Nichts wird übereilt

Der Bundestag debattiert wieder einmal über die Aufhebung der NS-Urteile

"Ich verstehe nicht, warum man mit dem Antrag auf ein Bundesgesetz die Dinge hervorholt." Der Justizminister war in der Bundestagsdebatte sichtlich verstimmt, daß die SPD-Fraktion im hohen Haus die bundeseinheitliche Aufhebung von nationalsozialistischen Unrechtsurteilen forderte. Dafür gebe es keinen Bedarf - "dieses sehr trübe Kapitel des nationalsozialistischen Strafrechts" sei bereits abgeschlossen. Das war 1950. Der Minister hieß Thomas Dehler (FDP). Der Antrag wurde abgelehnt - das Kapitel war alles andere als abgeschlossen. Selbst Urteile des Volksgerichtshofs und der Sondergerichte galten fort. Kein Nazi-Richter wurde verurteilt, viele amtierten weiter. Deserteure, die vor bundesdeutschen Gerichten rehabilitiert werden wollten, wurden durchweg abgewiesen. Sie gelten bis heute als vorbestraft.

In dieser Woche befaßt sich das Parlament in Bonn wieder mit dem Thema von 1950. Anträge von SPD und Bündnisgrünen fordern die Aufhebung aller Urteile, "die unter Verstoß gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit nach dem 30. Januar 1933 zur Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Regimes aus politischen, rassischen oder weltanschaulichen Gründen ergangen sind". Diesmal stehen die Chancen für die Anträge besser als 1950: Die Vorlage für beide Texte lieferte das Bundesjustizministerium selbst. Im Juli des vergangenen Jahres hatte das Ministerium von Edzard Schmidt-Jortzig (FDP) einen Gesetzentwurf vorgestellt, mit dem erstmals Urteile auf Grund bestimmter NS-Gesetze und Urteile des Volksgerichtshofs pauschal aufgehoben werden sollten. Doch der Gesetzentwurf Schmidt-Jortzigs wird von der Union blockiert. Norbert Geis, rechtspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, erklärte, es solle nichts übereilt werden. Anfang Januar beschloß die Koalition dann, statt eines Bundesgesetzes eine Regelung auf Länderebene anzustreben. Die FDP hatte aufgegeben.

Die jetzigen Anträge von SPD und Grünen wiederholen im Kern einen Kontrollratsbeschluß vom 20. Oktober 1945, der verlangte, daß "Verurteilungen, die unter dem Hitler-Regime ungerechterweise aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen erfolgten", aufgehoben werden müssen. Diese Vorgabe wurde allerdings in den verschiedenen Besatzungszonen unterschiedlich umgesetzt. Eine bundeseinheitliche Regelung gibt es bis heute nicht. Nur in den Ländern der ehemaligen britischen und amerikanischen Besatzungszone wurden bestimmte Urteile pauschal aufgehoben, jedoch in unterschiedlichem Umfang. Im ehemaligen französischen Einflußbereich, also in Rheinland-Pfalz, Saarland und Baden-Württemberg, wurden Urteile nur auf Antrag und nach Einzelfallprüfung aufgehoben. Gleiches gilt für Berlin, hier sollen nach Schätzungen des Justizsenats noch 20 000 NS-Unrechtsurteile gültig sein. In der DDR gab es nach 1954, als ein entsprechender Befehl der sowjetischen Militär-Administration aufgehoben wurde, gar keine Möglichkeiten der Rehabilitierung mehr. Bis heute gibt es in den neuen Bundesländern keine gesetzliche Regelung zur Aufhebung von NS-Urteilen. Lediglich Thüringen erließ inzwischen ein entsprechendes Gesetz.

Bei den Einzelfallprüfungen bauten bundesdeutsche Gerichte hohe Hürden gegen eine Rehabilitierung auf. Noch vor kurzem lehnte es beispielsweise das Oberlandesgericht Düsseldorf ab, das Todesurteil eines NS-Sondergerichts gegen eine Frau aufzuheben, die während des Krieges bei der Reichspost ein Päckchen gestohlen hatte. Bestimmte Urteile wurden durchgängig als rechtmäßig bewertet, so die Zwangssterilisationen auf Grund des Erbgesundheitsgesetzes. Begründung: Es handele sich dabei nicht um ein typisch nationalsozialistisches Gesetz. Diese Auffassung vertrat auch die Bundesregierung 1957 vor dem Bundestag. Konzediert wurden lediglich gerichtliche Fehlentscheidungen, vor allem wegen unzutreffender "ärztlicher Diagnosen".

Ebensowenig Chancen auf Rehabilitierung hatten Deserteure. Erst 1997 beschloß der Bundestag, verurteilten Deserteuren auf Antrag eine Entschädigung von 7 500 Mark zu zahlen, vorausgesetzt, "die der Verurteilung zugrunde liegende Handlung" wäre nicht auch heute Unrecht. Das Bundesfinanzministerium legt bei der Prüfung der Anträge entsprechend strenge Maßstäbe an, so daß bis heute nur wenige der knapp 200 noch lebenden Deserteure die Entschädigung bewilligt bekamen. Eine Rehabilitierung war mit dem Bundestagsbeschluß ohnehin nicht verbunden. Deshalb fordert die "Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz" weiter eine pauschale Aufhebung aller Urteile wegen Desertion und Wehrkraftzersetzung, um "unsere Würde auch vor dem Gesetz wiederherzustellen". Soweit allerdings geht nur der Gesetzentwurf der Grünen. Nach den Entwürfen der SPD und des Bundesjustizministeriums sollen lediglich die Todesurteile der Kriegsgerichte zwingend aufgehoben werden. Der CDU/CSU geht auch das schon zu weit. Jeder Beschluß, mit dem treue Wehrmachtssoldaten in den Ruch kommen könnten, Unrecht getan zu haben, ist vielen Unionspolitikern zu viel, auch wenn sie es nur noch selten so offen aussprechen.

Ein anderes bezeichnendes Argument fand der damalige Justizminister Hans Engelhard, als es 1983 um die Aufhebung der Urteile des Volksgerichtshofs ging: Ein Gesetz, das die Urteile von Anfang an für nichtig erkläre, sei nicht das geeignete Mittel. Das "erweckt doch den Eindruck, als stellten die Urteile des Volksgerichtshof ein Stück unbewältigte Vergangenheit dar, mit dem wir uns eigentlich erst heute so recht auseinanderzusetzen beginnen". Unbewältigte Vergangenheit? - so etwas will sich Norbert Geis auch heute nicht nachsagen lassen. Ein Bundesgesetz erwecke "den falschen und verheerenden Eindruck, es sei in den vergangenen mehr als 50 Jahren nichts zur Wiedergutmachung des NS-Unrechts geschehen", erklärte er noch am 23. Januar.

Inzwischen gibt sich Geis versöhnlicher. Zwar sei "das Bedürfnis nach einer bundeseinheitlichen Regelung nicht sehr groß", sagte er der Jungle World kurz vor der Bundestagsdebatte. Doch wenn die SPD auf einer solchen Regelung bestehe, werde sich die Union wohl nicht sperren.

Auch die Bundesregierung reagierte auf die Anträge von SPD und Grünen: Sie bestellt bei Minister Schmidt-Jortzig einen neuen Bericht über die Aufhebung der Naziurteile, in dem er noch einmal die Notwendigkeit seines Gesetzentwurfes begründet. Der Bericht lag diese Woche dem Kabinett vor. Offenbar wird nach einem Weg gesucht, der FDP zu ersparen, mitten im Bundestagswahlkampf gegen ihren eigenen Vorschlag stimmen zu müssen. Und inzwischen leben ja nicht mehr so viele Richter, die sich persönlich auf den Schlips getreten fühlen, wenn heute nicht mehr Recht ist, was damals Recht war.