Markt statt Lenin

Nenn es gefährlich oder öde. Im Berliner Bezirk Friedrichshain liegen Klischee und Realität enger zusammen als die Buden auf dem jährlichen Weihnachtsmarkt.

Keine Ahnung, was ich hier mache. Mitten in Friedrichshain, mitten auf dem Platz der Vereinten Nationen, kurz vor Mitte, da, wo früher die Lenin-Statue stand. Ich bin 23 Jahre. Die Welt steht mir offen. Ich sollte woanders sein. Was soll man auch sonst machen. But no: Die Hände in den Taschen, schlendere ich am dritten Advent über einen 08/15 Weihnachtsmarkt, ganz so, als sei das Leben vorbei.

Friedrichshain wird von den Medien irgendwie immer vergessen oder seltsam dargestellt. Kriminalität oder wenn jemand in seiner Wohnung verbrennt. Aber meistens steht nichts in den Zeitungen. Ist auch alles eher unspektakulär. Die Männer gehen zur Arbeit, ein paar Frauen wohl auch, die anderen sieht man auf der Straße, wenn sie Erledigungen machen. Über die, die den ganzen Tag zu Hause bleiben, weil sie vielleicht keine Arbeit haben oder was weiß ich weswegen, kann man nichts sagen: Man hört sie nicht, man sieht sie nicht. Ich weiß noch noch nicht einmal, wer nebenan wohnt.

An zwei Personen erinnere ich mich. Eine sonderbare Frau. Sie trägt jeden Tag, egal ob bei minus fünf Grad oder mitten im Sommer, dieselben Klamotten und hat die tiefste Stimme in Deutschland. Sie ist definitiv verrückt. Sie sabbelt die Leute an immer ein und derselben Ecke voll. Ich weiß nicht, wann sie dort hingeht, wann sie weggeht. Aber meine Theorie ist die, daß ihr Mann an dieser Ecke von einem Laster überfahren wurde, also an jenem Tag nicht nach Hause kam. Und sie kann das jetzt einfach nicht glauben, rennt jeden Tag an diese Ecke und wartet wohl auf ihren Mann. Warum sie deswegen die Leute bequatscht, in einer sehr aggressiven, aber ungefährlichen Art, das steckt zugegeben nicht in der Theorie. Wahrscheinlich will sie nur wissen, wo ihr Mann bleibt.

Ausgehmäßig rangiert Friedrichshain auf den letzten Plätzen der Berlin-Brandenburger Best-place-to-be-tonight-Tabelle, knapp vor Zehlendorf und Lankwitz. Im Supermolli treffen sich Autonomer und V-Mann zum Absturz. Erst trinkt man Bier und Tequila an der Theke oder weiter hinten in der guten Stube mit Ofen. Dann geht es durch einen kleinen Mülltrakt in den Veranstaltungssilo, wo eigentlich jede Kunst eine Chance bekommt. Im Cube-Club dagegen setzt man oben auf Zwei-Personen-Gespräche (ein Tisch, ein Thema) und unten auf karibische Musik bereits verstorbener Künstler.

Eine andere Frau, ich glaube so 80jährig, sehe ich jeden morgen vor dem Haus stehen, als ob sie einen Handwerker bestellt hätte, der vor der Tür warten soll und den sie auf keinen Fall verpassen will. Der taucht aber irgendwie nicht auf, weswegen sie noch länger vor dem Haus wartet - voller Sorge, er sei schon da gewesen, und daß sie nur nicht lange genug gewartet habe. Ich sollte sie mal fragen. Wahrscheinlich steckt etwas ganz anderes dahinter. Aber ich weiß schon, was dann passiert. Sie lädt mich zum Kaffee ein - in ihre völlig 'runtergekommene Wohnung. Ich kriege ein schlechtes Gewissen, so von wegen "Du kannst die arme Frau doch nicht einfach ihrem Schicksal überlassen - hilf ihr, das ist deine Pflicht, wenn du schon sonst nichts tust", besuche sie fortan jeden Tag, bringe ihr Obst und repariere die Klingel. Dann endlich geht es ihr richtig schlecht, ich denke an Pflicht und Sterbehilfe, reiche ihr den letzten Schluck und bekomme anschließend ein richtig schlechtes Gewissen. Vielleicht schnappt sie auch nur mal eben Luft.

Auf dem Weihnachtsmarkt an diesem Tag, bei diesem Schmuddelwetter ist, wie gesagt, mein Leben irgendwie stehen geblieben. Alle Leute, die sich hier aneinander vorbeidrängen, noch langsamer schlendern, wenn sie jemanden hinter sich bemerken und einem absichtlich nicht aus dem Weg gehen, weil sie wahrscheinlich nicht als der Dumme dastehen wollen, so wie es ihnen jeden Tag bei der Arbeit passiert oder in ihren Beziehungen oder wo auch immer, auf jeden Fall lassen sie es hier darauf ankommen und sind dann auch die Gewinner, weil ich keinen Ärger will und ausweiche, auch wenn es sie ein bißchen lockerer machen würde, wenn sie sich mal Luft machen könnten, diese ganzen Leute also finden Weihnachten klasse.

So würden sie das nie sagen, vielleicht denken sie auch überhaupt nicht darüber nach, haben vielleicht mal darüber nachgedacht, schonen sich jetzt aber selbst und denken nicht mehr soviel darüber nach, wer weiß. Aber klasse finden sie Weihnachten bestimmt. Bestimmt reden sie mit ihren Freunden, ihrer Familie oder mit Bekannten über Weihnachten nur, wenn sie sich über den Streß, den die ganze Veranstaltung so mit sich bringt, aufregen wollen. Essen, Geschenke, Geld, Autofahrten, Weihnachtsbesuche, anstrengende Konversationen, Weihnachtsbäume, Tom kriegt dieses Jahr die Play-Station, Verena das Set Friseurutensilien für ihr Puppensystem, und, ach Gott, was schenkt man bloß den anderen - das volle Programm eben.

"Was hast du für ein Problem? Ich mein, ist doch alles nicht so wichtig. Warum mußt du denn aus so einer, äh, uralten Sache wie Weihnachtsmarkt so ein Drama machen? Ist doch alles hier: Musik, Glühwein, lecker Futter, friedliche Stimmung, kannst ja auch mal Dosenwerfen machen." - "Stimmt, du hast recht", sage ich, "wahrscheinlich bin ich echt zu verspannt." - "Genau. Du solltest mal aufhören, an jeder Sache herumzunörgeln. Da wirst du ja nie zufrieden werden." - "Stimmt."

Obwohl: Jetzt sind sie trotz Streß und wahrscheinlich auch knapper Kasse - alle Kassen sind leer - hier und stellen sich mir mit Kinderwagen, Paketen, Lederjacke, Losgewinnen, Süßigkeiten, Senf und Pommes, Bier in der Hand oder Hand in Hand in den Weg, siegessicher wegen ihrer größeren sozialen Wut, wegen ihrer Einschätzung, die ihnen widerfahrenen Ungerechtigkeiten mache sie zu besseren Aggressoren und Motzern im Falle der Fälle eines Zusammenstoßes mit mir. Das ist eine sehr aufdringliche Art. Man wird nicht in Ruhe gelassen. Also, was soll ich hier?

Wenn man irgendwann mal begründen muß, warum Friedrichshain nicht so unattraktiv ist, wie es aussieht, dann sollte man die Hoffnung aussprechen, daß aus der Frankfurter Allee ja vielleicht noch mal eine Meile wird, auf die man getrost den Besuch aus Freiburg oder Hamburg entlassen kann, wenn man selbst im Pille Palle mit echten Müllmännern des dualen Systems ein Bier trinken möchte. Aber auf der Frankfurter Allee tut sich überhaupt nichts. Ausgenommen die letzten Meter vor der S-Bahnstation Frankfurter Allee an der Grenze zu Lichtenberg: Telekom, Einkaufscenter auf drei Etagen, Edelrestaurant, New Yorker und so weiter. Geht man weiter nach Westen, kommt noch mal Humana, ebenfalls auf drei Etagen, und dann kriegt man einen Kaffee erst wieder am Alex.

Angeblich sind in Deutschland total viele private Haushalte verschuldet. Sie wissen es vielleicht: Bestellt, gekriegt, dann auf Ledercouch und vielen Schulden sitzend verfluchen sie den Tag, an dem der Katalog kam. Heute sind sie hier. Und sie kaufen fast alles. Ringe, Stück zwei Mark, mit denen man auf uralte, markenunbekannte, staubige Sektflaschen zu werfen hat, wenn es Spaß machen soll. Nieten, fünfzig Pfennig das Stück, die gehortet bei 100 doch noch für ein knuffiges neongrünes Stofftier oder ein Walt-Disney-Plastik-Plagiat als Preise gut sind. Karussellfahrten, Irrgarten, Spielautomaten. Und Ponyreiten - immer im Kreis. Papas führen die Tiere, auf denen ihre Kinder sitzen, die genauso gelangweilt gucken wie die Ponys. Was mache ich hier?

Oder auf das SEZ an der Grenze zu Prenzlauer Berg verweisen, wo einem zwar ab und an durchgeknallte Heranwachsende auf den Kopf springen, ohne anschließend auch nur einen Hauch von Reue zu zeigen. Aber immerhin ist es da, und es hält einem so alle, die keinen Führerschein haben, während des Berufsverkehrs (auch so eine Art "wohnen" in Friedrichshain) von der Straße fern.

Das Highlight in Friedrichshain ist aber ein Besuch im Multiplex "Kosmos", das unerklärlicherweise für eine gewisse Zeit immer ein und denselben Typ Kinobesucher anlockte. Vor einiger Zeit hätte man ihn noch beschreiben können als turnschuhtragenden, kurzhaarigen, jederzeit angriffsbereiten Besitzer einer Plateauschuh-Schülerin in hautengen Sachen, deren Freund ihr eigentlich egal ist, Hauptsache, man gerät selbst nicht ins modische Hintertreffen. Allerdings trifft man in letzter Zeit auf immer mehr Leute in diesem Kino, die für überhaupt keine Beschreibung gut sind. Wahrscheinlich Neu-Friedrichshainer, im Begriff zu studieren oder schon dabei.

Ansonsten hat Friedrichshain weniger Kopfsteinpflaster und Altbau, als es in Prenzlauer Berg gibt, dafür mehr Gestalten, die man nicht im Kino sieht und zu denen man "assig" sagen könnte, wenn das nicht mittlerweile jeder wäre, viele stolze Autobesitzer wie überall, Hundehalter, keine Kneipe, die sich in Mitte sehen lassen könnte, ostiger als Kreuzberg westig, einen Ausländeranteil, der aber nicht auffällt, jede Menge Tramschienen, die - vorbildlich - alle zwei Tage gewartet werden, was in Friedrichshain immer so gemacht wird, daß man alles absperrt und die Schienen eine Woche lang komplett auswechselt.

Vor dem Eingang des Weihnachtsmarktes stehen die Verlierer, sozusagen außerhalb der Arbeits- und Vergnügungswelt. Sie stehen einfach so da und trinken Bier. Sie reden nicht miteinander. Sie machen keine Leute an. Sie pöbeln nicht. Sie betteln nicht. Sie stehen einfach nur da, zwischen Pfützen, in denen sich das Kirmeslicht spiegelt wie im Sozialdrama und trinken Bier. Sie stehen nicht in einer typischen Cliquenanordnung. Sie stehen so da, haben doch irgend etwas miteinander zu tun. Es sieht so aus, als würden sie sich schon ewig lange kennen, als gäbe es nichts mehr zu erzählen, als hätten sie schon alles ausprobiert. Ich gehe einen Glühwein trinken. Es muß einen Grund geben, warum es mich auf diesen Markt verschlagen hat.

An der südlichen Bezirksgrenze Friedrichshains verläuft die Spree, darüber die Oberbaumbrücke - und das trotz Anti-Autostadt-Berlin-Werbe-Spot in Kreuzberger Kinos kurz nach der Wende. Kaum war die Mauer weg, war die Brücke schon wieder da und dem Ost-West-Transit Tür und Tor geöffnet. Das Nachsehen fand aber woanders statt. Zwischen U- bzw. S-Bahn-Station Warschauer Straße und der nächsten Tramstation, die durch Friedrichshain nach Prenzlauer Berg führt, liegt die Warschauer Brücke, darunter die S-Bahn-Schienen. Die Brücke ist im Sommer dieses Jahres endlich fertiggestellt worden, allerdings ohne Tramschienen darauf.

Wenn man jetzt von Schlesisches Tor bis, sagen wir mal, SEZ fahren möchte, braucht man für die Fahrt genauso lange wie für den Fußweg über diese Brücke. Wenn man es überhaupt ans andere Ende schafft. Man kann auf dieser Brücke praktisch nicht verweilen, ohne daß man den ganzen Verkehr aufhält, soviele Leute wollen vom Schlesischen Tor zum SEZ oder woanders hin.

Am Friedrichshainer Spreeufer liegt übrigens die schaurig-schöne Hafenlocation, wo das ZDF immer die Schlüsselszenen seiner Samstagabendkrimis dreht: Polizei und Russenmafia (RM) liefern sich hier, sozusagen auf den Punkt gebracht, was sich in Berlin an jeder Ecke abspielen soll: Den erbitterten Kampf um Drogen, Prostitution, Waffenhandel, Menschenraub und so weiter. Ihre Finger im Spiel soll die RM auch bei einer erst kürzlich eröffneten, dann aber wieder geschlossen Disco an der S-Bahn-Station Warschauer Straße gehabt haben. Grund der Schließung war angeblich einzig und allein das Unbehagen der Lifestyle-Fraktion innerhalb der RM über das geschmacklose Auftreten der Besucher.

"Friedrichshain? Hmm." Ich höre, wie am anderen Ende nachgedacht wird. "Ärmster Bezirk. Hier stirbt man im Durchschnitt mit 68. In Wilmersdorf mit 77. Liegt in Friedrichshain an der Arbeitslosigkeit. Saufen und Rauchen und so. Ansonsten, ich würde mal sagen: Bunter Aufbruch. Studenten. Ist im Kommen auf jeden Fall."

Nach dem Glühwein hat sich nichts verändert. Der zweite Generation Friedrichshainer Schaulustiger an diesem Abend (die anderen sind jetzt nach Hause gegangen, in den Hochhäusern rund um den Platz gehen die Lichter an, Kinder werden ins Bett gebracht, Fernseher angestellt, Wäsche gebügelt, Rechnungen durchgeguckt, Brote für die Nachtschicht gemacht, oder man geht noch auf einen Sprung ins Osteck) macht dasselbe wie die erste. Das kleine Bierzelt füllt sich langsam, manchmal Gebrüll. Keine Ahnung, was ich hier verloren habe.