über den Atlantik war dermaßen ereignislos, dass ich noch jetzt, beim Dran­denken, laut gähnen muss. Ich hätte eben doch stilvoll den Dampfer nehmen sollen. Endlich landeten wir in New Jersey.
Nächste neurotische Angst: Was, wenn der amerikanische Grenzbeamte mich nicht reinlässt? Habe ich am Vorabend etwa keine Steaks mit Knoblauch gegessen, und sehe ich nicht überhaupt ziemlich verdächtig aus? Aber ich war dann in less than no time durch die Kontrolle. Ein echter Absacker – wie ein fader Witz, dessen Pointe der Erzähler vor lauter Müdigkeit vergessen hat. Irgendetwas musste da doch noch kommen?
Es passierte bei der Zollkontrolle. Ich rollte meine zwei Koffer durch einen engen Korridor, meine schwere Tasche trug ich über der Schulter, und mit einer ungeheuer sportlichen Verrenkung gelang es mir, dem Zöllner mit dem weißen Walrossschnauzer mein ausgefülltes Zollformular entgegenzuhalten. Er nahm das Formular in die Hand, sah den Greencard-Stempel, den sein Kollege an der Grenze mir da draufgeknallt hatte, und dann sagte er … An dieser Stelle muss ich etwas einfügen, was ich neulich irgendwo gelesen habe: Ein berühmter und rabiater Atheist wurde gefragt, ob er sich vorstellen könne, dass er sich irrt: dass es also doch ein Jenseits gibt und er nach dem Tode wieder aufwacht. Außerdem wurde er gefragt, was er sich wünschen würde, dass Gott dort drüben als Erstes zu ihm sagen soll. Der Atheist überlegte kurz, dann antwortete er mit zwei Worten: »Welcome home.« – Willkommen zu Hause. Das steckte mir ein Uniformierter an der Grenze der Vereinigten Staaten von Amerika zu wie ein Geschenk.
So einfach. Einfach so.

Die Alte Welt, die Neue Welt

Es ist jetzt schon eine Weile her, seit ein Grenzbeamter – so einfach, einfach so – bei der Einreise diese zwei Zauberworte zu mir sagte: »Welcome home.« Was ich am Anfang nur dunkel ahnte, habe ich längst mit all meinen Sinnen begriffen: Amerika ist nicht das Paradies auf Erden. Allerdings kann mir das nur recht sein. Das Paradies hat sich in der Praxis bisher immer als Ort erwiesen, der von Stacheldraht umzäunt und von Wachtürmen umstellt war.
Was suche ich also hier – und was habe ich hier zu suchen? Warum will ich nie wieder weg aus diesem verwirrenden und großartigen, diesem mannigfaltigen und im Grunde ziemlich unfassbaren Land? Dessen Staatsbürgerschaft ich bei nächster Gelegenheit annehmen werde? Ja, ich habe mit den Füßen abgestimmt. So wie vierhundert Deutsche, die jeden Tag ihr Vaterland verlassen: ein reißender Auswandererstrom – beinahe ist man versucht, von Republikflucht im verschärften Wiederholungsfall zu sprechen. Vor allem die Jungen gehen, die Gebildeten, Abenteuerlustigen und Gescheiten. Es zieht sie nicht nur, aber doch in erster Linie in die angelsächsisch geprägten Länder, also nach Kanada, Australien, Neuseeland und eben nach Amerika. Ich kann verstehen, warum diese Leute im Chor »Tschüß Deutschland!« rufen. Sie haben die Nase voll von hohen Steuern, miesen Berufschancen und noch mieserem Wetter. Godspeed, masel tow und bon courage! Aber was ist mit mir? Hier muss ich wohl vom amerikanischen Traum sprechen. Theoretisch ist die Sache ja klar wie Sonnenlicht: »Leben, Freiheit und das Streben nach dem Glück.« So hätte ich ganz im Ernst geantwortet, wenn mich jemand an der Grenze gefragt hätte, was mich nach Amerika lockt: Life, Liberty and the pursuit of Happiness – wie es in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 heißt. (1) Neuanfang auf einem neuen Kontinent. Das Alte zurücklassen, sich als Amerikaner neu erfinden. Praktisch aber wird die Sache kompliziert: Mein amerikanischer Traum ist nicht dein amerikanischer Traum. Es gibt wahrscheinlich so viele amerikanische Träume wie Einwanderer, die sich (legal, illegal, scheißegal) in diesem Land niederlassen. Es kommt eben immer darauf an, was man jeweils gerade unter »happiness« versteht.
Nehmen wir als Beispiel meine Familie in Minnesota. Den amerikanischen Traum meines Bruders kann ich in einem Wort zusammenfassen: Autonomie. Wenn er sein Haus heizen will, setzt er sich auf seinen Minitraktor, fährt in seinen Wald, fällt mit der Motorsäge einen Baum und füttert ihn in den supermodernen Verbrennungsofen, der auf seinem Grundstück steht. Will er ein Reh essen, dann – piffpaff! – schießt er sich eins. Wenn er Kartoffeln dazu haben will, gräbt er sie in seinem Garten aus. Es ist die Utopie, ganz auf sich gestellt, von niemandem abhängig zu sein. Im Grunde seines Familienvaterherzens ist mein Bruder ein Anarchist – wie ja das amerikanische Regierungssystem überhaupt am besten in jenem Witz erklärt wird, wo zwei Bayern sich über Politik unterhalten. »Das Beste wär’ halt doch eine richtige Anarchie!« meint der eine Bayer. Darauf der andere: »Ja – aber mit einem starken Anarchen!«
Im Unterschied zu meinem Bruder bin ich kein Anarchist. Mir ist Anarchie zu mühselig, ich bin eine Großstadtpflanze, ich will nicht frühmorgens schon aufstehen und Bäume fällen. Mein amerikanischer Traum ist die Welt von gestern (Enthüllung – in meinem Arbeitszimmer hängt ein Porträt von Kaiser Franz Joseph). Mein reaktionärer Traum: ein Europa, das nicht auf den Schlachtfeldern von Flandern Harakiri begangen und sich hinterher, um ganz sicherzugehen, auch noch aufgehängt hat; in dem das jüdische Leben nicht planmäßig ausgetrampelt wurde; wo weder der Erste noch der Zweite Weltkrieg die Seelen verwüstet hat; in dem die Kultur nicht hirntot ist und daher vom Staat künstlich beatmet werden muss; ein Kontinent, der nicht in der Umarmung der totalitären Regime erstickt ist.
New York birgt viele Welten in sich. Am »Labor Day« in Brooklyn ist es lachende, tanzende Karibik, im Taxi ist es häufig Bangladesch, auf seinen Straßen wimmeln Lateinamerika und China und der Nahe Osten. Für mich aber ist New York vor allem das alte, das untergegangene und gerettete Europa.

(1) »We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.« Das Großartigste daran ist vielleicht das Adjektiv »self-evident«. In Wirklichkeit ist ja alles andere als selbstverständlich, dass jeder Mensch diese Rechte genießen soll. Niemand wusste das besser als Thomas Jefferson, aus dessen Feder die heiligen Worte der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung stammen; er war ein Sklavenhalter, der – im Unterschied zu George Washington – nie einen Sklaven freigelassen hat, mit Ausnahme seiner heimlichen Geliebten Sally Hemings und ihrer Kinder, von denen er wahrscheinlich zumindest eines gezeugt hat.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Hannes Stein: Tschüß Deutschland! Aufzeichnungen eines Ausgewanderten. Galiani Verlag, Berlin 2010. 204 Seiten, 16,95 Euro. Das Buch ist soeben erschienen.