Geißler, Sozis und Rotsocken

Zerstörte Identitäten

"Geistiger Dünnschiß", "schwachsinnig", "Parteiausschluß!" Der Aufschrei ging quer durch die Reihen der Christenunion. Ob CSU-Chef Edmund Stoiber oder der Sprecher der Ostabgeordneten im Bundestag, Michael Luther - kaum ein Unionspolitiker ließ vergangene Woche die Gelegenheit aus, seine Empörung über Heiner Geißlers Avancen an die PDS loszuwerden.

Ähnliches spielte sich bei den Sozialdemokraten ab: "Verrat", schrien 70 Mitglieder des mecklenburg-vorpommerschen Landesverband und meinten die rosa-rote Koalition ihres Ministerpräsidenten Harald Ringstorff. Die frustrierten Genossen und Genossinnen kündigten gleich noch an, man werde im Januar eine "sozialliberale" Partei gründen. Randfiguren wie Ost-SPD-Gründer Markus Meckel und Stephan Hilsberg oder der Theologe Richard Schröder setzten sich so richtig wichtig gegen die "Altkommunisten" in Szene. Selbst der frisch gewählte Thüringer Spitzenkandidat Richard Dewes, sonst nie sonderlich zögerlich, wenn die Liaison mit den Sozialisten auf der Tagesordnung steht, ging plötzlich auf vorsichtige Distanz zur PDS.

War da was? Nein, am Ausrutscher Evelyn Kenzlers, der rechtspolitischen Sprecherin der Bonner PDS-Fraktion, kann es nicht gelegen haben. Schließlich hatte die Politikerin kaum ihre Amnestie- und Haftentschädigungsforderung für verurteilte SED-Funktionäre über die Lippen gebracht, da war man beim Vorstand schon ums Dementi bemüht. Im Karl-Liebknecht-Haus war von der "menschenrechtsnegierenden Politik der SED" die Rede. Und Frontmann Gregor Gysi wollte in einer Amnestie für DDR-Hoheitsträger nicht etwa eine Affirmation des realsozialistischen Staates, sondern lediglich einen "Akt der Aussöhnung" zwischen Ost- und Westdeutschland erkennen. Bleiben also von den "Interessensvertretern der alten SED-Kader" in der PDS gerade noch ein paar irrelevante Grufties von der Kommunistischen Plattform. Sei's drum. Mit der PDS hat die ganze Aufregung ohnhin nichts zu tun. Würde die historische Aufarbeitung tatsächlich eine Rolle spielen, warum sollten sich dann ausgerechnet konvertierte Sozis oder Parteigänger der Ost-CDU - ein, wie Ringstorff sagte, "hundertprozentiges Tochterunternehmen der SED" - besonders hervortun?

Jenseits des Spektakels macht die politische Verwaltung dagegen Realpolitik in Rosa-Rot, etwa in Magdeburg und Schwerin. Dort streiten Sozialdemokraten mit Sozialdemokraten über Steuer-, Arbeitsmarkt- oder Sozialpolitik, sprich: über die besseren Konzepte zur Krisenverwaltung. Das hat mit Antikapitalismus genausowenig zu tun wie grüne Haushaltspolitik mit gerechterer Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums.

Doch genau dieses Durcheinander verwirrt die Schreihälse aus Bayern und dem Nordosten. Die politischen Koordinaten stimmen nicht mehr. Wer, wie etwa Geißler, gegen einen "wildgewordenen" Wirtschaftsliberalismus Stellung bezieht, kann heute in fast allen Parteien eine Heimat finden. Ebenso, wer das Gegenteil einklagt. Nicht zufällig war es der Seeheimer Kreis der rechten Sozialdemokraten, der sich als erster hinter die Koalitionsgegner aus dem Osten stellte. Ebensowenig zufällig war es ausgerechnet Geißler, der den Unions-Konservativen als Projektionsfläche ihrer eigenen Identitätskrise diente. Der ehemalige Generalsekretär zog schon 1995 den innerparteilichen Zorn auf sich. Damals hatte er angesprochen, was Parteichef Wolfgang Schäuble erst drei Jahre später einräumte: eine schwarz-grüne Zusammenarbeit.