Sozialneid unter Sozis

Die PDS hat im Osten die Nachfolge der SPD angetreten. Im Wettbewerb um die reine sozialdemokratische Lehre kämpft in den neuen Ländern auch die CDU mit

Der Wahlverlierer wußte, wem er seine Niederlage zu verdanken hatte. Karl-Heinz Kunckel, seit Sonntag der erfolgloseste Spitzenkandidat, den die SPD in ihrer bundesdeutschen Geschichte je aufzubieten hatte, teilte nach seinem Rücktritt vom Parteivorsitz aus - gegen die PDS, die ostdeutsche SPD-Konkurrenz um die reine sozialdemokratische Lehre. Ein Fall von Sozialneid unter Sozis: "Die SED-Nachfolgepartei" habe den Wahlkampf in Sachsen nur mißbraucht, schimpfte Kunckel nach dem Absturz der SPD in den 5+X-Bereich, um sich als "Hüterin der sozialen Gerechtigkeit" zu profilieren. Doch, so der Landeschef a.D., allein die SPD werde es schaffen, die ganze Bundesrepublik zu erneuern - natürlich auch "mit sozialer Gerechtigkeit".

Mit der einfachsten Form von Populismus also, wie der designierte SPD-Generalsekretär Franz Müntefering am Wahlabend richtig feststellte. Dumm nur für die SPD, daß die "gnadenlos populistische PDS" (Müntefering) in den letzten Wochen das leidige Thema immer besser besetzte als die Westgenossen. Das Ende der SPD als Flächenpartei in den neuen Ländern? Zumindest müßte, wenn künftig von der PDS die Rede ist, nicht mehr von der SED-, sondern von der SPD-Nachfolgepartei gesprochen werden: Die Partei hat die SPD zwischen Erzgebirge und Oder nicht nur überrundet, sie hat sie deklassiert. Mehr als doppelt so viele Sächsinnen und Sachsen stimmten für die ostdeutsche Variante der Sozialdemokratie, die SPD entging nur knapp dem Fall in den einstelligen Prozentbereich.

Während die SPD-Führung im Willy-Brandt-Haus seitdem darüber brüten dürfte, was sie in den neuen Ländern eigentlich noch von einer Splitterpartei unterscheidet, können sich die Genossen im Karl-Liebknecht-Haus mit gutem Recht als dritte "Volkspartei" feiern lassen. Bundesweit kann keine der beiden PDS-Konkurrentinnen um den dritten Platz im Parteienspektrum, FDP und Grüne, mit den Ostsozis mithalten, allenfalls die CSU in Bayern erreicht ähnlich breite Wählerschichten. Zwischen Elbe und Oder ist die PDS die einzige Partei, die das zoneneigene Bedürfnis an versorgungsstaatlichem Patriotismus flächendeckend bedient. In drei von fünf Ostparlamenten stellt sie seit dem Wahlsieg in Sachsen die größte Oppositionspartei, in Mecklenburg-Vorpommern regiert sie mit und in Sachsen-Anhalt toleriert sie die Regierung Reinhard Höppners (SPD).

Neue Horizonte tun sich auf für die PDS seit ihrer Serie von Wahlsiegen - allerdings immer noch nur dort, wo sie herkommt: im Osten. So verdankten die 33 Kandidaten, die vor zehn Tagen den Einzug in die Rathäuser Nordrhein-Westfalens schafften, ihre künftigen Posten zunächst einmal der Beseitigung der Fünfprozenthürde, und nicht, wie der fürs Westgeschäft zuständige Parteivize Diether Dehm meinte, weil "die PDS zum Anfassen" sei. Mit landesweit 0,8 Prozent sind die Berührungsängste jedenfalls sehr groß. Und das Lebensgefühl einer Kommunistischen-Plattform-Funktionärin wie Sahra Wagenknecht, die in Dortmund kandidierte, hat mit dem eines Arbeitslosen dort halt immer noch weniger zu tun als mit dem in Leipzig.

Genau darauf setzten die Wahlstrategen der Partei in Sachsen. "Horizonte öffnen - Heimat bewahren" prangte es den Wurzenern und Dresdnern die letzten Wochen über auf den PDS-Plakaten entgegen - und sie fielen darauf rein. Herkunft verbindet - das weiß die PDS-Spitze. So störte es die Wähler auch nicht, daß der PDS-Spitzenkandidat ein Wiener war. Peter Porsch bringt einfach das richtige Profil mit für den Osten: Schon 1973 siedelte der Politik-Professor in die DDR über, 1982 trat er der SED bei. Seit 1990 führt er den mitgliederstärksten Landesverband der PDS an. Wenn sich der neue sächsische Landtag in den nächsten Wochen konstituiert, wird er Vorsitzender der zweitstärksten Fraktion in Dresden sein.

So wie seine Parteikollegin Gabriele Zimmer in Erfurt, wo seit dem absoluten Wahlsieg der CDU vor zehn Tagen ebenfalls die PDS die zweitgrößte Parlamentspartei stellt. Und auch in Brandenburg ging eine Woche zuvor das heimatnahe Gefühl der Partei für soziale Gerechtigkeit auf - mit einem Wähleranteil von über 20 Prozent. Allein daß Ministerpräsident Stolpe kein rot-rotes Experiment eingehen wollte wie in Mecklenburg-Vorpommern, nahm Gregor Gysi der Brandenburg-SPD krumm. Ein Abgrund von Landesverrat: "Gegen Brandenburg" sei Stolpes Entscheidung gerichtet, wetterte der Bundestagsfraktionschef, doch die Wähler wüßten nun, "daß, wer die SPD wählt, bei der CDU landet und so gesehen diese auch gleich wählen kann."

Nur eine nahm Gysi von seiner Schelte aus: Regine Hildebrandt. Und das aus gutem Grund. Schließlich war sie es, die der PDS zum Auftakt ihres Siegeszugs durch die ostdeutschen Landtage den sozialdemokratischen Ritterschlag verlieh.

Hildebrandt, die sogenannte Stimme des Ostens und brandenburgische Sozialministerin, schmiß ihren Job hin, weil Stolpe sich statt der PDS für die CDU als Koalitionspartnerin entschied. Sozialdemokrat Gysi war begeistert. "Für sie ist soziale Gerechtigkeit nicht nur eine Floskel. So zieht sie in achtenswerter Weise die Konsequenz daraus, daß ihr eine Politik in diesem Sinne künftig nicht mehr möglich sein wird." Hildebrandt sah das ähnlich: Eine Politik "für die Menschen in Brandenburg" sei mit der CDU nicht möglich, sagte sie vor laufenden Kameras. Hinter verschlossenen Türen hatte sie ihre Kritik am neuen Stolpe-Partner eingeleitet mit den Worten: "und nun zu den Arschlöchern".

Ganz so wählerisch ist die PDS seit den Wahltriumphen der letzten Wochen nicht mehr. Zwar fordert Diether Dehm für die anstehenden Stichwahlen in Nordrhein-Westfalen "lieber jetzt mit zusammengekniffenem Arsch SPD- oder grüne Kandidaten (zu) wählen, als ihn später von einer CDU-Übermacht aufgerissen kriegen". Doch im Kampf um das sozialere Image ist der Parteispitze im Osten inzwischen jeder recht: "Munter Opponieren" (Parteichef Lothar Bisky) kostet schließlich nichts. Hauptsache, die Verbalkritik richtet sich gegen den "Weg des neoliberalen Sozialabbaus" (Gysi), "die Tatsache, daß die Schröder/Fischer-Regierung die Umverteilung von unten nach oben fortsetzt" (Erklärung des Parteivorstands) oder dagegen, "daß die Bundesrepublik Deutschland vom demokratischen und sozialen Bundesstaat zur Deutschland AG deformiert wird" (Papier sächsischer Partei-Funktionäre). Regieren, das hat die PDS der SPD nach den Wahlsiegen voraus, muß die Partei in den nächsten Jahren schließlich ohnehin nicht. Die PDS-Botschaft ist einfach: Sozial gewinnt, solange es nur sozial klingt. Und solange Gerhard Schröder regiert, kann die PDS auf dem Gebiet eigentlich gar nichts falsch machen.

Abgesehen davon verschafft der Kanzler ihr - zumindest für die Zukunft - neue Bündnismöglichkeiten. Als unmittelbar nach der Auszählung der Stimmen in Brandenburg neben einer SPD-PDS-Koalition rechnerisch auch eine CDU-PDS-Regierung möglich gewesen wäre, zog der PDS-Parteivorsitzende die Trumpfkarte. Es müsse ja nicht gleich eine Große Koalition zwischen PDS und CDU sein, schmunzelte Lothar Bisky, aber eine Zusammenarbeit mit den Konservativen könne er sich durchaus vorstellen. "Vielleicht gibt es ja inzwischen in der CDU mehr sozialdemokratische Traditionen als in der SPD", machte Bisky klar, worum es der PDS geht: die Öffnung der Partei hin zu allen sozialdemokratischen Schwesterparteien in der Region. Damit zehn Jahre nach dem Untergang der DDR endlich zusammenwachsen kann, was zusammengehört - die Sozialdemokraten aller Parteien nämlich.