Raketen statt Wasser

Die alte Regierung ist weg, eine neue nicht in Sicht: Indien bereitet sich auf die nächste Parlamentswahl vor
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Wenn es um die Regierungsbildung geht, wird in der größten Demokratie der Welt gehandelt wie auf einem Basar. Stimmen werden gekauft, Regionen abgefunden, Ideologien gehandelt: Nationalismus oder Regionalismus? Wer und was bietet mehr? Oder geht vielleicht gleich beides zusammen?

Seit Mitte April ist die regierende 18-Parteien-Koalition Indiens auseinandergebrochen; der hindu-nationalistische Premierminister Atal Bihari Vajpayee wurde damals durch ein Mißtrauensvotum gestürzt. Die oppositionelle Kongreßpartei Sonia Gandhis wurde beauftragt, eine neue Regierung zu bilden. Doch die 24 Kleinparteien, die ihr zuvor geholfen hatten, die Bhraiya Janata Partei (BJP) aus der Regierung zu stürzen, sind untereinander verfeindet oder mögen die Kongeßpartei ebensowenig wie die BJP. So kamen denn nach Ablauf der vorgegebenen Frist nur 233 statt der benötigten 272 Abgeordneten zur Unterstütztung Gandhis zusammen.

Nun sind im September die 615 Millionen Wahlberechtigten zum vierten Mal innerhalb von drei Jahren aufgefordert, eine neue Regierung zu wählen. Die Suche aller Parteien nach möglichen Koalitionspartnern geht also weiter. Doch eine Veränderung wird es wohl nach den nächsten Wahlen nicht geben. Denn die meisten der rund 50 im Parlament vertretenen Parteien verfolgen nur spezifische, d.h. Gruppen-, religiöse und regionalistische Interessen. Zusammen verfügen die regionalen Splitterparteien derzeit über mehr als ein Viertel der Sitze. Sie konstruieren eine eigene Identität der Region, die mit sprachlichen, religiösen und ethnischen Unterschieden begründet wird.

Wer diesem Klientelismus und Ethnizismus nicht anhängt, setzt meist auf einen großindisch-hinduistischen Nationalismus. Vor allem die BJP um Ex-Premier Vajpayee, der gerade einmal 13 Monate im Amt war. Doch auch er stolperte über den Regionalismus, genauer: über eine regionale Bestechungsaffäre. Seine Justizministerin Jayalalitha Jaayaram war zuletzt wegen 48 Korruptionsfällen während ihrer Amtszeit als Ministerpräsidentin im Bundesstaat Tamil Nadu angeklagt. Sie verlangte - um wieder aus der Kritik zu kommen - von Vajpayee die Entlassung ihrer einstigen Lokalrivalen. Dieser weigerte sich jedoch, was Jaayaram zum Anlaß nahm, den Premier zu stürzen.

Der BJP hat dies ebensowenig geschadet wie Vajpayee. In allen aktuellen Umfragen bleibt er der populärste Politiker Indiens. Und: In nur 13 Monaten Amtszeit konnte er die wichtigsten nationalistischen Wahlversprechen einlösen oder zumindest in die Wege leiten: Den Bau von Hindu-Tempeln (Mandirs) an Stellen, wo zuvor allein Moscheen standen; die Verabschiedung eines einheitlichen bürgerlichen Gesetzbuchs, um die islamische Scharia als Quelle eines Persönlichkeitsrechts der Muslime abzuschaffen; die Streichung eines Verfassungsartikels, der den überwiegend islamischen Bundesstaaten Jammu und Kaschmir eine Autonomie einräumte.

Diese Politik der "Hindutva" - die Umformung ganz Indiens in einen reinen Hindu-Staat - ist vor allem bei den höheren Kasten beliebt. Rund 140 Millionen Menschen, die sich in Indien der islamischen Minderheit zugehörig fühlen, sind so in der jüngsten Zeit durch die BJP zunehmend an den Rand gedrängt worden. Hinzu kommen Pogrome des Nationalen Freiwilligenverbandes Rashtirya Swayamesvak Sangh (RSS), die von den Hindu-Nationalisten der BJP maßgeblich mitgetragen werden, gegen die 24 Millionen Christen. Zufall ist das nicht: Sehen doch viele führende BJP-Politiker ihre Wurzeln in dieser faschistoiden Organisation. Zudem gelang es der BJP, große Teile des Staatsapparats mit fanatischen Hinduisten zu besetzen.

Dem innenpolitischen Hindu-Nationalismus entspricht außenpolitisch der Wunsch, die Stellung als regionale Hegemonialmacht zu behaupten und auszubauen. Die BJP hat dabei mit Nukleartests den Wunsch ansatzweise in die Wirklichkeit umgesetzt: Indien ist international anerkannte Atommacht. Ein eventueller Regierungswechsel wird daran nichts ändern, alle größeren Parteien sehen Pakistan als den Erzfeind Indiens an und befürworten das Atomwaffenprogramm, um Indiens Rolle als Weltmacht zu festigen.

Die Kongreßpartei ist da keine Ausnahme. Mit Sonia Gandhi hat sie nach Jahren der inneren Zerrissenheit wieder eine Integrationsfigur gefunden. Die Witwe des ermordeten Premiers Radjiv Gandhi wurde zwar erst vor einem Jahr an die Parteispitze gewählt. Doch bereits die Provinzwahlen im letzten November zeigten, daß der Nehru/Gandhi-Mythos immer noch wirksam ist. Ihr Vorbild sieht die neue Parteichefin in ihrer autoritären Schwiegermutter Indira, die 1975 die Verfassung per Notstandsverordnung außer Kraft setzte, um ihre Absetzung durch ein Gericht zu vermeiden. Rhetorisch knüpft sie zudem an die hindu-nationalistischen Parolen der BJP an.

Von der Kongreßpartei haben sich immer wieder regionale Parteien abgespalten. Sie berufen sich zwar nicht auf ethnische oder religiöse Unterschiede, haben aber das Ziel, sich auf Bundesebene für die eigene Person oder für die jeweilige Region zu bereichern. Ihre Parteiführer regieren wie Maharadschas. Die Gründer der Kongreßpartei, Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru, gewährten den regionalen Parteikämpen zu ihrer Zeit ein hohes Maß an Autonomie. Solange Funktionäre aus der Nehru/Gandhi-Dynastie an der Führungsspitze der Kongreßpartei standen, folgten die Landesfürsten auch der Mutterpartei. Seit dem Attentat auf Radjiv Gandhi haben die Landesfürsten der Kongreßpartei mehr und mehr den Rücken zugekehrt.

An überregionalen Parteien, die sich nicht über Nationalismus, Religion oder Bevölkerungsgruppen definieren, bleiben nur jene, die bis vor einem Jahr in der United Front (UF) als Hauptkoalitionäre die Regierung stellten. Die bürgerlich-zentristische Janata Dal (JD) und die Linksfront. Nach der Wahl 1996 hatten sie - zusammen mit diversen regionalistischen Kleinparteien - ein "demokratisches und nicht-religiöses" Mitte-Links-Bündnis gegründet, um sowohl die Kongreßpartei als auch die BJP von der Regierung fernzuhalten. Doch die 19monatige Amtszeit der UF war von zahlreichen Korruptionsskandalen und noch mehr internen Streitereien geprägt.

Hinzu kamen wirtschaftspolitische Schwierigkeiten: Die in den USA erscheinende Zeitung India Abroad berichtete jüngst, daß sich während der UF-Amtszeit der Einkommensunterschied zwischen der höchsten hinduistischen Kaste, den Brahmanen, und dem Rest der Bevölkerung weiter vergrößert und die Armut zugenommen habe. Bei den letzten Wahlen kam die UF denn auch nur auf die Hälfte der zuvor erreichten Stimmen, das Bündnis zerfiel in viele kleine und unbedeutende Kräfte. Als größte Gruppe blieb die Kommunistische Partei CPI (M) übrig. Zwar startete die UF im Februar - unter dem Motto "Die alte UF ist tot, es lebe die neue" - eine Offensive. Doch ihr Einfluß bleibt vorerst gering, bestenfalls eignet sie sich als kleiner Koalitionspartner der dominierenden Kongreßpartei.

Während die Politiker und Parteien miteinander wetteifern, wer den besseren Nationalismus oder Regionalismus vertritt, lebt die Hälfte der 980 Millionen Menschen in Indien nach wie vor in Armut. Selbst nach offiziellen Angaben liegt die Analphabetenrate noch immer bei etwa 50 Prozent. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch schreibt in ihrem neuesten Bericht, daß sich vor allem die Lage der rund 160 Millionen "Dalit" - wie sich die unterste Kaste der Hindu-Gesellschaft nennt - erheblich verschlechtert habe. In ihrem nächsten Bericht kann die Organisation noch deutlicher werden: Vergangene Woche starben bei einer Hitzewelle rund 170 Menschen. Sie hatten einfach nicht genug Trinkwasser.