Prominente Plätze

Gefährliche Orte XCIII: Berlins Innensenator Eckart Werthebach nutzt die Diskussion über das Verbot des NPD-Aufmarschs, um das Demonstrationsrecht in der Hauptstadt auszuhebeln.

Berlin am Vorabend des 67. Jahrestages der nazistischen Machtübernahme: 700 Neonazis aus dem gesamten Bundesgebiet marschieren - Parolen wie »Ruhm und Ehre der Waffen-SS« brüllend - auf Berlins Hauptstraße Unter den Linden. Im Anschluss daran schwingen führende Nazi-Funktionäre vor der Baustelle des Mahnmals für die ermordeten Juden und Jüdinnen antisemitische Reden. Das Berliner Oberverwaltungsgericht hatte den gespenstischen Aufzug erlaubt. In Göttingen, wo die Gerichte einen ähnlichen Aufmarsch verboten hatten, sorgte dann die niedersächsische Landespolizei für einen weiteren Mobilisierungsschub: Sie leitete einfach einen Teil der Neonazis nach Berlin weiter. So konnte am 29. Januar der größte Berliner Neonaziaufmarsch der letzten zehn Jahre stattfinden.

Glaubt man den Medien in den Tagen danach, könnte man meinen, dass es in Berlin bis dahin kaum Neonazi-Aufmärsche gegeben hätte. Dass das Gegenteil der Fall ist, belegt das Berliner Bündnis gegen Rechts (BgR) in einer jetzt vorgelegten Chronologie. Seit Dezember 1998 zählten die AntifaschistInnen elf angemeldete Neonazi-Aufmärsche in der Hauptstadt, die meisten davon im Innenstadtbereich. Auch der Platz vor dem Brandenburger Tor war schon vor dem 29. Januar dieses Jahres mit Genehmigung von Innensenator Eckart Werthebach (CDU) zum polizeigeschützten Neonazi-Streichelzoo verwandelt worden - und das ausgerechnet am 8. Mai vergangenen Jahres, als dort Horst Mahler und NPD-Chef Udo Voigt gemeinsam mit fünfzig weiteren Gesinnungsgenossen auftraten.

»Die vermeintlich neue Qualität des Januar-Aufmarsches besteht also nicht darin, dass Neonazis durchs Brandenburger Tor marschieren, sondern in der offen zur Schau gestellten explizit antisemitischen Ausrichtung«, stellt das BgR fest - und sieht das eigentliche Problem beim Berliner Senat. Dessen Praxis, Aufmärsche zu genehmigen und Gegendemonstranten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu behindern und zu kriminalisieren, hat in Innensenator Werthebach ihren prominentesten Fürsprecher.

Werthebach scheint die Empörung bewusst einkalkuliert zu haben, um seinem langfristigen Ziel - ein Verbot aller Demonstrationen innerhalb einer »Bannmeile« vom Reichstag bis zum Brandenburger Tor - näher zu kommen. Am liebsten würde Werthebach allerdings ganz Berlin zur demofreien Zone erklären. Schließlich sei man nicht auf dem platten Land, sondern in der Hauptstadt, erklärte Werthebach in Anspielung auf das Brokdorf-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1985, wonach Demonstranten Ort und Zeit ihres Protestes frei wählen können. Nur an besonders dafür ausgewiesenen Orten sollten nach den Vorstellungen des Innensenators in Berlin künftig Demonstrationen erlaubt sein.

Bisher stößt Werthebach damit bei SPD und Grünen auf wenig Gegenliebe. So erklärte Wilfried Penner, SPD-Vorsitzender des Bundestags-Innenausschusses, das Recht auf Demonstrationsfreiheit sei grundgesetzlich gesichert und dürfe nicht »nach Gusto« verändert werden. Sein Fraktionskollege DieterWiefelspütz beklagte gar das »unterirdische Niveau« der Debatte. Gemeinsam beharren SPD und Grüne bisher darauf, dass der »befriedete Bezirk« rings um den Reichstag ausschließlich dem Schutz des Parlaments diene und als »Bannmeile« ausreichend sei. Ohnehin will man bei den Bundestagsfraktionen der Koalitionsregierung das inzwischen allseits als »Berliner Demoproblem« titulierte Thema nicht mehr dem Berliner Senat überlassen, sondern gleich zwischen Bundesinnenminister, Innensenator und den Mitgliedern von Bundestag und Abgeordnetenhaus abstimmen.

Die von Werthebach angezettelte Debatte ist jedoch allenfalls ein Scheingefecht. Das Bündnis gegen Rechts etwa glaubt, dass »die politisch Verantwortlichen in Berlin Rechtsextremismus nicht als Gefahr sehen wollen und das Recht auf Protest gegen Rechtsextremisten von der Innenverwaltung immer mehr ausgehöhlt wird«. Antifaschistische Proteste würden im Sinne des Totalitarismusdiskurses als »Auseinandersetzung zwischen Rechts- und Linksextremisten« hingestellt. Hier erweist sich Innensenator Werthebach als wortstarker Vertreter eines konservativen, in der Totalitarismustheorie fest verhafteten Anti-Antifaschismus. So kommentierte er die Zunahme rechtsextremer Gewalttaten im Prenzlauer Berg mit der interessanten Analyse: »Im Prenzlauer Berg dürfte der Anstieg insbesondere auf die stetigen Auseinandersetzungen mit den in diesem Bezirk aktiven Angehörigen der linksextremistischen Szene und die durch ein alternatives Milieu geprägte Einwohnerstruktur zurückzuführen sein. Aufgrund dessen bietet der Bezirk Rechtsextremisten die Möglichkeit, sich mit dem politischen Gegner vor Ort auseinander zu setzen.«

Angesichts der Empörung über die Ereignisse vom 29. Januar steht Werthebach allerdings erst einmal unter Zugzwang. So ließ er den Aufmarsch zum 70. Todestag von Horst Wessel am Nikolai-Friedhof im Prenzlauer Berg verbieten, den der Berliner Neonazi-Kader Oliver Schweigert für vergangenen Samstag angemeldet hatte. Eine Klage von Schweigert gegen das Verbot wies das Verwaltungsgericht Berlin ab.

Und auch ein weiteres Verbot will Werthebach »unbedingt durchsetzen»: Die von Andreas Storr unter dem Motto »Wir sind ein Volk - Nationale Solidarität mit Österreich« angemeldete NPD-Demonstration am 12. März, dem 62. Jahrestag des Einmarsches der Wehrmacht in Österreich, soll nicht erlaubt werden. Die Polizei sei jetzt für das Thema sensibilisiert, meint Werthebach stolz.

Dass es auch darum geht, weiteren Imageschaden von der Stadt abzuwenden, wird deutlich, wenn man sich die Reaktionen der Zivilgesellschaftsvertreter auf die geplanten Neonaziparaden anschaut. Während der Wessel-Aufmarsch nur müdes Schulterzucken hervorrief, will ein aus SPD-, Grünen- und Gewerkschaftsvertretern ad hoc ins Leben gerufenes »Berliner Bündnis: Europa gegen Rassismus« eine Gegenveranstaltung zum geplanten NPD-Aufmarsch im März am Brandenburger Tor organisieren. Dem Bündnis geht es vor allem darum, Rechtsextremisten »prominente Plätze« in der Stadt streitig zu machen; von bestehenden antifaschistischen Bündnissen grenzt man sich explizit ab.

Vielleicht wiederholt sich dann ein Szenario, das Werthebach bereits im Juni 1998 inszenieren ließ. Als ein Zivilgesellschaftsbündnis gegen einen NPD-Aufmarsch in der Innenstadt demonstrierte, schickte der Innensenator die NPD unter Polizeischutz und mit Hilfe von BVG-Bussen zum Marschieren nach Hohenschönhausen.