Alternative Lebensformen

Alice in den Städten

Wahrscheinlich sitze ich im falschen Film: Die öde Landschaft fliegt an mir vorbei, es regnet, und ich bin todmüde. Immmerhin sitze ich schon mal im richtigen Zug: IC "Carl Spitzweg", von Hamburg nach Berlin. Noch ein paar Minuten, dann komme ich an.

Berlin - war das nicht eigentlich "Weltmetropole", "Puls der Republik", "Highlife" und jede Menge ausgeflippter Leute? Magische Worte für eine Praktikantin aus der Provinz. Gar nicht magisch ist die Realität - Schlüsselübergabe in Berlin-Kreuzberg: "Du hast doch schon mal einen Ofen geheizt?" fragt der Wohnungsbesitzer und verschwindet mit dem Hinweis: "Kohlen und Anzünder gibt's um die Ecke".

Kohlen und Anzünder sind auch dringend nötig. Diese Wohnung wurde seit mindestens zwei Jahren nicht mehr beheizt! Also schleppe ich die Kohlen fünf Etagen hoch, nehme meinen ersten Heizversuch in Angriff und entgehe nur knapp einer Kohlenmonoxidvergiftung. Der Nachbar klingelt und stellt sich vor. Hermann kennt meine Tante (die mir Praktikum und Wohnung besorgt hat) und läßt in ihrem Auftrag nachfragen, ob denn auch alles in Ordnung sei, von wegen Großstadt und so.

Einen Telefonanschluß besitzt diese Wohnung nämlich nicht und auch ansonsten ist der Kontakt zur Außenwelt schwierig. Hermann erkennt meine scheußliche Lage und lädt mich erst zum Espresso, dann ins Kino ein. So ein kommunales, wo die Filme im OmU laufen. "Sue" heißt der Film und handelt von einer Frau, die allein in New York herumirrt und ziemlich verzweifelt ist. Nach dem Film betretenes Schweigen - so richtig aufbauend war das jetzt aber nicht! Dann steckt er mir zwei Telefonkarten und 100 Mark zu. Natürlich im Auftrag meiner Tante, damit ich mich jeden Abend melden kann. Denn: "Man weiß ja nie, was so passieren kann."

Ein kurzer Anruf bei der Tante bringt mir fünf Adressen ein, von Menschen, die mich betreuen könnten, natürlich nur, "falls alle Stricke reißen sollten. Und kümmert sich Hermann auch gut um dich?" - "Ja". - "Aber nichts auf den Gasofen in der Küche legen, Brandgefahr!"

Wegen der akuten Brandgefahr verzichte ich auf Selberkochen und bestelle beim Marokkaner "Falafel", weil es das einzige Gericht ist, was ich auf der Speiseliste entziffern kann, und zwei Twix noch - für die Nerven! Was für ein Tag. Eigentlich könnte er jetzt langsam mal zu Ende gehen, aber Hermanns Espresso wirkt, so daß ich mich die halbe Nacht hin und her wälze und ziemlich schlechte Träume habe, von Highlife und Heizungen, Nightlife und jeder Menge ausgeflippter Leute.