Mit fünf Mark sind sie dabei

Wird es bald Grüne in Autokonzern-Aufsichtsräten geben? Beobachtungen auf der Bundesdelegiertenkonferenz der Bündnisgrünen

"Kohl ist noch nicht geschlagen!" schmettert Jürgen Trittin in der riesigen Bördelandhalle den 750 Delegierten entgegen. Und auch Joseph Fischer warnt eindringlich, das Bärenfell nicht schon verteilen zu wollen, "obwohl der Bär noch brummt".

Für ihre Bundestagsjagd brauchen die Bündnisgrünen nun Köpfe - der Personenwahlkampf (plötzlich in aller Delegiertenmunde) wird vom Parteikongreß einhellig zur Strategie erklärt, um hinter dem Populisten Gerhard Schröder nicht im Schatten zu stehen. Doch das hindert Fischer nicht, Schröder in seiner Eröffnungsrede alsbald die Aufwartung zu machen: "Wir können Gerhard Schröder versichern: Wen wir erst mal in unser großes Herz geschlossen haben, den werden wir so schnell nicht mehr loslassen, darauf kann er sich verlassen" - spricht es und die Halle tobt, gleich so, als wolle er über den kleinen Finger zügig die ganze Hand ergreifen.

Personenwahlkämpfe aber, so zeigt nicht nur die Vergangenheit, dulden keine wahlprogrammatischen Feinheiten. So wurde der Berg von ca. 700 Änderungsanträgen zum grünen Bundestagswahlprogramm von der politischen Bundesgeschäftsführerin Heide Rühle sorgfältig glattgebügelt, "eine Fleißübung" seien die vielen eingegangenen Anträge der Delegierten gewesen, so Rühle. Eine adäquate inhaltliche Analyse aber ersparten sich die Kongreßteilnehmer. Rede, Gegenrede, Abstimmung, fertig ist der Beschlußsalat.

Dem zwangsläufigen Spagat zwischen Basisnähe und dem Griff zur Macht entstammt auch der Vorschlag, eine Verhandlungskommission zu bilden, die im Falle eines rotgrünen Wahlsiegs über die Einhaltung der Parteibeschlüsse in einer Koalitionsverhandlung mit Schröder wacht. Längst aber divergiert die Interessenlage in der Partei nicht nur zwischen Basis und Bundesvorstand: Nadja vom Scheidt, Sprecherin des grünen Jugendvorstands attestierte nicht nur dem Vorstand, sondern auch der Altbasis gefährliche Selbstgefälligkeit: "Arme Generation - erst Kohl, dann Schröder. Dabei hilft es nicht, sich als Partei auf der irgendwann mal systemkritischen Geschichte auszuruhen oder zu glauben, per se die Partei der Jugend zu sein. Das seid ihr nämlich nicht!" eröffnete sie den artig applaudierenden Delegierten.

Auf Altpartei-Niveau sind die Bündnisgrünen allerdings noch nicht angelangt. Denn gerade die knappen Abstimmungen über den zukünftigen wirtschaftspolitischen Kurs der gerne in die ökologische Ecke verwiesenen Partei zeugen noch von Leben im Gegensatz zur Bleistarre bei CDU und SPD. Wachstumskritik und die Schlüsselrolle der westlichen Industriestaaten bei der Verschwendung von Rohstoffen und Energie wollte etwa Eckhard Stratmann-Mertens im Parteiprogramm untergebracht sehen. Nach drei haarscharfen Abstimmungen per Handzeichen entschied Heide Rühle für Stimmzettel: Mit 345 zu 286 Stimmen wurde Stratmann-Mertens' Antrag in den Papierkorb verwiesen. Denn letztlich begeisterten seine Gegenredner den Saal: Boomartiges Wachstum sei doch prima, solange das Produkt ökologische Vorteile biete, etwa das Dreiliterauto als Exportschlager. Mit Verbündeten in der Industrie ließe sich die Ökologie vorantreiben. Deutlicher geht's kaum: Im Galopp nachholenden VW-Gehorsams also und in einer Linie mit den smarten Greenpeace-Profis gelingt es den Grünen inzwischen, Individualverkehr in einem Atemzug mit seiner Limitierung zu propagieren, ein Signal, hinter dem der Vorschlag für die Verbesserung des Schienenverkehrs ergraut. Es ist offensichtlich: Bei einem Wahlsieg von Rot-Grün werden "grüne Profis" sich mit Schröder in Aufsichtsräten der Autokonzerne einfinden.

Auch Jürgen Trittin öffnete ein Faß - oder besser, schloß es: "Schulden gleich Feigheit" war seine einfache Formel. Wer nicht bereit sei, Steuern angemessen zu erheben, stehle sich mit Haushaltsverschuldung aus der Verantwortung, das könne keine grüne Position sein. Diese Grundsatzformel schränkt jedoch das Wahlprogramm ein: "Schuldenbegrenzung und Schuldenabbau sind notwendig - allerdings kein Dogma. Eine Politik, die jegliche Neuverschuldung ausschließt, verschärft die wirtschaftliche Krise" heißt es da - Keynes läßt nicht grüßen, Marx schon gar nicht, aber auch Brüning, der Wirtschaftswürger, hat da nicht Pate gestanden. Auf welchem theoretischen Gerüst das modifizierte Wirtschaftskonzept basiert, bleibt Parteigeheimnis. Doch während solch diffuse Positionen zukünftige Diskurse über "angemessene Verschuldung" erwarten lassen, zeichnet sich auch eine wirtschaftspolitische Linie rechts der SPD ab. Während Seniorpromis der SPD, etwa Hans-Jochen Vogel, gelegentlich die Beteiligung von Beschäftigten am Produktivkapital hochleben lassen und einfordern, bügelte Margarete Wolf derartige Vorschläge wegen zu geringer Aussicht auf Erfolg in der Umsetzung ab - grüner Pragmatismus eben, der von gleicher Qualität ist, wie die Forderung nach Wiedereinführung der Vermögenssteuer um einen Prozentpunkt, bei gleichzeitiger Ablehnung eines Antrags auf zweiprozentige Vermögenssteuer.

Gesichtsverlust - nichts könnte in einem Personenwahlkampf katastrophaler sein. Jürgen Trittin, Joseph Fischer, Gunda Röstel, Rebecca Harms und Michaele Hustedt, sie hätten die Folgen eines Rückziehers bei der Benzinpreisdiskussion tragen müssen. Darum beschloß die Partei: Fünf Mark (respektive 2,5 Euro) soll der Liter Sprit in zehn Jahren kosten, und nicht nur der ländliche Kreisverband Brandenburg sorgte sich um das Wahlvolk. Doch die Argumente des Kreisverbands, fünf Mark sei eine willkürliche Zahl, eine Erhöhung um dreißig Pfennig einmalig und anschließend pro Jahr nur eine leichte Erhöhung zwecks "regulierender Funktion" sei angemessener, überzeugte nicht. Vielmehr folgten die Grünen Fischer und Trittin: Arbeitsplätze sollen mit den Benzineinnahmen finanziert werden, diese Argumentation müsse "jetzt richtig ausgefochten werden", forderte Fischer eindringlich. Ohne einen medialen Kraftakt indessen dürften die Bündnisgrünen gegen die von der Regierungskoalition angeschobene Anti-fünf-Mark-Kampagne kräftige Verluste einstecken, zu wenig bekannt sind die Details des Konzepts. Fragte im Pressezentrum doch treffend eine Reuters-Korrespondentin: "Liest dieses Wahlprogramm eigentlich irgend jemand außer uns?" Kurz unterbrach das Laptopgetippe, die fragenden Blicke der Journalisten waren Antwort genug.

Egal, der rhetorische Lenker des zunehmend kollektiven Parteibewußtseins, "Maximo-L'der" Fischer bemühte in seiner Parteitagsrede die Sensoren der Mitglieder: "Wenn es um Wirtschaftspolitik geht, wird den Grünen neuerdings Staatsfixiertheit vorgeworfen", holte er aus - um nach einer Kunstpause anzufügen: "Da kann ich nur sagen: Richtig, wir sind keine Neoliberalen! Ist es nicht so, daß der Neoliberalismus nach fünfzehn Jahren in diesem Land gescheitert ist?" Daß die Klage über die "ansteigende Armut der Kinder im Land", die "erneute Spaltung Ost- und Westdeutschlands wegen zunehmender Massenarbeitslosigkeit" und die "seit sieben Jahren rückläufige Entwicklung bei den Masseneinkommen" nicht mit den zur "Mitte" tendierenden Parteitagsbeschlüssen in Einklang stand, irritierte da nicht.