Elementarteilchen der Faschismus

Zeev Sternhell zeigt auf, warum der Faschismus in Frankreich es geschafft hat, linke Aktivisten und Theoretiker dreier Generationen nach Rechtsaußen zu ziehen.

Anfang der achtziger Jahre belebte Zeev Sternhell die französische Debatte um die Vichy-Vergangenheit und den kontinuierlichen Aufstieg des Front National. 1983 erschien sein Buch »Ni droite ni gauche. L'Idéologie fasciste en France« (»Weder rechts noch links. Die faschistische Ideologie in Frankreich«), ein Jahr später folgte »La Droite révolutionnaire« (»Die revolutionäre Rechte«). Die Reaktion der französischen Historiker auf diese zwei Werke des israelischen Politikwissenschaftlers war vergleichbar mit der ihrer deutschen Kollegen auf Daniel J. Goldhagens »Hitlers willige Vollstrecker«, denn Sternhells Untersuchungen hatten die französische Nationalmythologie mitten ins Zentrum getroffen.

Die meisten französischen Historiker bestreiten den faschistischen Charakter des Vichy-Regimes und charakterisieren es vorsichtig als »nationalpopulistisch«. Dieser »Nationalpopulismus«, so die Argumentation, sei zwar auf der gleichen Grundlage wie der Faschismus entstanden, weiche aber trotzdem von ihm ab, er ähnle eher den Diktaturen der iberischen Halbinsel als dem italienischen Faschismus, obgleich er wiederum genauso repressiv gewesen sei wie dieser. So interpretiert der Verfasser des Standardwerkes »Fascisme fran ç ais. Passé et présent« (»Französischer Faschismus. Geschichte und Aktualität«), Pierre Milza, Vichy als den Patriotismus des Ancien Régime. Seine Argumentation ist ein nationalistisches Lavieren. Er besteht auf einer französischen Besonderheit. Milza betrachtet den republikanischen Nationalismus als wirksames Gegengift zum Faschismus.

Im Falle von Vichy konnte dieser republikanische Nationalismus zwar nicht verhindern, dass eine extreme Rechte an die Macht kam, aber er habe zumindest verhindert, dass sie ein faschistisches Regime wie in Italien errichten konnte. Milza räumt ein, dass es Ausnahmen gegeben habe und nennt dafür Louis Darquier de Pellepoix, den Kommissar für jüdische Fragen, der, bevor er diesen Posten innehatte, unter deutscher Besatzung antisemitische und antifreimaurerische Propaganda betrieb.

Milza, der durchaus für einen linksliberalen Mainstream innerhalb der französischen Geschichtswissenschaft steht, bestreitet sogar hartnäckig, dass es so etwas wie einen französischen Faschismus überhaupt geben könnte. Die Tatsache, dass der Faschismus in Frankreich nicht aus eigener Kraft an die Macht gekommen sei, sei Beweis genug, dass Vichy kein faschistisches Regime gewesen sei. Selbst der Front National sei zwar eine autoritäre Formation und deshalb gefährlich für die Demokratie, aber nicht faschistisch.

In Frankreich gab es zwar faschistische Bewegungen und Ideologien zuhauf, aber niemals ein eigenständiges faschistisches Regime. Gleichwohl war Frankreich das einzige von den Nationalsozialisten besiegte Land in Europa, das einen weitgehend souveränen Staat behalten durfte. Marschall Philippe Pétain veränderte am 3. Oktober 1939 auf eigene Initiative den Status der jüdischen französischen Bevölkerung.

Sternhells Thesen setzen genau an diesem Punkt an. Der französische Faschismus sei eine autonome und autochthone Erscheinung, die keiner Außenmacht zugeschrieben werden könne, so folgerte er 1983 unter Protest seiner französischen Kollegen. Nach Sternhell enstand die faschistische Ideologie in Frankreich in Folge der Gegenaufklärung und als Reaktion auf die französische Revolution und ihre politischen Bewegungen: den Liberalismus und den Marxismus. Die republikanischen Vorstellungen von Gesellschaft und Nation waren für die französische Bevölkerung am Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr attraktiv, und sie waren vor allem nicht mehr in der Lage, Staat und Gesellschaft zusammenzuhalten. Sternhell sieht den französischen Faschismus im Kontext einer Dialektik der Aufklärung. Er habe sich aus dem republikanischen Nationalismus und gegen denselben entwickelt. Er interpretiert den französischen Faschismus als eine Revolte gegen den Materialismus und gegen die Aufklärung.

Im Vorwort seines jetzt in deutscher Übersetzung erschienenen Buchs »Die Entstehung der faschistischen Ideologie. Von Sorel zu Mussolini« grenzt Sternhell den Faschismus rigoros vom Nationalsozialismus ab: »Die faschistische Ideologie (...) ist das Produkt der Verschmelzung des organischen Nationalismus mit der antimaterialistischen Marxismusrevision. (...) Dies war ein völlig neues Element im Faschismus: Seine Revolution sollte von einer den Gesetzen der Marktwirtschaft unterworfenen Ideologie getragen werden.«

Sternhell hat in seinen Büchern dargelegt, dass der französische Faschismus am Anfang des 20. Jahrhunderts bereits ausformuliert war und dass Frankreich durch seine bürgerliche Revolution und als Reaktion auf diese die »Wiege« der faschistischen Ideologie gewesen sei. »Das Frankreich des 'integralen' Nationalismus der revolutionären Rechten war die eigentliche Wiege des Faschismus. Und Frankreich war auch die Wiege des revolutionären Revisionismus Georges Sorels, eines Grundelementes des Faschismus.«

Für die hierzulande wieder sehr in Mode gekommene Totalitarismus-Theorie, die Links und Rechts, Nationalsozialismus, Faschismus und Realsozialismus gleichsetzen möchte, sind Sternhells Thesen allerdings untauglich. Bereits im Vorwort seines ersten in deutscher Sprache erschienenen Buches grenzt sich der Verfasser entschieden von den Vertretern solcher Positionen ab; er betont, dass der Faschismus eine eigenständige Ideologie ist. Tauglich für eine Stärkung linker Positionen gegen den Front National in Frankreich ist Sternhell, weil er untersucht, warum der Faschismus es geschafft hat, linke Aktivisten und Theoretiker dreier Generationen nach Rechtsaußen zu ziehen.

Die erste Generation vollzog den Wechsel um 1880. Blanquisten, frustrierte Kommunarden und Radikale engagierten sich bei den Boulangisten, um die liberale Ordnung zu bekämpfen. Als Beispiel dienen Rochefort, Granger, Naquet. Innerhalb dieser Bewegung vereinen sich sozialer und nationaler Radikalismus gegen den Feind Nummer eins: den Liberalismus. Die zweite Generation wechselte die Fahnen vor dem ersten großen Krieg. Sorel, Lagardelle und Hervé haben wenig Probleme damit, die Nation an die Stelle der Arbeiterbewegung zu setzen.

Georges Sorel nimmt gewissermaßen die Sozialfaschismus-These der dritten Periode der Komintern Ende der zwanziger Jahre vorweg und sieht in der Sozialdemokratie den Hauptfeind der nationalen Revolution. Gegen diese will er die Zivilisation verteidigen und nicht mehr die Arbeiterklasse an die Macht bringen. Erst die Dreyfus-Affäre hat die Mehrheit der französischen Linken wieder auf die Seite der Republik gebracht. Die um 1880 formulierten Ansätze werden in den dreißiger Jahren nochmals zum Programm der französischen Faschisten. Keine Partei verliert so viele Mitglieder an die Faschisten wie die Kommunistische Partei Frankreichs. Dies hat sehr viel mit dem ausgeprägten Nationalismus und der autoritären Struktur der Kommunistischen Partei zu tun.

Sternhell konstatiert einen säkularen Bruch zwischen der katholischen Konterrevolution und der neuen Rechten des 19. Jahrhunderts. Den Unterschied sieht er im revolutionären Radikalismus und in der zentralen Stellung, die die soziale Frage für die damalige neue Rechte einnahm. Diesen Unterschied bezieht Sternhell auch auf die konservative französische republikanische Rechte, deren Festhalten an der Republik verhinderte, dass es in Frankreich zu einer nationalen Revolution kommen konnte.

Dies ist ein fundamentaler Unterschied zum deutschen Liberalismus. Ein anderer Grund lag in der Aufsplitterung der Faschisten in unterschiedliche kleine Gruppen und Fraktionen.

Jochen Baumanns Kritik an Sternhells Positionen (Jungle World, 52-1/99) benennt, allerdings ohne dies deutlich zu machen, die Grenzen von Ideologiekritik bzw. reiner Theoriegeschichte. In diesem Punkt ist ihm Recht zu geben, denn bloße Ideologiekritik ohne den sozialgeschichtlichen Kontext kann schwerlich zu einer Waffe gegen aktive faschistische Bewegungen werden. Sternhell jedoch vorzuwerfen, dass seine Thesen sich nicht auf den Nationalsozialismus anwenden lassen, ist absurd, da der Nationalsozialismus nicht der Forschungsgegenstand von Sternhell ist, sondern die eigenständige faschistische Ideologie in Frankreich und Italien. Darin liegt die Stärke und die Aktualität dieses Buches für den linken antifaschistischen Diskurs in Frankreich.

Die Diskussion über die Thesen Zeev Sternhells wird in einer der nächsten Ausgaben fortgesetzt.