Öcalan hat Rom verlassen

Millionen rufen seinen Namen

Seit über einer Woche scheint Abdullah Öcalan spurlos verschollen. Dabei hatte sich zunächst alles so gut angelassen: Nachdem der PKK-Chef in Rom "aufgetaucht" war, schien durch sein zuvor mit italienischen Politikern sorgfältig eingefädeltes Manöver die "kurdische Frage" tatsächlich in einen neuen, zu einer politischen Lösung des Konfliktes drängenden internationalen Zusammenhang gebracht. So jedenfalls sah es noch Mitte Dezember Öcalan ebenso wie die seit seiner Festnahme in geradezu besinnungslosen völkerrechtlichen Optimismus verfallenen prokurdischen AktivistInnen.

Öcalan konnte im Spiegel zwar nicht zu Unrecht von sich behaupten: "Millionen rufen meinen Namen" - am Ende wollte ihn aber keiner haben: Italien nicht und auch keiner aus dem Kreis der Staaten, die seinen Namen mit dem Ruf nach Bestrafung des "PKK-Terrorismus" verbanden. Nachdem die deutsche Regierung jede Hoffnung der italienischen zunichte gemacht hatte, sie werde ihr das Problem Öcalan gemäß ihres Haftbefehls abnehmen, wollte zuletzt offenbar selbst die am lautesten nach Öcalans Auslieferung schreiende Türkei nicht mehr so recht. Sie hätte ihn zwar wegen der in der Türkei drohenden Todesstrafe ohnehin nicht bekommen. Anfang Januar aber wurden gar Kreise aus dem türkischen Außenministerium und dem Militär mit der Warnung zitiert, Öcalan könne in der Türkei, ob lebendig im Knast oder tot, eigentlich auch nur neue Unruhe stiften und sei am besten so weit weg wie möglich aufgehoben.

Doch selbst im fernen und der kurdischen Sache wohlgesonnenen Südafrika Mandelas zog man es vor, sich nicht an Öcalan die Finger zu verbrennen. Bitter für die kurdische Seite: Dies wäre von allen in den letzten Wochen durchgespielten Möglichkeiten die einzige gewesen, welche dem kurdischen Anliegen auf der internationalen Bühne wegen der moralischen Reputation des Mandela-Südafrikas zusätzliches Gewicht verschafft hätte. Deshalb muß aber nicht in moralisierendes Gegreine ausgebrochen werden, daß auch Mandela seine alten Ziele verraten habe. Zu fragen ist vielmehr, ob eine zu Regierungsmacht gekommene nationale Befreiungsbewegung nicht angesichts der globalen zwischenstaatlichen Kräfteverhältnisse zwangsläufig von ihren alten internationalistischen Prinzipien abrücken muß.

Die Tatsache, daß Öcalan jetzt ebenso geheim wieder abtauchen mußte wie sein Auftachen vorbereitet wurde, ist eben diesen internationalen Machtverhältnissen geschuldet. Und die setzen sich fast so selbstläufig durch wie die berüchtigte "unsichtbare Hand" des kapitalistischen Weltmarktes. Dessen Kräftespiel aber bringt in der zufällig von KurdInnen bewohnten Weltregion geostrategische Interessen hervor, deren Austragung darüber entscheidet, wann die Zeit für eine politische Lösung des kurdischen Problems reif ist. Das wird, so zynisch das auch klingen mag, am ehesten im Rahmen einer offenen Herausforderung der US-Interessen in der Region durch eine deutsch dominierte EU der Fall sein, für die aber die Zeit auch noch nicht reif ist. Auf diese europäische Karte setzt Öcalan schon lange und bedient auch deshalb in Interviews mit deutschen Zeitungen antiamerikanische Ressentiments und deutsches Weltgeltungsstreben.

Zu Recht hat Gaston Kirsche in der Jungle World (Nr. 3/99) der Solibewegung nicht nur deren kritiklosen Nachvollzug der nationalistischen Formel vom kurdischen Volk und seinem Führer vorgeworfen, sondern auch grenzenlose Naivität in Bezug auf das Völkerrecht als Geschäftsordnung des Weltmarktes. Diese Blauäugigkeit kennzeichnet auch einen von Prominenten wie Hans Branscheid und der Schauspielerin Renan Demirkan unterzeichneten offenen Brief an UN-Generalsekretär Kofi Annan. Der dort erhobene Vorwurf, daß das "Verhalten der Uno gegenüber der kurdischen Nation (...) unvereinbar mit den Grundsätzen einer zivilisierten Völkergemeinschaft, (...) mit dem Völkerrecht und der Charta der Vereinten Nationen" sei, ist genau dieselbe Mischung aus zivilgesellschaftlichem Völkergemeinschaftskitsch und der Verklärung von Völkern und Nationen zu Subjekten. Als ob sich nicht auch ohne ständigen Rückgriff auf solche Hohlformeln realpolitisch sinnvolle Forderungen stellen ließen. Zum Beispiel an die rot-grüne Regierung, den deutschen Rüstungsfirmen gefälligst keine neuen Ausfuhrgenehmigungen für Panzer in die Türkei zu erteilen.