Marx macht immer noch Arbeit

In Paris treffen sich Marxisten aus aller Welt, um das "Kommunistische Manifest" zu diskutieren. Ein Bericht

"150 Jahre nach dem 'Kommunistischen Manifest': Welche Alternative zum Kapitalismus? Was für eine Emanzipation?" ist das Motto des vom 13. bis 16. Mai 1998 in Paris stattfindenden Kongresses zur Aktualität und Bedeutung der Marxschen Meisterprosa. Initiiert wurde die Großveranstaltung von Espace Marx ("Raum für Marx") - so heißt seit den Reformen, die die französische KP seit 1994 durchlaufen hat, das ehemalige Institut de Recherches Marxistes der Partei.

Zur Vorbereitung wurden seit Januar 1998 die Tagungsbeiträge veröffentlicht, wobei deren Zahl und Umfang die Erwartungen der Veranstalter offenkundig übertroffen hat. Waren ursprünglich etwa drei Dokumentenbände geplant, so sind mittlerweile bereits sechs Folianten entstanden. Das Risiko ist groß, unter der Quantität begraben zu werden, die - wenn auch ungewollt - für ein Abfeiern des "Kommunistischen Manifests" sorgen.

Zur Aktualität des "Kommunistischen Manifests" stellt der russische links-unabhängige (trotzkistische) Autor Boris Kagarlitzky kurz und treffend fest: "Niemand gibt vor, Hegel zu begraben oder Voltaire zu widerlegen, denn es ist auch ohne diese Behauptung klar, daß (Ö) diese Philosophien der Vergangenheit angehören und in modernen Theorien aufgelöst wurden. Bei Marx ist dies nicht der Fall. Es kann dies auch nicht der Fall sein, solange die Gesellschaft, welche er analysiert und kritisiert hat und deren Änderung er sich erhoffte, noch existiert. In diesem Sinne kann das Ende des Marxismus nur mit dem Ende des Kapitalismus kommen."

Kagarlitzky untersucht die Schriften mehrerer offizieller sowjetischer Autoren, die seit Mitte der achtziger Jahre dekretierten, der Marxismus sei nicht mehr aktuell, da mit der Entwicklung des Kapitalismus zum Sozialstaat die Marxsche Analyse obsolet sei. Kagarlitzky zeigt hingegen auf, daß diese Autoren sich lediglich auf die sechziger Jahre beziehen, sich über die aktuellen Entwicklungen im Kapitalismus der Neunziger und die realen Umbruchprozesse im östlichen Europa aber beharrlich ausschweigen. Die sozialstaatlichen Erscheinungsformen im westlichen Kapitalismus der sechziger Jahre seien aber gerade Resultat der kombinierten Wirkung von Klassenkämpfen und der Systemkonkurrenz gewesen, mithin "dem Kapitalismus von außen aufgezwungen worden", was nunmehr entfalle.

Eine Anzahl von Beiträgen fragt nach der Geschichtsauffassung des "Kommunistischen Manifests". So spürt der uruguayaische Autor Juan Grompone den inneren Widersprüchen der Geschichtskonzeption im "Kommunistischen Manifests" nach. Grompone sieht innerhalb des Textes zwei unterschiedliche Grundthesen angelegt, die er als die "orthodoxe, marxistische" und die "heterodoxe" beschreibt. Der ersten These zufolge bildet das Proletariat, als unterdrückte Klasse innerhalb der aktuellen kapitalistischen Gesellschaftsordnung, den Träger der kommenden Umwälzung. Das Proletariat ist das einzige wirklich revolutionäre Subjekt, das sich - via Diktatur des Proletariats - zur neuen herrschenden Klasse in der künftigen (Übergangs-)Ordnung, die wiederum den Weg zur klassenfreien Gesellschaft freimacht, aufschwingt.

Im Gegensatz dazu die "heterodoxe" These: Nach der Eigenlogik des "Kommunistischen Manifests", so Grompone, war es jeweils nicht die beherrschte Hauptklasse, welche - nach dem Marxschen Schema der Abfolge verschiedener Klassengesellschaften (Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus, Kapitalismus) - die alte Klassenherrschaft abgeschüttelt hat. So waren es nicht die leibeigenen Bauern, die dem Feudalismus ein Ende setzten, sondern die aufstrebende Bourgeoisie: Auch das antike Sklavenhaltertum wurde nicht durch große Sklavenaufstände, sondern - so Grompone - durch das Christentum abgeschafft, das eine Koalition aus freigelassenen Sklaven und kleinen freien Besitzern um sich gesammelt habe und aus dessen Klerus (über den Grundbesitz der Bischöfe) schließlich die herrschende Klasse des feudalistischen Mittelalters erwachsen sei.

Für Grompone folgt daraus, daß entweder "die orthodoxe Theorie wahr ist", derzufolge das Proletariat im Kapitalismus den Hauptträger der Gesellschaftsveränderung darstellt: "Dann (aber) hat die Geschichte keine allgemeingültigen Gesetze (Ö), und der historische Materialismus ist eine Illusion." Oder aber die "heterodoxe" These sei zutreffend, dann aber "ist die historische Strategie, welche die Linke verfolgt hat" - also die Arbeiterklasse zu organisieren -, "inkorrekt" und "es müssen neue Aktionswege gefunden werden".

Zwar sind diese Ansätze interessant, dennoch stört, daß Grompone an die Stelle überkommener Schematismen neue Schablonen setzt. So versucht er darzulegen, daß stets die Schichten zwischen der herrschenden und der beherrschten Hauptklasse (er benutzt den lateinischen Begriff stramentum, Zwischenschicht) das revolutionäre Subjekt gebildet hätten, und versucht in der aktuellen Lage ein solches stramentum zu finden. Beispiele seien "die ökologische Bewegung, die selbständigen Arbeiter, die Mikro-Unternehmen, die Familienunternehmen, das Internet". Für eine neue Theorie jedenfalls scheint dieses Sammelsurium kaum geeignet.

Mehrere Texte widmen sich dem Geschichtsoptimismus im "Kommunistischen Manifest" und einer Interpretation, wonach der geschichtliche Prozeß notwendig in der klassenfreien Gesellschaft aufgehe. Der Franzose Joel Biard bezieht sich auf eine Passage im "Manifest", in der es heißt: "Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind. Sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfs, einer unter unsern Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung." Biard fragt nach, ob diese Sätze als Ausdruck einer Konzeption aufzufassen sind, wonach es einen automatischen und vorhersagbaren geschichtlichen Prozeß gibt, in den man eigentlich nicht grundsätzlich eingreifen könne.

Der Autor verneint diese Vermutung zunächst und weist auf den Briefwechsel zwischen Karl Marx und Arnold Ruge hin. Gegenüber Ruge, der das Proletariat als passive, "leidende" Klasse auffaßte, habe Marx nachdrücklich dessen aktive Subjektstellung in der Geschichte betont, was einer objektivistischen Geschichtsauffassung diametral widerspricht.

Dennoch konstatiert Joel Biard, daß "die Grenze fließend" sei zwischen der Marxschen Geschichtsbeschreibung, wonach die Beourgeoisie ihre eigenen Totengräber hervorbringe und, unwissentlich und unfreiwillig, jeden Tag die Voraussetzung für ihre eigene Überwindung schaffe, und der These von der objektiven geschichtlichen Notwendigkeit und Unvermeidbarkeit des Sozialismus. Zwar handele es sich bei Marx eher um einen Handlungsimperativ denn um eine (passiv) zu konstatierende "naturgesetzliche" Notwendigkeit, dennoch sei die andere Lesart möglicherweise im "Manifest" bereits angelegt gewesen.

Biard fällt kein abschließendes Urteil, sondern begnügt sich damit festzustellen, daß die aktuellen spontanen gesellschaftlichen Bewegungen ebenso "weit davon entfernt sind, Kommunismus abzusondern wie die Leber die Gallenflüssigkeit". Dagegen betont er die Notwendigkeit eines handelnden Subjekts und eines politisch-historischen Projekts, das in seinen Augen der Kommunismus bilden sollte, als Anleitung gesellschaftlichen Handelns.

Zu den interessantesten Beiträgen gehören zweifelsohne jene, welche die zeitlichen Dimensionen der Marxschen Geschichtskonzeption mit räumlichen und geographischen Aspekten konfrontieren. Dies gilt beispielsweise für den Text "The Geography of the Manifesto" des US-Amerikaners David Harvey, dessen Ausgangspunkt die Ausführungen im "Kommunistischen Manifest" zum internationalen Freihandel und zum Weltmarkt sind. Die Funktion der Bourgeoisie dient Marx und Engels zum Beleg für die revolutionäre Rolle, die sie in der Geschichte gespielt habe und mit der sie zugleich objektiv die Bedingungen für ihre eigene revolutionäre Abschaffung hervorbringe.

David Harvey stellt dagegen fest, daß die "Leitvision" der internationalen Einheit der Arbeiterklasse, die laut Marx durch den Weltmarkt hergestellt werde, zwar edel gedacht sei; bei deren Beschreibung sei allerdings viel Wunschdenken am Werk. Es gebe, so Harvey, "eine gefährliche Unterschätzung der Fähigkeiten des Kapitals, zu fragmentieren, zu dividieren und zu differenzieren, alte kulturelle Spaltungen aufzunehmen, umzuformen und sogar zu verschärfen, räumliche Differenzierungen zu schaffen", indem es "alte kulturelle Unterschiede, Geschlechterbeziehungen, ethnische Zugehörigkeiten und religiöse Glaubens(streits)" ausnutze. Das Ziel des "Kommunistischen Manifests", das sich in dem berühmten Schlußsatz "Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!" ausdrückt, "ist korrekt", so Harvey, doch es stelle sich keinswegs automatisch her.

Verhaltensformen und Strategien des Kapitals, häufig mit dem Ziel "Teile und herrsche", stünden dem ebenso entgegen wie spontane Ausdrucksformen der arbeitenden Klasse ihrerseits: "Der Klassenkampf löst sich allzu leicht in einer ganzen Reihe geographischer fragmentierter Gruppeninteressen auf, die leicht durch bürgerliche Mächte an sich gezogen oder durch Marktmechanismen ausgenutzt werden können."

David Harvey schließt mit einem aktuellen Überblick über die globale Situation der Ökonomien. Aus dieser folgt für den Verfasser, daß der Aufruf zur internationalen Einheit der Arbeiter wichtiger, aber auch schwerer denn je zu verwirklichen sei: "Die politische und soziale Kluft zwischen dem Großteil der Arbeiter in Deutschland oder den USA und den ärmsten Lohnarbeitern in Indonesien oder Mali ist weit größer als jene zwischen der sogenannten Arbeiteraristokratie im 19. Jahrhundert und ihren ärmeren Klassengenossen. Das bedeutet, daß ein bestimmter Sektor der Arbeiterklasse weit mehr zu verlieren hat als seine Ketten."

In ähnliche Richtung lenkt der äygptische Marxist Samir Amin seine Untersuchung unter dem Titel "Kapitalismus, Imperialismus und Globalisierung". Der Kapitalismus ist für ihn von Anfang an ein weltweites System, das seine Macht auf das Ausnutzen von Ungleichheiten zwischen verschiedenen geographischen Räumen gegründet hat, beginnend mit der Eroberung und Plünderung des amerikanischen Kontinents sowie seiner "Formung als Peripherie des damaligen (kapitalistischen) Systems" und der Versklavung Afrikas. Eine Globalisierung im Sinne weltweiten Handels und Austauschs sei weder ein neues noch dem Kapitalismus eigenes Phänomen, betont Samir Amin, der auf die regen Aktivitäten auf den Handelsrouten der antiken Welt verweist. Doch es sei dem Kapitalismus eigentümlich, daß der internationale Austausch polarisierend wirke und ungleiche Entwicklungsniveaus verschärfe, statt sie abzubauen.

Amin führt dies darauf zurück, daß im Kapitalismus die ökonomische Aktivität direkte Basis der Klassenherrschaft sei, während vorangegangene Klassengesellschaften sich stärker auf politische und ideologische Macht gestützt hätten: "In den alten Systemen war die Macht Quelle von Reichtum, im Kapitalismus ist ist der Reichtum Grundlage von Macht." Darum seien ökonomische Austauschbeziehungen zwischen ungleich entwickelten Regionen stets Machtbeziehungen und tendierten dazu, die ungleiche Stellung der "Partner" zu verschärfen.

Samir Amin nimmt eine Einteilung der kapitalistischen Weltwirtschaft in verschiedene geschichtliche Phasen vor, wobei 1990 eine neue Periode begonnen habe. Die vorhergehende Phase (1945 bis 1990) sei von der Schwächung des Kapitalismus (infolge der Niederlage des Faschismus) und der Existenz eines starken Lagers des sog. real existierenden Sozialismus geprägt worden. Infolgedessen habe in den kapitalistischen Zentren ein "Kompromiß" zwischen Arbeit und Kapital vorgeherrscht, und die Beziehungen zwischen Zentren und Peripherie seien ebenso wie die innergesellschaftlichen Klassenbeziehungen durch die politische Kontrolle der Staaten "gezähmt" worden.

Nach dem Wegfall der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West und dem Auflaufen der "nationalistisch-populistischen" Modernisierungsbemühungen im Süden breche eine neue Phase an. Diese sei vor allem geprägt durch sich verschärfende Ungleichheit, durch zunehmende Konkurrenz zwischen den USA, Deutschland und Japan sowie durch eine internationale Politik der "Krisenbeherrschung" von bewußt herbeigeführten ethnischen Konflikten.

So präzis Amins Analyse, so dubios seine politischen Handlungsvorschläge: Amins plädiert dafür, daß in den verschiedenen Ländern "demokratische Volksfronten" an die Macht kommen, die einen "progressiven Nationalismus" pflegen und durch eine "anti-systemische voluntaristische Politik" die weltweite Entwicklung umkehren.

Für die sinnlosesten Beiträge zeichnen Autoren verantwortlich, die den offiziellen Apparat der Staatspartei Chinas vertreten. So liest man etwa in dem Text "Ewiger Glanz des 'Kommunistischen Manifests' über Volks-China" von Hao Sheng Chao: "Das kommunistische Ideal ist die Fahne der chinesischen KP, ist als höchstes Programm in den Statuten der Partei eingeschrieben, (Ö) die Revolution und der Aufbau (des Sozialismus) schreiten ohne Halt voran." Oder: "Wie Deng Xiao Ping im Frühjahr 1992 gesagt hat: der Sozialismus wird den Kapitalismus ersetzen, das ist der unabänderliche Lauf, selbst wenn der Weg verschlungen ist." Auf solche Ergüsse, die als Anschauungsmaterial im Museum der nicht zu wiederholenden Erfahrungen des Marxismus dienen mögen, hätte man besser verzichtet.