Die Gesellschaft ist kein monolithischer Block

Der Rechtsruck kann von der radikalen Linken alleine nicht aufgehalten werden

Der Aufschwung Ost der Rechtsextremen in Form des braunen Straßenterrors, der Organisierung der NPD/JN und des Wahlerfolgs der DVU macht es notwendig, über antifaschistische Strategien

zu diskutieren. Der Beitrag des Antifaschistischen Infoblattes im Dossier der Jungle World, Nr. 17, "Tanz in den Mai" , stieß in der Redaktionsversammlung

auf scharfen Widerspruch. Die in dem Beitrag entwickelten bündnispolitischen Optionen für die Antifa-Bewegung wurden als beliebig und prinzipienlos kritisiert. Es wurde daher beschlossen, diesen Beitrag mit einer Replik zu konfrontieren.

Durch einen bedauerlichen Absprachefehler wurde der Autor davon nicht informiert. Wir geben dem Antifa Infoblatt deshalb hier Gelegenheit zu einer Antwort. Die Debatte um Bündnispolitik und antifaschistische Perspektiven wird in der Zeitung fortgesetzt. (Red.)

Es ist unübersehbar, daß die Eskalation des bundesdeutschen Normalzustandes in Form von Rechtsextremismus und Neonazismus in den vergangenen Monaten ein neues Ausmaß erreicht hat. Dies stellen nicht nur mediale Höhepunkte wie der Aufmarsch von rund 4 000 Neonazis in Leipzig am 1. Mai oder der Wahlerfolg der DVU in Sachsen-Anhalt unter Beweis, sondern auch der in seinen Ausmaßen wachsende alltägliche Rassismus und die alltägliche rechte Gewalt.

Der Terror gegen MigrantInnen, Linke, Obdachlose, Punks und andere sogenannte Randgruppen verbirgt sich hinter nüchternen Zahlen: Das Bundesamt für Verfassungsschutz registrierte für das Jahr 1997 11 719 Straftaten - darunter 790 sogenannte Gewalttaten - mit erwiesenem oder vermutetem rechtsextremistischem Hintergrund. Dies sind nicht nur knapp 3 000 mehr als im Jahr davor. Auch der bisherige statistische Höhepunkt neofaschistischer Aktivitäten aus dem Jahre 1993 ist damit um 1 158 erfaßte Taten überschritten. Daß die Dunkelziffern in diesem Bereich wesentlich höher liegen, schon alleine weil den Statistiken die Definitionsmerkmale und Einschätzungen der Verfassungsschützer zugrunde gelegt sind, liegt auf der Hand. Dem Verfassungsschutzbericht zufolge gab es Ende 1997 109 rechtsextremistische Organisationen und Zusammenschlüsse, denen rund 50 000 Männer und Frauen angehören. Selbstredend sind diese Zahlen mit Vorsicht zu genießen und nur bedingt brauchbar, um eine gesellschaftliche Situation zu beschreiben und zu analysieren.

Es muß davon ausgegangen werden, daß die NPD gemeinsam mit den militanten Neonazis in den kommenden Monaten - insbesondere bis zur Bundestagswahl - versuchen wird, nicht nur das oben beschriebene, ohnehin schon organisatorisch eingebundene Potential für Veranstaltungen, Aufmärsche und Angriffe zu mobilisieren. Erklärte Zielgruppe ist auch das sehr große Potential rechter Jugendkultur, das in den Verfassungsschutzzahlen gar nicht erst auftaucht und insbesondere in Ostdeutschland das Bild prägt.

Sollte es der NPD gelingen, dieses Potential weiter anzubinden und zu organisieren, oder sollte die DVU oder eine andere rechtsextreme Partei es schaffen, im gemäßigt rechten Spektrum an Boden zu gewinnen, ist eine Verschärfung des gesellschaftlichen Rechtsrucks programmiert. Aber die extreme Rechte ist nur die eine Seite der Medaille: Die Neofaschisten können sich darauf verlassen, daß die staatliche Politik der Ausgrenzung von MigrantInnen und Flüchtlingen sowie die Stigmatisierung gesellschaftlicher Randgruppen ihnen einen fruchtbaren Boden für ihre Hetzpropaganda bereiten. Dies haben nicht zuletzt die konservativen Forderungen nach dem weitergehenden Besetzen extrem rechter Positionen zur vermeintlichen Integration des rechtsextremen Potentials in die "demokratische Mitte" bewiesen. Auch hier wird weiter an einem Rechtsruck gearbeitet.

Aber welche Schlüsse ergeben sich daraus? Im Beitrag von Michael Thomas - Redakteur beim Antifa Infoblatt - für das Jungle World-Dossier "Tanz in den Mai" vom 22. April hat der Autor für die Notwendigkeit, "in die Gesellschaft hinein zu wirken" und eine antifaschistische Bündnispolitik plädiert. Als konkrete Beispiele für eine derartige Politik wurden kirchliche Asylinitiativen und eine Gewerkschaftskampagne gegen Serviceleistungen für Rechtsextreme genannt. Die Kritik an diesem Konzept - zu "undifferenziert", "dann kann man ja gleich mit den CDU-Innenministern zusammen ein Verbot der Naziorganisationen fordern", "Hand in Hand mit Reformisten" und "Aufrechterhaltung eines deutschnationalen Konsens" - ist nicht neu und sicherlich auch schon in konstruktiverer und weniger denunziatorischer Art und Weise vorgebracht worden als in der gleichen Ausgabe der Jungle World von Wladimir Schneider.

Mit seinen Verdrehungen, den bewußten, die eigene Analyse stützenden Falschinterpretationen und dem abschließenden Faschismusvorwurf an alle, die seinem Weg nicht folgen wollen, disqualifiziert Wladimir Schneider sich und seine undifferenzierte Analyse selbst.

Wir plädieren keineswegs für eine undifferenzierte Bezugnahme auf undefinierte "gesellschaftliche Kräfte", sondern für einen kritisch-offenen Blick auf Einzelpersonen und Institutionen jenseits des eigenen Spektrums, die dort, wo sie leben und arbeiten, in oft mühseliger Kleinarbeit den rechten Hegemoniebestrebungen entgegentreten und gesellschaftliche Alternativen umsetzen wollen. Gerade, weil Gesellschaft kein monolithischer Block ist und sich dementsprechend Subkulturen, Tendenzen, Trends und auch Machtverhältnisse immer wieder neu ausdifferenzieren und verändern, muß sich eine antifaschistische Politik auch an den realen Gegebenheiten und nicht an moralischen Imperativen orientieren.

Dementsprechend breit sind dann auch die Aktionsmöglichkeiten: Von Öffentlichkeitsarbeit, kulturellen Initiativen, Veranstaltungen über Demonstrationen, Blockaden und militante Interventionen. Unsere Glaubwürdigkeit mißt sich dabei nicht daran, wie verbal-radikal wir sind, sondern inwieweit eine antifaschistische Bewegung bereit ist, sich der politisch-gesellschaftlichen Verantwortung - nicht nur gegen Stiefelfaschisten vorzugehen - zu stellen.

Aufgrund eigener Erfahrungen in Bündnissen wissen wir, daß dieser Weg sicherlich höhere Anforderungen an die Phantasie, Kreativität und Kraft der Antifa-Bewegung stellt als eine Weigerung, sich noch als Teil der momentanen gesellschaftlichen Realität zu begreifen. Nur noch von einem vermeintlich außerhalb der Gesellschaft liegenden Punkt aus den mahnenden Zeigefinger bzw. den Hammer der ewigen Verdammnis zu schwingen, ist natürlich einfacher.

Kurz: Eine Entscheidung für Bündnispolitik und die Erkenntnis, daß Gesellschaft sich aus unterschiedlichen Strömungen, Gruppierungen und Institutionen zusammensetzt und sich eben nicht nur entlang einer "ethnischen Zugehörigkeit" formiert, bedeutet, sich gegen eine Politik der weißen Weste und des leninistischen Avantgardeverständnisses zu entscheiden. In einigen antideutschen Kreisen herrscht anstelle des politischen Willens, handelnd einzugreifen und damit die Verhältnisse zu beeinflussen - eine Verantwortung, die wir den Opfern des Nationalsozialismus und der aktuellen rassistischen und neofaschistischen Gewalt gegenüber haben - heute nur noch der gesinnungsethische Wunsch vor, "gut" zu sein und das eigene Gewissen durch Abgrenzung zu beruhigen.

Das kann nur als Absage verstanden werden, sich als politisch handelndes Subjekt zu begreifen. Eine antifaschistische Politik, die sich auf verbale Drohgebärden beschränkt oder sich wie die "Antideutschen" darauf zurückzieht, daß allein schon, "antideutsch" zu sein, subversiv sei, der und die bringt keine gesellschaftliche Veränderung auf den Weg. Daß der gegenwärtige gesellschaftliche Rechtsruck von der radikalen Linken alleine aufgehalten und umgedreht werden kann, ist eine Illusion, der sich wohl niemand hingibt.

Der Autor ist Redakteur beim Antifaschistischen Infoblatt