Abdruck aus dem Buch »500 Meter« 

Aus der Zeit gerutscht

Knud Kohr begab sich nach Island, ein wundersames, unterschätztes Land, und machte dort einen Ausflug zu Europas größtem Wasserfall. Zuweilen wollte seine Multiple Sklerose dabei nicht ganz so, wie er wollte. Aber Lewis und Clark sind ja auch noch da.
Von

Ich brauchte beide Hände, um die Beifahrertür zu öffnen. Von außen drückte böiger, dreizehn Grad kühler Wind dagegen. Dunkle Wolken flogen über uns hinweg. Ein typischer Julitag im Inneren von Island. Dann hatten Thomas und ich uns aus der Blechhülle befreit und standen neben dem Auto. Um uns herum ein Parkplatz mit ungefähr hundert Stellplätzen. Jetzt waren zwei davon besetzt. Die bucklige Piste, über die wir gekommen waren, hatte die Stoßdämpfer unseres Wagens vor eine ordentliche Aufgabe gestellt. Schlaglöcher und kleine Felsen über­säten die Fahrspur, links und rechts daneben bestand der Boden aus grauem feinem Lavasand, dem man ansah, dass die Zeit höchstpersönlich ihn zermahlen hatte.
Am gegenüberliegenden Ende des Parkplatzes begann ein weiterer Weg, der durch eine Schranke und zwei massive Metallpoller vor Autos geschützt wurde. Er verschwand zunächst hinter einer kleinen Anhöhe, um sich dann über eine steinige Ebene und einen Hügel hinaufzuschlängeln.
Hinter der Gipfelkante lag unser Ziel: der Dettifoss, Europas größter Wasserfall.
Auf der Ebene konnten wir ein Paar erkennen, um das ein großer weißer Hund herumsprang. Wahrscheinlich die Besitzer des anderen Wagens auf dem Parkplatz. Der Hund schien fröhlich zu bellen. Hören konnten wir das nicht. Der Wind pfiff in unseren Ohren. Da­rin war noch ein anderes Geräusch, das wir erst langsam wahrnahmen. Es klang wie das Grollen eines riesigen Urzeittiers, das schlechte Laune hatte. Und zwar seit mindestens zwei Millionen Jahren. So begrüßt der Dettifoss also seine Gäste.
Der Fotograf und ich sahen uns an. Vor uns lag ein Weg von knapp einem Kilometer durch Lavasand. Eine Viertelstunde Gepäckmarsch für ihn. Vielleicht zu weit für mich. Ich nickte ihm zu, und er brach mit seiner Kameratasche auf.
Es wurde Zeit für den ersten Einsatz von Lewis und Clark. So entschied ich, als ich den Kofferraum öffnete. Darin waren zwei Nordic-Walking-Stöcke, die ich für diese Reise angeschafft hatte. Nur so zur Sicherheit. Weil es im Inneren von Island nicht zu jeder Sehenswürdigkeit eine Straße gibt. Und ich in den Wochen zuvor zweimal übel gestürzt war. Ich konnte sie nach der Reise immer noch zurückgeben, sagte ich mir. Als Garantiefall oder so. Und hatte mir bis eben auch fast geglaubt.
Der wirkliche Grund war ein anderer gewesen. Einige Tage vor der Abreise hatte Eberhard mich ein besonders hartes Training machen lassen. Danach kam ich kaum noch die Treppe von der Trainingsfläche zur Straße hinunter. Die ersten Meter schaffte ich, indem ich mich an den Fassaden abstützte. Doch dann musste ich die erste Straße überqueren. Einen Meter von der Fassade entfernt torkelte ich. Um nicht zu stürzen, blieb ich einfach stehen. Plötzlich hatte ich eine Hand unter meinem linken Unterarm gespürt.
»Ich helfe Ihnen mal eben.«
Eine kleine, ungefähr siebzig Jahre alte Dame hatte sich bei mir eingehakt. Bevor ich auch nur den Mund zum Protestieren öffnen konnte, hatte mich die Frau schon resolut über die Bürgersteigkante geführt. Den Rest ließ ich einfach geschehen.
»Schönen Tag noch. Und gute Besserung!« grüßte sie auf der anderen Straßenseite noch. Am liebsten wäre ich im Boden versunken. Doch wenige Tage später kaufte ich mir in einem Sportgeschäft Lewis und Clark.
Den Stöcken die Namen der beiden amerikanischen Entdecker zu geben, die 1806 den Landweg von St. Louis bis zum Pazifik erkundet hatten, war mir angemessen erschienen. Während Thomas hinter der Anhöhe verschwand, stemmte ich die Stöcke in den Sand. Links Lewis, rechts Clark. Dann atmete ich tief ein und pustete die Luft entschlossen aus.
»Links-rechts-links-rechts-links-rechts«, begann es in meinem Kopf zu flüstern. In den letzten Monaten, seit das Gehen für mich kein ­automatischer Vorgang mehr war, sondern jeder einzelne Schritt eine bewusste Entscheidung verlangte, lief dieses innere Metronom bei jedem Weg in mir mit.
Solange es regelmäßig tickte, war eigentlich alles in Ordnung. Sicher, schon nach kurzer Zeit wurden meine Schritte schwerer, und wenn ich mich zum Ausruhen auf einen Felsen setzte, sah ich von meinem rechten Schuh keine einzelnen Fußspuren, sondern nur noch eine Art Schleifspur mit kurzen Unterbrechungen. Nach der Rast ging es für eine Weile wieder weiter.
Irgendwann wurde es sogar möglich, neben dem dauernden »links-rechts« andere Sachen zu denken. »O Gott, wie weit ist es denn noch!« zum Beispiel. Oder: »Warum rennt der Arsch da vorne bloß so?!« Oder: »Wenn ich wieder zu Hause bin, muss ich gleich am ersten Tag die Krankenversicherung überweisen, sonst gibt es echt Ärger!«
Gefährlich wurde es, wenn sich das Metronom verstellte. Wenn ich »links« dachte, während ich den rechten Fuß vorstellte. Dann fädelte ich mit dem linken Fuß hinter dem rechten ein. Oder musste mich plötzlich mit aller Kraft auf die Stöcke stemmen, um nicht zu stürzen. Nur weil unerwartet ein Hund um einen Felsen rannte und fröhlich bellte.
So wie jetzt gerade. Mit einer plumpen Drehung setzte ich mich auf einen kantigen Stein. Ohne hinzufallen immerhin. Dem fröhlichen Tier folgte das Paar, das wir vom Parkplatz aus gesehen hatten. Deutlich schlechter gelaunt als ihr Haustier.
»Oh, can we help you?« fragt der Mann nach kurzem Blick auf meine verkrampfte Sitzposition. Die Steinkante schmerzte an meinem Hintern. Der Akzent meines Landsmanns schmerzte in den Ohren.
»Nein, danke. Ich brauche nur eine Pause. Ist es noch weit?«
»Hundert Meter vielleicht noch bis zur Kante. Danach weiß ich nicht. Frodo wollte einfach nicht drüber. War ihm wohl zu laut.«
Tatsächlich schrien wir uns an. Wie stark das Grollen des Dettifoss mittlerweile geworden war, hatte ich wegen des Metronoms gar nicht bemerkt.
Ich brüllte dem Paar einen Abschiedsgruß entgegen und stützte mich wieder auf Lewis und Clark. Hinter dem Felsen wurde der Weg noch einmal schmaler und steiniger. Der Staub, den mir der Wind unablässig ins Gesicht drosch, wurde feuchter. Immer häufiger flogen Tropfen oder Gischtflocken über die Hügelkante. Mehrmals zwangen mich wechselnde Windstöße fast zu Boden. Einmal musste ich aufs linke Knie und landete auf einem Kiesel. Was mich zu üblen Flüchen gegen den Dettifoss veranlasste. Haben Wasserfälle eigentlich eine Mutter?
Ans Aufgeben dachte ich nicht. So kurz vor dem Ziel? Unter keinen Umständen! Die Felsen am Wegrand waren groß genug, um als zusätzliche Stützen zu dienen. Noch ein bisschen schimpfen, noch ein wenig das eigene Schicksal beklagen– dann stand ich oben auf der Kante.

Dahinter war es so laut wie in einem durchschnittlichen Höllenschlund. Hier stürzte der größte Wasserfall Europas in die Tiefe. Grau. Gischtig. Gewaltig. Hundert Meter breit. Fünfundvierzig Meter tief. Gespeist nicht von einer Quelle, sondern durch die Gletscher auf den Bergen der Insel. Ich stand bewegungslos. Dieser Anblick war die Plackerei der letzten Stunde wert gewesen. Jedenfalls bis zu dem Moment, als das nächste Problem auftauchte. Unten am Wasserfall stand Thomas in einem Nebel aus Gischt. »Komm her!« bedeutete mir seine Geste. Ich schaute auf den Weg, der zu ihm hinunterführte. Noch nie hatte ich einen Hund so gut verstehen können. Ein steiler Abhang mit ungefähr zweihundert Stufen, die sich in wilden Kurven hinabschlängelten. Einige aus Stein, andere aus Holz. Keine so groß wie die davor oder danach. Mal lagen sie fünf Zentimeter über der nächsten, mal vierzig. Alle klatschnass und rutschig, bedeckt vom Staub der Ebene, den das Wasser des Dettifoss in Schlick verwandelt hatte.
An der linken Seite der Treppe verlief ein brüchiges Seil, befestigt an mürben Pfosten, die in ihren Felsverankerungen vor sich hin rosteten.
Am schlimmsten sahen die ersten fünfzehn Stufen aus. Sie führten direkt auf einen kleinen Felsüberhang. Dort musste man einen großen Schritt über eine Spalte nehmen, um wieder die Treppe zu erreichen, die erst dann ein bisschen flacher wurde.
Ich winkte in Richtung des Fotografen ab. Dessen Gesten wurden fordernder. Plötzlich war ein Gedanke da: »Was soll’s? Irgendwann sterben wir alle mal.« Ich gab ein Signal nach unten, dass ich mich auf den Weg machen würde.
Lewis und Clark konnte ich hier oben nicht gebrauchen. Also schleuderte ich sie über die Spalte hinweg auf das flachere Stück der Treppe. Dann konzentrierte ich mich. Stellte das in­nere Metronom ab. Bei dem Weg, der nun begann, konnte es mir auch nicht helfen. Ich ließ den Steinvorsprung los, an den ich mich instinktiv festgeklammert hatte. Es waren ja höchstens zweihundert Stufen. Und die erste hatte ich schon fast geschafft.
Das Seil und die Pfosten konnte ich als Sicherung meines Weges vergessen. In den letzten Jahren hatte ich mir angewöhnt, gegen jedes Geländer oder sonstige Gehhilfe zu drücken und probeweise daran zu wackeln, bevor ich sie benutzte. Die hier war so marode, dass ich sie mit einem kurzen Ruck hätte herausreißen können. Also gab es nur eine Möglichkeit– ich setzte mich auf den Hintern mitten auf den nassen, matschigen Stein. Stemmte mich mit den Händen ein bisschen nach oben. Hakte meinen linken Fuß hinten gegen meine rechte Ferse. Schob, bis meine Füße auf der übernächsten Stufe landeten. Dann wühlte ich meinen Hintern auf die Stufe davor hinunter. So arbeitete ich mich den ersten Treppenabsatz hinunter. Stück für Stück, die Beine immer zwei Stufen unterhalb des übrigen Körpers.
Als der kleine Felsüberhang kam, drehte ich mich mit dem Bauch zu derjenigen Seite, an der die Spalte am Abhang endete. Der Weg über die Spalte wurde dadurch kürzer, und ich musste nicht nach unten sehen – eine Klappe, zwei Fliegen.
Nach einigen weiteren Metern erreichte ich Lewis und Clark. Da die Treppe mittlerweile flacher und die Windstöße hier unten nicht mehr so arg waren, riskierte ich es, mich an meinen Stöcken aufzurichten. Nach etwa einer Minute stand ich. Nahm Lewis und Clark in die rechte Hand. Griff mit der Linken ins Seil, das hier unten weniger vom Wetter ramponiert war als oben auf der Kuppe. Ein kurzer Blick nach unten lehrte mich, dass Thomas mittlerweile seine Arbeit eingestellt hatte und mir bei meinem Abstieg zusah. So flach, dass ich hätte winken können, war das Gelände nicht. Aber ein energisches Nicken war schon möglich. Ich stemmte beide Stöcke auf die Stufe unter mir. Beim ersten Versuch fiel ich beinahe, blieb aber stehen. Danach begann es besser zu werden.
Wenige Minuten später lagen die Stufen hinter mir.
Thomas zog mich ein Stück aus der Gischt. Bis zu einem Felsen am Ufer, der relativ windgeschützt war.
»Du stellst dich jetzt hier hin«, befahl er. »Stütz dich auf einen Stock und sieh direkt in die Kamera. Keine Show!«
Das Foto zeigte er mir erst Monate später. Mein Gesicht und meine Körperhaltung sehen da­rauf aus wie aus der Zeit gerutscht. Ein Bergsteiger des 19. oder frühen 20. Jahrhunderts, der, mit unzureichender Ausrüstung und grimmigem Mut bewaffnet, einen Gipfel erklommen hat.
»Es war so viel Energie in dem Tal. Auf der einen Seite die Wassermassen und auf der anderen Seite du, wie du dich den Abhang runterkämpfst.« Thomas schien das peinlich zu sein, als er mir das Foto zeigte.
Unten am Wasserfall, nachdem wir einige Minuten lang den Dettifoss bestaunt hatten, hatte er etwas anderes gesagt. Mit dem Stativ zeigte er auf die Treppe.
»Die meisten Abenteurer sterben übrigens auf dem Rückweg. Wusstest du das?«
Der Weg zurück dauerte eine Stunde. Als ich am Parkplatz ankam, hatte Thomas den Wagen schon so weit wie möglich an die Barriere gefahren und den Kofferraum geöffnet.
»Für heute bist du genug gewandert.« Mit diesen Worten nahm er mir Lewis und Clark ab.

»Stress!« sagte die Frau im Radio immer wieder. »Mmh-mmh«, antwortete der Moderator. »Stress!« beharrte die Frau. Eigentlich sagte sie noch viel mehr, aber »Stress!« war das einzige Wort, das ich verstehen konnte. Seit meinem Abenteuer am Dettifoss war eine Nacht vergangen, die Island weniger als zwei Stunden Dunkelheit gebracht hatte. Wir fuhren auf der Rundstraße 1, die an der Küste entlang um ganz Island führt, durch den Norden des Landes. Ortschaften waren hier selten. Seydhisfjördhur hatte die letzte geheißen. Mit gut 700 Einwohnern schon fast eine Großstadt in diesem Teil der Welt.
Auch hier war die Landschaft gewaltig. Nicht so bedrohlich wie am Wasserfall, aber kaum weniger imponierend. In jahrtausendelanger Arbeit hatte die Grönlandsee Fjorde in die Küste gearbeitet, so dass sie aussah wie Gottes erste Laubsägearbeit als Vorschulkind. Mal führte die schmale zweispurige Rundstraße oben an der Felskante entlang, wo zwischen uns und dem Dutzende Meter tiefer gelegenen Meer oft genug nicht einmal eine Leitplanke wachte. Manchmal ging es hinab aufs flache Land, das das Meer zwischen den Fjordspitzen angeschwemmt hatte. Wenn überhaupt, dann führte die Straße in den Dörfern für wenige hundert Meter gerade aus. Zehn Kilometer Luftlinie bedeuteten hier fünfzig Kilometer Fahrt auf der Straße. Mindestens.
»Stress!« sagte die Frau im Radio schon wieder. Und dann noch ganz viele andere Sachen. »Mmh-mmh«, antwortete der Moderator. In diesem Stil sprachen sie seit den letzten Nachrichten, und mittlerweile gab es keinen Grund mehr anzunehmen, dass sie nicht bis zu den nächsten Nachrichten so weitermachen würden. Nach drei Stunden Fahrt hatte Thomas mittlerweile unseren Wagen, einen viertürigen Automatikgeländewagen mit imponierend großem Kofferraum, von der Straße gefahren und ein Stück übers Vorland rumpeln lassen. Mittagspause. Dazu passend, wühlte sich die blasse nordische Sonne durch die Wolken. Ein kleiner Schwarm Haubentaucher fühlte sich durch unseren Wagen gestört und stieg in die Luft. Es war ein Gefühl, als parkte man mitten in einer Postkarte.
»Warum ist die arme Frau eigentlich so aufgeregt?« fragte ich Thomas, während wir die Stullen auspackten.
»Ist die gar nicht«, sagte er. »Hier gibt es alle fünfzig Kilometer einen anderen Privatsender. Die Farmerfrauen sitzen den ganzen Tag allein zu Hause rum, und um die Langeweile zu vertreiben, rufen sie beim Radio an. Das ist billig für den Sender, und wenn ein Moderator hier fünf Jahre lang arbeitet, kennt er die meisten Hörer sowieso persönlich.«
Das leuchtete ein.
»Nach dem Essen kannst du mal fahren«, sagte Thomas beiläufig.
»Mmh«, antwortete ich und versuchte dabei so zu klingen wie der Moderator. Dabei sprang meine Pulsfrequenz gerade um dreißig Schläge pro Minute nach oben. Vorsichtig geschätzt.
Irgendwo in meinem Reisegepäck steckte ein Führerschein. Den hatte ich vor ungefähr zweieinhalb Jahrzehnten gemacht. 32 Fahrstunden und zwei Prüfungen dafür gebraucht, obwohl es in meinem damaligen Wohnort – dem 6 000-Einwohner-Moloch Otterndorf/Niederelbe – nur eine einzige Ampel und zwei Einbahnstraßen gab. Einige Monate durfte ich den Zweitwagen meiner Mutter benutzen. Für das, was alle 18jährigen tun. Samstags in die Disco fahren und danach vor der Tür der Freundin so lange knutschen, bis die Scheiben von innen beschlagen sind. Außerdem konnte ich mich noch an eine Fahrt im dritten Semester erinnern, bei der ich irgendwo in Spanien oder Frankreich auf ein Auto vor mir aufgefahren war. Zum Glück so leicht, dass kein Blechschaden entstand, so dass der andere Fahrer und ich es bei einem erleichterten Lachen beließen und unserer Wege fuhren.
Das waren meine Erfahrungen als Autofahrer. Jahre vor der Diagnose. Ich hatte Thomas immer wieder während unserer Reisen pflichtschuldig angeboten, dass er auch mal mir das Lenkrad überlassen könnte. Aber gleichzeitig so viele kleine Geschichten über meine Unerfahrenheit fallen lassen, dass es mir völlig unmöglich erschien, er könnte diesen Vorschlag jemals annehmen. Selbst dass er sich vor einiger Zeit bei einer Reise durch die USA zu mir gebeugt hatte, einen schleimigen Fahrlehrer parodierte und mir nebenbei die Automatikgangschaltung erklärte, nahm ich nicht ernst. Und vergaß die Gangschaltung sofort wieder. Und nun das! Mit einer raschen Bewegung schaltete ich das Radio ab. Das Wort »Stress!« wollte ich nicht mehr hören.
Freundlicherweise fuhr er mich noch über das holprige Grün an den Straßenrand. Die Schaltung erklärte er auch noch mal. Vorwärts. Rückwärts. Parken. Alles mit einem Hebel zur Rechten einzustellen. Den linken Fuß auf einem kleinen Plateau einfach abstellen. Bremse und Gas mit dem rechten Fuß bedienen. Eine Kupplung gab es ja Gott sei Dank nicht.
Dann holte ich tief Luft. Drehte den Schlüssel. Schob den Hebel von »Parken« auf »Vorwärts«. Gab Gas. Der Motor röhrte ein bisschen unwillig, aber tatsächlich explodierte der Wagen nicht und rollte auch nicht in den Straßengraben, sondern fuhr einfach vorwärts. Im Grunde genommen wie damals. Nur dass ich mit Thomas nicht knutschen wollte.
Nachdem der Wagen drei Minuten und fünf leichte Kurven später noch immer nicht explodiert war, fasste ich Mut. Nahm die verkrampfte linke Hand vom Steuer und schüttelte sie kurz aus. Sogar zu sprechen begann ich Teufelskerl. Jedenfalls wenn man bereit ist, Laute wie »Mmh-mmh« oder ein gezischtes »Geht doch« als Sprechen zu bezeichnen. Die Umgebung war auf meiner Seite. Die Kurven wurden immer weicher, die Landschaft blieb flach. Da die Sonne mittlerweile den Himmel freigeputzt hatte, konnte ich einen Kilometer und weiter sehen. Leider entdeckte ich dort einen Lastwagen, der deutlich langsamer fuhr als ich. Vor Schreck wollte ich auf freier Strecke bremsen. Dabei bemerkte ich ein Problem, das ich damals auf dem Weg zum Knutschen noch nicht hatte. Um mit dem rechten Fuß vom Gas- aufs Bremspedal zu gelangen, musste ich das Bein anheben. Genau das konnte ich aber kaum noch. Mit einiger Anstrengung schaffte ich es dennoch, meinen rechten Fuß vom Gaspedal zu wuchten. Automatisch aktivierte sich die Motorbremse, und wir wurden langsamer.
»Warum bremst du denn?« fragte Thomas.
»Tu mir den Gefallen und halt kurz die Schnauze!« Jetzt gelangen mir sogar schon vollstän­dige Sätze. Mit der rechten Hand griff ich unter mein Bein und hob es auf das Gaspedal. Drückte mit dem Fuß. Wie zu erwarten, fuhr der Wagen schneller. Dann hob ich das Bein auf die Bremse. Drückte. Der Wagen verlor so ruckartig an Tempo, dass Kollege Linkel Schwierigkeiten hatte, seine Coladose zu balancieren, ohne dass ihm ein Schwall Limo ins Gesicht spritzte.
»Hör mal auf mit dem Mist!« Jetzt klang er schon deutlich ärgerlicher.
»It’s for your own protection.« Etwas angestrengt versuchte ich, wie Tommy Lee Jones in »Men in Black« zu klingen.
Mehrfach wiederholte ich das Manöver, bis ich meine Reaktionszeiten auf unter eine Sekunde gebracht hatte, ohne nach unten schauen zu müssen. Thomas fragte nicht mehr nach dem Grund. Dann gab ich Gas. Kurz musterte ich mich im Innenspiegel. Mein Gesicht sah aus wie das eines Mannes, der bereit ist, in seinen Stiefeln zu sterben.
Bald tauchte der LKW wieder vor uns auf. Auf einer langen Strecke ohne Gegenverkehr. Wenn ich jetzt alles richtig machte, musste ich vielleicht doch nicht sterben.
»Ruhig bleiben. Blinken«, sagte Thomas neben mir. Durch das plötzliche Blutrauschen in meinen Ohren konnte ich ihn kaum hören. Aber ich blinkte. Wechselte die Spur und gab mehr Gas. Schob mich an dem LKW vorbei. Dann wechselte ich zurück. Wuchtete das Bein vom Pedal, ohne nach unten zu schauen, und ließ einige Zeit lang die Motorbremse arbeiten. Hob das Bein aufs Gaspedal. Gab etwas Druck und brachte den Wagen wieder auf Normaltempo.
»Na, war doch gar nicht so schwer.« Ein kleines Grinsen tummelte sich in der Stimme meines Beifahrers.
»Doch«, war meine Antwort. Plötzlich durchfuhr mich Jagdinstinkt, und ich suchte die Straße nach dem nächsten LKW ab. »Aber ich mache es gleich noch mal!«
Die Jagd blieb erfolglos, bis wir bei der nächsten Raststätte haltmachten. Eine Cola und einen Hamburger mit Pommes frites später fühlte ich mich bereit für den Rückwärtsgang. Mein Kollege hingegen schien gar nichts mehr zu fühlen. Er befand sich in einer Art Schockstarre. Unsere Reise fand nämlich wenige Wochen vor dem Zeitpunkt statt, an dem die schwere Wirtschaftskrise von 2007 auch Island erreichte. Die isländische Krone stand in schwindelerregenden Höhen und ließ das Burgermenü umgerechnet 16,50 Euro kosten.
Als er fertig gekaut hatte, setzte ich mich wie selbstverständlich ans Steuer. Startete den Motor. Rammte den Rückwärtsgang rein. Mit einem hässlichen Geräusch sprang der Wagen meterweit rückwärts und bedrohte das Leben einiger Pflanzentöpfe, die vor dem Schaufenster der Raststätte standen.
»Hey!« protestierte der Kollege. Immerhin hatte sich seine Schockstarre wieder gelöst. Ich fand die Bremse und den Vorwärtsgang in derselben Sekunde, was einerseits zu weiteren lautstarken Protesten des Motors führte, den Wagen aber andererseits wieder in Richtung Straße herumwarf. Eine halbe Stunde lang ließ Thomas mich schweigend weiterfahren. Sogar zwei LKWs überholte ich noch. Dann tat er so, als drückte ihn die Blase. Ich vertrat mir die Beine, bis er wieder hinter einem Felsen am Straßenrand erschien. Diesmal war er schneller als ich am Steuer. Und ließ sich nicht mehr vertreiben, bis wir drei Tage später Reykjavik erreichten.
Ans Steuer eines Autos habe ich mich seitdem nicht mehr gesetzt. Aber ich habe herausgefunden, dass es für Menschen wie mich spe­zialisierte Fahrschulen gibt. Wenn es die Kasse jemals hergeben sollte, werde ich mich für das Fahren in auf Handbetrieb umgerüsteten Autos umschulen lassen.

Der Schmerz war furchtbar. Sein Zentrum lag zwischen zwei Rippen, rechts hinten in meinem Rücken. Als ob jemand ein Messer dort hineingerammt hätte. Oder einen Schraubenzieher. Einen plumpen großen Schraubenzieher, glühend und mit schartiger Spitze. Ich hockte im Dunkeln. Auf Knien und Ellbogen, das Gesicht in den Teppich vor mir gepresst.
Die Wellen des Schmerzes liefen durch den gesamten Oberkörper. So selten wie möglich atmete ich, kurz und ruckartig. Trotzdem musste ich jedes Mal fast schreien. Behutsam bog ich meine Hand nach hinten. Als ich die schmerzende Stelle vorsichtig berührte, stellte ich fest: Kein Blut. Es schien auch nichts gebrochen zu sein. Immerhin. Aber der Schmerz dauerte jetzt schon Minuten, ohne an Wucht zu verlieren.
Mitten in der Nacht war ich aufgestanden, um ein bisschen durch die Wohnung zu stromern und in der Küche ein Glas Wasser zu trinken. Danach wollte ich in mein Bürozimmer gehen und eventuell ein bisschen arbeiten. Oder auch nur einige E-Mails an Freunde schreiben. Zwar betrug der Zeitunterschied zu Island nur zwei Stunden, aber auch das sorgte für einige we­nige unruhige Nächte. Das Licht hatte ich nicht eingeschaltet. Immerhin war es mein Schlafzimmer und dahinter mein Flur, und ich hatte mich tausendmal problemlos an seinen Wänden entlanggetastet. Es war ein langer, enger Flur. Aber ich kannte ihn und seine Hindernisse. Dennoch hatte ich den Halt verloren. Wild mit den Armen in der Luft gerudert und den Sturz doch nicht verhindern können. Mit voller Wucht und dem Rücken zuerst war ich gegen eine ­Regalecke gefallen. Gleichzeitig dachte ich: »Was soll das denn?« und »Hoffentlich ist nichts kaputtgegangen!« Dann war der Schmerz gekommen.
Vorsichtig versuchte ich aufzustehen. Es war unmöglich. Erst langsam konnte ich wieder etwas tiefer atmen. Mit der Stirn auf dem Teppich musste ich auf einmal an zwei Freunde denken. Als meine Krankheit noch jung gewesen war, als der erste Schub gerade abklang und ich trotz allem die nächste Reise plante, da hatten sie gesagt: »Gib doch auf. Hat doch keinen Sinn mehr.«
Jetzt, hier am Boden meiner dunklen Wohnung zusammengekrümmt, hätte ich gern aufgegeben. Probeweise flüsterte ich sogar:
»Hallo, Welt. Ich gebe auf. Knud Kohr gibt hier und offiziell auf.«
Nichts passierte. Wie ging das eigentlich, aufgeben? Musste ich einfach nur lange genug hier liegen bleiben? Bis irgendwann Leute kämen, um mich abzuholen? Nach dem Ende meines Studiums war ich mal abgeholt worden. Damals hatte ich Probleme mit Alkohol gehabt, mit Panikschüben, und war auch sonst nicht ganz Herr meines Verstandes gewesen. Freunde hatten mich gefunden. Nicht auf dem Boden gekrümmt, sondern schwer betrunken auf meinem Sofa. Sie hatten mit irgendjemandem te­lefoniert. Dann waren Leute gekommen, um mich abzuholen. Nachdem sie mir eine Spritze in den Arm verpasst hatten, war mir alles egal geworden.
Eine Woche lang lag ich dann auf einer psychiatrischen Krisenstation. Mit sieben Frauen auf einem Flur, in einem hellen Einzelzimmer. Hatte Medikamente bekommen und Besuch, dreimal am Tag zu essen und hatte ins klinikeigene Schwimmbad gedurft, sooft ich wollte. Weil ich der einzige Mann war, hatte sich die Hälfte der von Krisen geschüttelten Frauen in mich verliebt. Bei einer von ihnen war ich nach der Entlassung auf der Geburtstagsfeier gewesen, mit einer anderen hatte ich geknutscht, eine dritte verbrachte mehrere Nächte mit mir. Eigentlich war es gar nicht so schlecht, wenn man abgeholt wurde, dachte ich auf dem Flur.
Ich war allein in der Wohnung. Susann war für ein paar Tage beruflich unterwegs. Ich trug nur mein Schlafshirt, und langsam wurde mir kalt.
Wieder versuchte ich mich aufzurichten. Ich ignorierte den Schmerz. Stemmte eine Hand gegen die nächste Wand. Bekam mit der anderen die Regalecke zu fassen, gegen die ich gerade gestürzt war. Mit einer ungelenken Bewegung kam ich irgendwie auf mein linkes Knie. Als ich die Hand vom Regal an die Wand verschieben wollte, lag ich plötzlich wieder auf dem Boden. Um Kraft für einen weiteren Versuch zu sammeln, atmete ich, so tief ich konnte.
Ein weiteres Mal versuchte ich aufzustehen. Diesmal erhob ich mich auf die Knie. Presste die Linke wieder gegen die Wand. Die Rechte gegen die andere Wand. Kam wieder aufs linke Knie. Weil ich mich mit den Armen zwischen den Wänden eingeklemmt hatte wie eine Gardinenstange, schwankte ich zwar gewaltig, fiel aber nicht wieder. Auch dann nicht, als ich mit dem rechten Bein einen kleinen Ausfallschritt wagte und mich zwischen den Wänden nach oben drückte. Der Schmerz tobte an so vielen Stellen in meinem Körper, dass ich zu hoffen begann, dass vielleicht wenigstens ein Einbrecher in der Wohnung war, um mir zu helfen. Oder zumindest jemanden mit einer Spritze rufen könnte.
Dann wagte ich die letzten Meter zum Badezimmer. Mit der rechten Hand abstoßen, den linken Fuß vorschieben. Linke Hand abstoßen, rechten Fuß vorschieben. Nach etwa drei Minuten und 25 Schritten hatte ich mein Ziel erreicht.
Als ich mir im Badezimmer die Hände wusch, merkte ich, dass meine Krankheit mich wieder besuchte. Ich konnte sie immer noch nicht sehen, und ich konnte sie immer noch nicht hören, aber es war nicht einmal nötig, das Licht anzumachen oder mich umzudrehen. Sie saß auf dem Badewannenrand, das war klar.
»Fein ist das nicht, sich reinzuschleichen, während andere Leute pinkeln«, tadelte ich.
Keine Antwort. Die MS war älter geworden, größer und stärker. Aber reden tat sie immer noch nicht. Manchmal stellte ich sie mir als Frau vor. Ein Kerl würde als Gegner anders vorgehen. Der würde eine zünftige Prügelei suchen, und wenn er besiegt war, den Schwanz einziehen und sich verkrümeln. Blinddarmentzündung, Beinbruch, Herzinfarkt, das waren klassische Kerle. Mann gegen Mann, Faust auf Faust, keine Revanche.
Sich hingegen jeden Tag eine neue List einfallen zu lassen, einen heute nicht richtig laufen zu lassen, morgen taube Hautflecken zu erzeugen und einem übermorgen die Hände prickeln zu lassen, das schienen mir eher weibliche Listen zu sein. Jedenfalls war meine Krankheit da und verzichtete wieder einmal darauf, zu sagen, was sie eigentlich wollte. Deshalb brach ich das Schweigen.
»Sehr guter Angriff eben«, murmelte ich. »Unerwartet, hinterrücks, mitten in der Nacht. Der Rücken wird bestimmt wochenlang wehtun. Und dass du mich daran erinnert hast, wie schön es in der Krisenstation mit den Frauen war – geradezu teuflisch!«
Sie schwieg.
»Aber zu einem braven Kranken, der fleißig Medikamente spritzt und alle paar Monate in der Röhre verschwindet, macht mich das noch lange nicht. Vergiss es einfach.«
Auch darauf ging sie nicht ein. Ihr Schweigen klang sogar deutlich verstockter als zuvor. Es wurde Zeit, grundsätzlicher zu werden.
»Mach dir mal eins klar: Du bist meine Krankheit und wohnst in meinem Körper. Klar kannst du mir das Leben schwer machen. Mich drangsalieren und mir Schmerzen zufügen, jeden einzelnen Schritt zur Qual machen. Aber ohne mich bist du erledigt. Wenn dieser Körper hier stirbt, dann stirbst du auch. Wenn du mich killen willst, dann komm und mach es. Lass mich zu Tode stürzen oder so was. Wir sind im Badezimmer. Der Boden ist rutschig, jede Ecke ist mit harten Fliesen beklebt, und ich drehe dir den Rücken zu. Begeh einfach Selbstmord. Dann haben wir es beide hinter uns!«
Es war nicht einmal nötig, mich umzudrehen. Die Krankheit war verschwunden. Ich kramte zwei Schmerztabletten aus dem Regal und schluckte sie. Diesmal ging ich in der Mitte des Flurs, ohne die Wände auch nur zu berühren. Auf halbem Weg bog ich nach rechts ab in mein Bürozimmer. Nachdem ich das Licht angeschaltet hatte, setzte ich mich und wartete darauf, dass der Schmerz geringer wurde. Dabei sah ich mir meine Weltkarte an. Auf der linken Seite, von Kanada bis Afrika, steckten eine ganze Menge Nadeln. Im Ostteil der Welt waren noch entschieden zu wenig. Das würde sich ändern, beschloss ich. Sosehr die MS sich auch einmischte. Die nächste Reise, die ich vorzubereiten hatte, führte mich in die USA.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Knud Kohr: 500 Meter. Rütten & Loening, Berlin 2010. 303 Seiten, 19,95 Euro. Das Buch ist soeben ­erschienen.