Alternative Lebensformen

Hotel Alcatel

Was ist schlimmer? Kein Zuhause oder keine Arbeit? Für die Berliner Kabeljungs keine Frage: Ein Mensch braucht einen Arbeitsplatz, dafür verzichten sie gern auf ihr trautes Heim in Kreuzberg, Neukölln oder Tempelhof. Jedenfalls für eine Weile. Seit gut einer Woche haben sie das Berliner Alcatel-Werk besetzt, sind freiwillig ohne Arbeit. Das macht Sinn: Wann kann man sonst schon faul in der Sonne dösen auf dem Neuköllner Werksgelände, Fußball spielen auf dem Chefparkplatz? Und in einer stillen Fabrikhalle schläft es sich allemal ruhiger als am Hermann- oder Moritzplatz.

Wenn da nicht diese aufdringlichen Besucher wären. Neulich stand Werksleiter Stefan Krumm vorm Tor, Einlaß begehrend. Die Neuköllner Kabeljungs, zu einem Großteil Nichtdeutsche, ließen ihn nicht ein - Aussperrung einmal andersrum. Aufdringlich auch die Berliner Politiker. Von CDU bis PDS haben schon alle Parteien ihre Solidarität mit den Besetzern bekundet.

Es ist Wahlkampf, und außerdem verstehen die Berliner Möchtegern-Bosse den Kapitalismus genauso wenig wie die Alcatel-Arbeiter: Der Betrieb schreibe schwarze Zahlen, dennoch wolle ihn der französische Mutterkonzern dichtmachen, so die Argumentation. Daß die Welt ungerecht und schlecht ist, haben aber schon die herausgefunden, deren Aktionsform jetzt die Westberliner Kollegen kopieren: die Ossis, die vor ein paar Jahren ihre Betriebe besetzten, gar Hungerstreiks anfingen, um ihr Recht auf Arbeit zu verteidigen. Bis sie die wohlfeile Vokabel gelernt hatten: Marktbereinigung. Konzerne kommen daher, kaufen lukrative Werke auf, um sie, nachdem Subventionen abgezockt, Menschen und Maschinen abgeschrieben sind, zu schließen - einfach so, als habe man das nur deswegen nicht schon früher gemacht, weil der Pförtner den Schlüssel vergessen hatte. Und wer hat Schuld? Die Konkurrenzkämpfe oder böse, fremde Manager?

Diesmal sind also nicht die Wessis, sondern die Franzosen die Bösen - und ein Wunder ist, daß das Ganze fast ohne antifranzösische Ressentiments über die Berliner Bühne geht. Nur der Regierende Bügermeister Eberhard Diepgen versucht, Stimmung zu machen, indem er öffentlich leere Drohungen ausstößt: Alcatel schaffe "eine negative Bereitschaft, künftig mit anderen französischen Firmen zu verhandeln".

Die Kabeljungs sind mittlerweile realistischer: Wenn sie schon ihren Job verlieren, wollen sie wenigstens eine anständige Abfindung dafür. Squatting for money! Keine Arbeit, keine Zukunft; dafür viel Zeit, viel Geld - und vielleicht ein neu eingerichtetes Zuhause. Schneller leben, schöner wohnen! C'est la vie.